Klimaschutz ist Handarbeit

2020 Warming-Stripes: Eine Babydecke geht viral, daraus entwickelt sich ein #Klimaschal, daraus wiederum im Sommer …

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Wenn die Klimawissenschaftlerin Prof. Ellie Highwood sich nicht mit der Physik der Atmosphäre beschäftigt, entspannt sie sich gern beim Handarbeiten. Die „nachfolgenden Generationen“ – so der ungriffige Terminus, der die Enkeltauglichkeit umschreibt, wurden beim Häkeln einer Decke für ein echtes kleines, kulleräugiges Baby so konkret, dass sie sich vor Reaktionen auf das virale Handarbeits-Foto kaum retten konnte.

„Das ist die erschreckendste Handarbeit, die ich in diesem Jahr gesehen habe“ , lautete einer der Kommentare. Worum geht’s? Die mittlere globale Temperatur ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts stetig gestiegen. Ellie Highwood suchte nach Möglichkeiten, diese Entwicklung zu visualisieren. Anhand der Daten des amerikanischen Instituts für Ozeanographie und Atmosphärenkunde NOAA von 1880 bis in die Gegenwart*, entwickelte sie eine Farbskala mit 15 Farben, bei der jede Farbe ein Temperatur-Intervall von einem Zehntel Grad repräsentiert.

Im Prinzip war es eine Variante der „Warming Stripes“, die ihr Forscher-Kollege Ed Hawkins erdacht hat, der wie sie an der britischen Universität Reading tätig ist. Sie zeigen die globalen Durchschnittstemperaturen als farbige Streifen vom dunklen Blau für das kälteste Jahr der Aufzeichnungen, bis zum dunklen Rot für das wärmste.

Zwar wird die Entwicklung des menschengemachten Klimawandels schon seit den 1950er-Jahren – auch im Auftrag der Verursacher wie z.B. Exxon Mobil – erforscht, doch offenbar sind Farben deutlich besser geeignet, die Herzen der Menschen zu erobern, als die unbestechlichen, nackten Zahlen.

Eine spektakuläre Warming-Stripes Aktion fand im Juni 2018, zum Tag der Sommersonnenwende, statt. Jeff Berardelli, TV-Wetterfrosch der CBS-Station in West Palm Beach/Florida lancierte einen globalen Aufruf. Sinngemäß wurde der Apell “Meteorologen aller Länder vereinigt Euch“ auf den knackigen Hashtag #MetsUnite eingedampft. Hunderte Meterolog*innen zeigten sich an diesem Abend zur Wettervorhersage mit allen nur erdenklichen Warming-Stripes- Accessoires: Krawatten, Ohrringe, Manschettenknöpfe, Ketten, Kaffeetassen oder gleich dem ganzen Bildschirm. „Ich habe die Warming-Stripes gesehen und die Schlichtheit hat in mir etwas zum Klingen gebracht“, sagte Berardelli gegenüber dem Forbes Magazin.

Die häkelnde Professorin hat das Foto ihrer Baby-Decke mit kleinen Pfeilen bestückt: Die erste Periode überdurchschnittlich warmer Jahre zwischen 1940 und 1946 ist dort markiert. Sie liegen farblich aber noch weit entfernt von den globalen Rekordjahren 2015/16, die im Herstellungsjahr die roten Abschlussreihen der Decke bilden.

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Eine gehäkelte Babydecke könnte sogar Jahr für Jahr mitwachsen.

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Kreative aus der ganzen Welt haben schon Handarbeiten mit den Warming-Colours entsprechend der Temperaturänderungen ihres jeweiligen Standortes kreiert: “Sie sehen fantastisch aus und zeigen sowohl den jährlichen Zyklus als auch die tägliche Variabilität“, sagt Prof. Highwood, die es ganz toll fände, wenn sich noch mehr Menschen überall auf der Welt mit den Warming-Colours kreativ betätigen würden. Die Atmosphären-Physikerin Prof. Katharine Hayhoe unterstützt die Idee, fadenscheinigen Verharmloser-Verstrickungen die Fäden in der richtigen Reihenfolge entgegen zu setzen. Die prämierte Klima-Kommunikations-Koryphäe verbreitet über ihren Twitterkanal Bilder ihrer Handarbeiten im Warmingstripes-Look.

Auch die Autorin ist dem Aufruf gefolgt und hat den Global-Warming Code in ein Strickmuster für Schals übersetzt (unten gibt es ein paar Tipps und Hilfen). Der Pina-Tubo-Ausbruch gibt die letzten Dunkel-Lila-Reihen 1992/93 vor, bevor die El-Niño-Jahre 1997/98 die Geburtsjahre vieler Klima-streikender Studierender in rot und orange markieren. Den 1976 geborenen Eltern der Schulstreikenden Kids ist der letzte dunkelblaue Streifen in der Zeitreihe gewidmet. Das war das letzte Jahr, dessen globale Durchschnittstemperatur unter dem langjährigen Mittel lag.

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Klimakommunikation im ZDF: Özden Terli erklärt den menschengemachten Klimawandel

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Der Klimaschal-Prototyp ist unterdessen beim ZDF in Mainz angekommen. Wetter-Mann Özden Terli stand bereits mit gestrickter Klimastatistik um den Hals vor der Kamera. Ausgestattet mit 10.000 Jahren Klimadaten, also dem gesamten Holozän, auf Papier und den letzten 150 Jahren davon, als anderthalb Meter lange Strick-Statistik, erklärte der engagierte Meteorologe seinen Zuschauer*innen, weshalb es keinen Zweifel gibt, dass die Erderwärmung seit der Industrialisierung menschengemacht ist.

In der Folge bekam der Klimaschal auch in den sozialen Medien Aufmerksamkeit und die ersten umgarnenden „Ich will auch“-Mails ließen nicht lang auf sich warten. Anders als beim „Palästinenser-Tuch“, mit dem in den 1980ern ganze Kaufhausketten den abendländischen Markt überschwemmten, gibt es den Klimaschal nicht von der Stange. Wer ihn unbedingt haben will und die hohe Kunst des Handarbeitens selbst nicht beherrscht, sollte mal ganz lieb bei den Strick-Liesen und Strick-Lisandern im Freundes- und Verwandtenkreis anfragen. Vielleicht gibt es liebevolle Eltern, die ihren Kids für die Fridays for Future noch etwas Wärmendes mit auf den Weg geben wollen. Vielleicht sind es die Kids selber, die Lehrmaterial-strickend vor den Parlamenten sitzen. Vielleicht sind es Referent*innen, die unter einem Windrad ohne Beamer eine hilfreiche Präsentation „am Hals“ haben möchten. Möge sich an dieser Stelle das ungebremste Kopfkino in wilde Fantasien verstricken und Momente zeigen, in denen ein Klimaschal unentbehrlich ist. Die hier veröffentlichte Strickanleitung lässt niemanden im Polarvortex stehen. Niemand soll um das Vergnügen gebracht werden, das dieser Herz- und Hirn-erwärmende, wollige Denkanstoß mit sich bringt.

Die Autorin selbst möchte ihren Klimaschal nicht mehr missen. Zu schön sind die Momente, wenn in größerer Runde, teils von völlig unerwarteter Seite, gefragt wird: “Könntest Du bitte den anderen auch mal kurz Deinen Klimaschal erklären?“ und dann den Groschen fallen zu hören – ein Fest für stille Genießer.

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Die Publizistin und Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg beherrscht neben Stricken viele weitere Kulturtechniken. Als parteilose Abgeordnete für Brandenburg in der Linksfraktion brachte sie den Klimaschal in den Bundestag.

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Die Idee von gestrickter Wissenschaft zieht immer weitere Kreise. Die Publizistin und Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg, suchte aus ihren Wollresten eine passende Regenbogen-Kombination zusammen. Am 14. September 2019 nahm sie ihre Twitter-Follower mit auf eine kreative Strick-Reise durch die Geschichte der Erderhitzung: "80 Jahre Klimageschichte sind gestrickt, 1880 - 1960. Der Schal besteht immer noch fast nur aus kalten Blautönen, die 3 "kältesten" Farben konnte ich schon beiseite legen, bis heute wird die Durchschnittstemperatur nicht mehr so kalt werden" so ihr Zwischenstand am zweiten Strick-Tag.

Zur selben Zeit fand in Berlin die erste Lange Nacht des Klimas statt, mit einem Klimaschal-Workshop. Von dort aus sprang der Funke in neue Kreise über. Der Parteitag der Grünen im November 2019 brachte den Klimaschal bis in die Tagesschau und im Netz tauchten unter dem Hashtag #Klimaschal immer neue Bilder und Varianten auf. Die grüne Europaabgeordnete Jutta Paulus baut auf ihrer Website Brücken zwischen Klimaschal-Bedürftigen und solchen, die die hohe Kunst des Strickens beherrschen. Und sie brachte den ersten Klimaschal nach Schweden. Rein zufällig traf sie in Brüssel im Zug Greta Thunberg, die auf dem Weg zu Fridays-for-Future-Demo war. Spontan nahm die Grüne ihren bunten Schal vom Hals um ihn der Klimaaktivistin zu schenken. Am selben Tag brachte Greta ihn auf die Bühne.

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Bielefeld, Brüssel, Stockholm. Die grüne Europaabgeordne Jutta Paulus ist ein weiteres "Kipp-Element" bei der Verbreitung der Klimaschal-Idee. Weil ihr Schal bei Greta Thunberg in Schweden landete, tauchte ein Bild in Griechenland auf

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Eine kleine Kältewelle Ende März 2020 nahm Prof. Volker Quaschning zum Anlass, auch nach dem meteorologischen Frühlingsanfang mit seinem Klimaschal zu posieren. Die Reaktionen mit Verweis auf den nahenden Sommer ließen nicht lang auf sich warten. Die Autorin versprach postwendend, die Farbtabelle mit den neusten NOAA-Daten zu aktualisieren und freut sich, wenn demnächst auch unter dem Hashtag #KlimaschutzistHandarbeit Miniröcke, Taschen-Tragegurte, Gürtel, Dekostreifen am Hosenbein, Bierbankhussen, Ringelsocken, Häkel-Tops, Stolas, Picknickdecken, Stirnbänder, Freundschaftsbändchen, Bauklötzchen, Lattenzäune oder was auch immer entsteht.

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Als sich der Professor für Regenerative Energiesysteme Volker Quaschning an einem kühlen Märztag mit seinem Klimaschal zeigte, setzte er in einigen Köpfen kreative Gedanken zu sommerlichen Warmingstripes-Ideen frei.

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In der Corona-stay-at-home-Zeit entstehen womöglich auch Mundschutzmasken im Warmingstripes-Design. Vielleicht ist das für einige genau die richtige Zeit, ihre Kreativität wieder zu entdecken. Die Tabelle* hilft beim Häkeln, Stricken, Weben, Knüpfen, Malen, Basteln, Pinseln und Kleben.

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Ein bisschen kniffeliger als der Klimaschal (links) ist ein Bolero (rechts), der auch an kühlen Sommerabenden wärmt.

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Wie funktioniert gestrickte Wissenschaft? Mit einem Farbübergang aus 15 Wollknäulen wird die Nummerierung der Farben festgelegt. Im oben gezeigten Beispiel wurde mit 4,5-Rundstricknadeln gearbeitet, da je 3 Reihen für ein Jahr stehen und somit Farbwechsel an beiden Reihenenden entstehen können. 66 Maschen pro Reihe, 1 Rechts, 1 Links ergaben einen ca. 21 cm breiten, ca, 1,70m langen Schal. Auch mit 2 Rechts, 2 Links entstehen schöne Strukturen.

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* Handarbeits-Anleitung um Warmingsstripes auf die Reihe zu bringen. Die Daten des NOAA wurden Anfang 2020 aktualisiert. Die Handarbeitstabelle s.u. enthält die Daten bis 2019.

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