Mit einer Behinderung zwischen den Welten

Barrierefreiheit Ich kann nicht mehr laufen und bin mit Scooter und Assistenzhund in zwei Welten unterwegs: den USA und Deutschland . Barrierefreiheit ist überall Thema, allerdings mit klaren Unterschieden.

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New York City, 2015: Demonstrant:innen fordern Barrierefreiheit im öffentlichen Raum
New York City, 2015: Demonstrant:innen fordern Barrierefreiheit im öffentlichen Raum

Foto: Stephanie Keith/Getty Images

Ich gehe nicht mehr. Ich rolle. Und die Welt ist anders geworden. Straßen und Wege werden instinktiv auf gesenkte Bürgersteige, rumstehende Mülltonnen und verlassene Elektroroller geprüft. Das war nicht immer so. Erst nach zwanzig Jahren mit multipler Sklerose wurde mein Gang unsicher. Erst kam der Gehstock, dann der Rollator, der erste batteriebetriebene Scooter. Und nach knapp drei Jahren Wartezeit mein Assistenzhund Oliver, ein Geschenk des Himmels. Oliver leistet einen unschätzbaren Beitrag zu meiner Unabhängigkeit: Er hebt Sachen für mich auf, holt meinen Rollator, hilft mir aus dem Bett, zieht den Wäschekorb zur Waschmaschine und findet mein Handy. Noch weitaus wichtiger: Er gibt mir das Gefühl, dass ich genau so richtig bin, wie ich bin.

Multiple Sklerose ist eine Autoimmunkrankheit. Das Abwehrsystem des Körpers richtet sich nicht mehr nur gegen Krankheitserreger, sondern greift auch gesunde Zellen an und schädigt das Myelin, die Schutzschicht um die Nervenbahnen. Das führt zu Kommunikationsstörungen zwischen Körper und Gehirn, weil Informationen nicht mehr zuverlässig übertragen werden. Auf Dauer führt das oft zu irreversiblen Schäden der Nerven. Heilbar ist MS nicht.

Seit über 20 Jahren bin ich in den Vereinigten Staaten zu Hause und arbeite seit 2006 an Indiana University, einer der großen Hochschulen des Mittleren Westens. Besonders während der Trump-Ära konnten Freundinnen und Freunde nicht mehr wirklich nachvollziehen, wie ein Land mit unverantwortlichen Waffengesetzen, frauenfeindlichen Abtreibungsverboten, christlicher Bigotterie und einem Sozial- und Gesundheitssystem, das den Namen kaum verdient, zu einer zweiten Heimat werden kann. Keine Frage: Man kann den USA einiges vorwerfen, und dazu gehört u.a. der Mythos, dass es sich bei diesem Land um das beste der Welt handelt. In einem Punkt stimmt das allerdings wirklich: Die USA sind führend, was Barrierefreiheit angeht Und sie haben das auch gesetzlich verankert. Der Americans with Disabilities Act (kurz: ADA) von 1990 verbietet die Diskriminierung von Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen. Der Rechtsanspruch auf gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen Leben umfasst die Sparten Arbeitsrecht, Transport, Bauordnung und Telekommunikation (https://adata.org/learn-about-ada).

In den ADA-Standards, einem knapp 300 Seiten langen Dokument, sind Richtmaße für die Ausstattung von öffentlichen und privaten Räumen verzeichnet, von Bushaltestellen zu Bootsrampen, von Gerichtssälen zu Gefängnissen, von Schwimmbädern zu Schießständen, von Fluchtwegen zu Vergnügungsparks. Es gibt detaillierte Angaben zu der Platzierung von Haltegriffen, der Position von Hinweisschildern, dem Wendekreis in Badezimmern, der Höhe von Treppenstufen bis zur Länge von Notfalltelefonkabeln. Mit Skizzen. Ein Zeugnis nicht nur von beachtlicher Peniblität, sondern auch von erstaunlicher Sorgfalt Menschen mit Behinderungen gegenüber.

In Deutschland ist die Gesetzeslage anders. Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) von 2006 wurde 2009 im deutschen Recht verankert. Das Ende 2016 verabschiedete Bundesteilhabegesetz (BTHG) sieht einen Stufenplan vor, in dessen Rahmen Zugänglichkeit, Benutzerfreundlichkeit und Effizienz der deutschen Eingliederungshilfe bis 2023 sichergestellt werden sollen. Baurechtliche Sachverhalte werden durch das BTHG allerdings nicht geregelt; hier stellen die Landesbauordnungen die entscheidende baurechtliche Grundlage dar. Und obwohl erste Vorschriften zur Barrierefreiheit bereits in den 70er Jahren eingeführt wurden, gibt es bei dem Verhältnis von Theorie und Praxis noch eindeutig Luft nach oben.

Deutschlandreisen machen Barrierefreiheit immer wieder zum Thema. Hotels, die als „behindertenfreundlich“ ausgewiesen sind, sind noch lange nicht „behindertengerecht“. Ich habe gelernt, im Vorfeld sorgfältig zu fragen, wie genau es um die Ausstattung bestellt ist: Sind die Türen breit genug? Gibt es Haltegriffe neben der Toilette und in der Dusche? Passen Scooter und Hund gleichzeitig in den Aufzug? Gibt es einen Aufzug? Manche Hotelangestellte sind solchen Fragen gegenüber sehr aufgeschlossen; der Rezeptionist eines Hotels in Dresden lief bereitwillig mit einem Metermaß vor die Tür, um Höhe und Breite der Eingangsstufen zu vermessen, damit ich einschätzen konnte, ob eine Klapprampe Abhilfe schaffen würde (leider 6% Gefälle, was eine Rampenlänge von knapp 10 Metern erfordert hätte).

Andere sind da weniger zuvorkommend und/oder informiert. Meine Freundin bot an, für einen gemeinsamen Aufenthalt in Oldenburg die Hotelbuchung zu übernehmen und telefonierte einen Tag lang alle Hotels ab, die auf ihren Webseiten das kleine Rollstuhlemblem hatten. „Ich möchte mich nach der Barrierefreiheit Ihres Hotels erkundigen.“ – „Der was?? Ach, Sie wollen das Behindertenzimmer!“ Da ist die Schmerzgrenze bereits erreicht und Bilder entstehen im Kopf, wo alle Menschen mit Behinderungen in ein Zimmer gesperrt werden und dann hoffentlich nicht weiter stören.

Oder das Hotel ist „innen total barrierefrei“– allerdings ist der barrierefreie Eingang nur mit Mühe zu finden, weil ein Sofa davorsteht, oder ein Anhänger blockiert einen Teil der Rampe: „Aber der steht da schon immer und der muss da auch stehen!“ Ach so.

Ein viele Monate im Voraus geplantes zweiwöchiges Fortbildungsstipendium in Dresden konnte ich wegen mangelnder Barrierefreiheit des Fortbildungsgebäudes nicht wahrnehmen. Erst vier Wochen vor Beginn der Fortbildung fiel jemandem auf, dass ich mit Scooter und Assistenzhund anreise – worauf in meiner Bewerbung ausdrücklich hingewiesen worden war – , und recht merkwürdige Fragen wurden gestellt: Ob auch der Zugang zu den Klassenräumen barrierefrei sein müsse? Und wäre der Hund im Unterricht mit dabei oder würde der anderweitig betreut? Da blieb mir schon die Spucke weg. Von welchen Annahmen wird hier eigentlich ausgegangen? Dass meine Behinderung sich nach dem Betreten (in meinem Fall: Berollen) des Gebäudes unvermittelt in Luft auflöst und ich Hund und Scooter an der Garderobe abgeben kann?

Von der Absurdität dieses Szenarios mal ganz abgesehen – es wäre schön gewesen, wenn man die Sachlage vor der Flugbuchung thematisiert und gemeinsam nach Lösungen gesucht hätte, anstatt erst wenige Wochen vor Fortbildungsbeginn meine „besonderen Bedarfe“ anzusprechen. Die Erfahrung, trotz klarer Ansagen nicht gehört zu worden zu sein, ist schon ein Schlag ins Kontor.

Und daher kann es nicht mehr nur um bauliche Nachrüstung gehen, sondern gleichzeitig auch um die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen in den Köpfen der Allgemeinheit, beispielsweise durch gezielte Personalschulungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller öffentlichen Trägerschaften. In der kleinen Stadt Bloomington, wo ich wohne, nehmen Oliver und ich an einer jährlichen Stadtbegehung mit Städteplanern, Bauausschussmitgliedern und Architekten teil. Zusammen mit Geh-, Seh- und Hörbeeinträchtigten werden Problemstellen identifiziert, die die Navigation durch die Stadt erschweren. Der gemeinsame Spaziergang wird zu einer kollaborativen Erkundung nicht nur baulicher Handlungsbedarfe, sondern auch unterschiedlicher Perspektiven von Menschen mit individuellen Behinderungen, ihren Herausforderungen, ihrem Durchhaltevermögen.

Es wäre natürlich Unfug behaupten zu wollen, dass in Amerika alles Gold ist, was Baurecht angeht. Die Bauordnungen der einzelnen Staaten der USA weisen mitunter größere interne Unterschiede auf als die Landesbauordnungen der 16 deutschen Bundesstaaten. Bei den ADA-Standards handelt es sich jedoch um Bauvorschriften, die dem föderalen System übergeordnet sind und dementsprechend überall gelten. In Deutschland obliegt die Umsetzung der Baunormen DIN 18040-1 und DIN 18040-2 zu barrierefreiem Bauen den kommunalen Bauämtern. Aber wie sieht dieser Unterschied in der Praxis aus?

Nehmen wir noch einmal den die Rampe teilweise blockierenden Anhänger, der den Weg ins Hotel für Scooter und Rollstühle zwar nicht unmöglich macht, aber eindeutig erschwert. In den USA wäre dieser Anhänger in jedem Staat eine Verletzung der ADA-Standards und würde entfernt werden müssen. Die Sachlage in Deutschland hingegen ist nur mit genauer Kenntnis der Bauordnungsinterpretation des zuständigen Bundeslandes zu bestimmen. Und selbst wenn man im Recht ist, macht man sich potenziell unbeliebt („da hat sich vorher noch nie jemand beschwert“), und das will man eigentlich nicht. Menschen mit Behinderungen kennen ohnehin das Gefühl, eine Belastung zu sein und versuchen dies im Vorfeld durch zeitaufwändige Planung sowie Langmut angesichts von Widrigkeiten zu kompensieren, damit der sich schnell und auf zwei Beinen bewegenden Umwelt nicht zu viel zugemutet wird. Und bringen tut das eigentlich überhaupt nichts, im Gegenteil. Wenn wir nämlich unsere Behinderungen auf logistische Gesichtspunkte reduzieren, verlieren wir gleich doppelt. Wir werden immer langsamer unterwegs sein als andere. Und unsere Identitäten als Menschen mit Behinderungen werden nicht wahrgenommen.

Allerdings gibt es vorbildliche Projekte auch in Deutschland. Beispielweise wurde vor meiner Ankunft im Hansa-Hotel in Herford in der bereits befahrbaren Dusche noch ein Haltegriff installiert. Und ausgerechnet für das als eher struktur- und zukunftsarm geltende Bundesland Brandenburg mit seinem Neo-Nazi-Image werden auf der Website www.barrierefrei-brandenburg.de die behindertengerechten Ausstattungen einzelner Hotels aufgelistet, deren Genauigkeit der Akribie des ADA in nichts nachstehen, z.B. bei detailgetreuen Angaben zu Flurbreite, Türenbreite und Wenderadius, Position der Haltegriffe, Tiefe der Unterfahrbarkeit des Waschbeckens und Höhe der Duschtasse. Und nicht nur das. Bei einer telefonischen Voranfrage bat eine Vermieterin in der Lausitz sofort um Verzeihung, dass ihre Ferienwohnungen nicht völlig behindertengerecht wären; sie hätte sich sonst so gefreut, Oliver und mich begrüßen zu dürfen. Augenblicklich wollte ich genau da Urlaub machen: Da bin ich nicht mehr einfach nur jemand mit „besonderen Bedarfen“, sondern werde als Mensch mit einer Behinderung wahr- und erstgenommen. Ich bin genau so richtig, wie ich bin, und das ist, wie immer, ein Geschenk des Himmels.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Susanne Even

ist Professorin für Deutsch an Indiana University Bloomington, USA. Mit ihrem Assistenzhund reist sie seit 2021 jeden Sommer durch Deutschland.

Susanne Even

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