Das Elend der antideutschen Kritik: Linke vs. deutsche Befindlichkeiten

Meinung Vor einigen Wochen wurde das neue Buch „Versöhnungstheater“ von Max Czollek in der Jungle World verrissen. Die Art des Verrisses zeugt von dem desolaten Zustand innerlinker Kritik und Debatte. Ein Kommentar

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Die Kritik an Max Czollek zeigt, was in der antideutschen Linken falsch läuft
Die Kritik an Max Czollek zeigt, was in der antideutschen Linken falsch läuft

Foto: gezett / Imago

Es wäre naheliegend, wenn antideutsche Kritik heute in die Erinnerungskultur der Berliner Republik intervenieren würde. Immerhin hat sich im Zusammenhang mit der Verstaatlichung des Auschwitz-Gedenkens in den letzten 20-30 Jahren eine Art neudeutsche Selbstgefälligkeit etabliert, die mit so etwas wie Nationalstolz auf die (vermeintlich oder tatsächlich) geleistete Erinnerungsarbeit einhergeht. Kritische Kommentator*innen wie Charlotte Wiedemann und Mohamad Amjahid sprechen von einer „Speckschicht der Selbstzufriedenheit“ bzw. von „Erinnerungsüberlegenheit“. In Zeiten, in denen wieder Wehrfähigkeit auf der tagespolitischen Agenda steht und die Bundeswehr hochgerüstet wird, vielleicht keine ganz unbedeutende Entwicklung.

Umso erstaunlicher, dass in der durchaus dem antideutschen Spektrum zuzuordnenden linken Berliner Wochenzeitung Jungle World das vor Kurzem erschienene Buch Versöhnungstheater von Max Czollek vor einigen Wochen verrissen wurde. Die Art des Verrisses wiederum zeugt von dem Elend eines Teils der aktuellen innerlinken Kritik, der es mehr um Denunziation und Selbstbestätigung als um tatsächliche inhaltliche Auseinandersetzung zu gehen scheint, und die man ignorieren könnte, wenn sie nicht so ärgerlich und eben symptomatisch wäre.

Der Reihe nach: Czollek polemisiert – wie der Rezensent Ralf Balke prägnant zusammenfasst – „gegen eine postnazistische Gesellschaft, die ihre Weltoffenheit und Vergangenheitsbewältigung wie eine Monstranz vor sich herträgt und sich dabei ständig selbst feiert“, und für die ein „instrumentelles Verhältnis zu den Opfergruppen – insbesondere zu den Juden“ charakteristisch sei. Mit dieser grundsätzlichen Stoßrichtung von Czolleks Buch hat Balke offenbar keine Probleme. Was er ihm allerdings vorwirft, ist Mangel an Originalität: „Das klingt sehr nach dem Recyceln von bereits Bekanntem.“ Zweierlei ist hier bemerkenswert: Zum einen operiert Balke mit Falschbehauptungen. Er unterstellt Czollek, sich die Redewendung ‚Wiedergutwerdung der Deutschen‘ als ein zentrales Konzept angeeignet zu haben, die Lesenden aber lange Zeit im Unklaren darüber zu lassen, dass es sich eben um eine Aneignung und nicht um eine Eigenkreation handele – erst auf Seite 92 würde „ganz beiläufig“ auf die Quelle der Redewendung verwiesen. In der Einleitung von Czolleks Buch ist erstmals auf der dritten Seite von der „Wiedergutwerdung Deutschlands“ die Rede. Hinter dem Satz ist eine Fußnote, in der der 1997 verstorbene Essayist und Polemiker Eike Geisel als Quelle genannt wird. Es kann also keine Rede davon sein, dass Czollek sich Geisels Begriff „so unverblümt zu eigen macht.“ Eher ist erstaunlich, dass Balke so unverblümt Unterstellungen in die Welt setzt, die sich sehr leicht widerlegen lassen.

Max Czollek und das deutsche ,Gedächtnistheater‘

Der andere bemerkenswerte Aspekt: Schon in seinem vor einigen Jahren erschienenen Buch Desintegriert Euch! setzte sich Czollek kritisch mit der Genese der deutschen Erinnerungskultur auseinander. Er bezog sich – wie auch in seinem neuen Buch – ganz wesentlich auf den Soziologen Michal W. Bodemann, der 1996 das Buch Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung publizierte. Der Umstand, dass Czollek seinem neuen Buch den Titel Versöhnungstheater gab, unterstreicht die gedankliche Nähe zu Bodemann. Zugleich markiert der Titel eine Verschiebung (auf dem Spielplan steht nicht mehr nur das Gedächtnis, sondern die Versöhnung). Kurzum – Czolleks Bücher lassen sich als gegenwartsdiagnostische Aktualisierungen sowohl von Bodemanns soziologischen Analysen als auch von Geisels journalistischen Polemiken verstehen. Dabei wird das Referenzsystem – anders als Balke insinuiert – keineswegs geheim gehalten oder verschleiert. Im Gegenteil geht es Czollek darum, explizit an Leute wie Bodemann und Geisel anzuschließen und sie berziehungsweise ihre Kritik wieder ins Gespräch zu bringen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Balke stößt sich nicht an Czolleks Referenzen an sich. Im Gegenteil kritisiert er, dass Czollek hinter Geisel zurückfallen würde. In diesem Zusammenhang heißt es dann einigermaßen floskelhaft, dass Geisel „am Materialismus geschult und zur Analyse fähig war, was einen qualitativen Unterschied zu Czollek ausmacht.“ Worin genau dieser Unterschied bestehen soll, und warum man nicht auch Versöhnungstheater als eine Form der Analyse verstehen können sollte, führt Balke nicht weiter aus. Genauer gesagt basiert seine Kritik auf der Entgegensetzung zwischen materialistischer Kritik und Identitätspolitik, die allerdings kaum argumentativ entfaltet, sondern eher postuliert wird. Zudem – und das ist vielleicht noch entscheidender – lassen sich erneut Unterstellungen und Auslassungen ausmachen, die offenbar notwendig sind, um Czollek eindeutig dem Lager der verhassten Identitätspolitik zuordnen zu können.

Dies wird ersichtlich, wenn Balke die Rede von linken Befindlichkeiten ins Spiel bringt. Während das Verdienst von Geisel darin bestanden habe, auf diese keine Rücksicht genommen, also gerade auch linke Irrungen und Wirrungen zum Gegenstand seiner Kritik gemacht zu haben, würde Czollek sie gewissermaßen ausklammern. Was aber macht man nun mit dem Umstand, dass Czollek im Rahmen einer Reflektion über das Verhältnis von Identitätspolitik und Universalismus auf „einige der absurderen Auswüchse universitärer Debatten um diskriminierende Passagen in philosophischen Werken“ verweist, von „sogenannter kultureller Aneignung“ [Kursivsetzung von mir] spricht sowie die Möglichkeit einer „Post-Identitätspolitik“ ins Spiel bringt? Genau, man lässt solche Passagen, die die Zuordnung und somit auch die allzu schlicht anmutende Entgegensetzung von Materialismus und Identitätspolitik erschweren würden, einfach weg (wie schon die Fußnote auf der dritten Seite der Einleitung).

Die Causa Ralph Giordano

Ein letztes Beispiel: Czollek geht es nicht nur um eine kritische Bestandsaufnahme der Funktion und Bedeutung von Erinnerungskultur für die Genese eines neuen deutschen nationalen Selbstverständnisses und Selbstbewusstseins. Vielmehr wirft er auch die Frage auf, wie sich politisch gegen Erinnerungsüberlegenheit und Versöhnungstheater vorgehen ließe. Dabei verweist er unter anderem auf den Shoah-Überlebenden Ralph Giordano, der angesichts der rassistischen Anschläge von Hoyerswerda, Mölln, Solingen etc. Anfang der 1990er-Jahre in einem damals publizierten Aufruf die „Vision eines gemeinsamen jüdischen und migrantischen Widerstands“ entworfen habe, „die auch als Manifest eines praktischen Verbündet-Seins in der postnationalsozialistischen Gesellschaft zwischen unterschiedlichen bedrohten Minderheiten verstanden werden kann.“

Balke wiederum moniert, dass Czollek Giordano in einem Nebensatz abwatschen würde. Interessant ist nun, dass Balke Czollek zwar zitiert (Giordano habe „später anlässlich eines Moscheebaus in Köln politisch die Orientierung“ verloren), im nächsten Satz aber eine hochgradig verengende und tendenziöse Lesart präsentiert, die letztlich darauf hinausläuft, Czollek Worte in den Mund zu legen, die dieser schlicht nicht gesagt bzw. geschrieben hat. So heißt es bei Balke: „Wenn die Kritik an der hochproblematischen, weil homophoben, türkisch-nationalistischen und Juden nicht unbedingt freundlich gesinnten Ditib und dem von ihr initiierten Moscheebau in Köln, für die Giordano zudem Morddrohungen erhielt, in der Wahrnehmung eines Max Czollek bereits ein No-Go ist, dann sieht es mit seiner eigenen Fähigkeit zur Solidarität nicht wirklich gut aus“.

Dass Czollek die Kritik der Ditib (Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion e.V.) an sich mit politischer Orientierungslosigkeit assoziiert, lässt sich seinem Zitat nicht entnehmen. Vermutlich hatte er eher die islamkritischen bis -feindlichen Aussagen Giordanos im Sinn, die seinerzeit (in den Nuller-Jahren) zu einer heftigen Debatte führten, in der Giordano auch Rassismus vorgeworfen wurde – immerhin sprach dieser von „Millionen von Menschen aus einer gänzlich anderen Kultur, die in nichts den völlig berechtigten Eigennutzinteressen des Aufnahmelandes entsprachen, ohne jede Qualifikation […] und nur bedingt integrationsfähig und -willig“ seien und außerdem eine „gewaltige Belastung[] der Sozialkassen“ darstellten. Wieso zieht Balke nicht die Möglichkeit in Betracht, dass sich Czolleks Diagnose einer politischen Orientierungslosigkeit auf derart pauschalisierende und generalisierende Aussagen bezieht, die zudem klassischen rechten Argumentationsmustern (Integrationsimperativ, Migration in die Sozialkassen) entsprechen? Wieso wird das Orientierungslosigkeit-Zitat auf eine Weise entstellt, die nahelegt, Czollek würde eine eng mit dem türkischen Staat verbandelte muslimische Organisation vor Kritik abschirmen wollen?

Kritik an der neudeutsch-hegemonialen Identitätspolitik

Was auch immer die Beweggründe von Balke sein mögen – letztlich scheinen sich zwei Formen der Kritik von Identitätspolitik gegenüberzustehen. Während Czollek sich auf so etwas wie eine neudeutsch-hegemoniale Identitätspolitik konzentriert, die sich nicht zuletzt im Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses manifestiert, geht es Balke um gewissermaßen subalterne Identitätspolitiken bzw. um Identitätspolitik der Subalternen, die in linken Milieus (eben auch in antirassistischen) immer schon virulent waren. Vereinfacht gesagt beschäftigt sich Czollek mit deutschen Befindlichkeiten, wohingegen für Balke insbesondere linke Befindlichkeiten von Bedeutung sind. Gewiss, antideutsche Kritik hat von Anfang an auf linke Befindlichkeiten gezielt – schließlich ist auch die Jungle World aus dem Streit mit der Tageszeitung Junge Welt und dem dort gepflegten Antiimperialismus hervorgegangen.

Allerdings gab es neben der Intervention in linke Debatten stets ein zweites Standbein antideutscher Kritik, und zwar die Intervention in die postnazistischen Verhältnisse in Deutschland. Czolleks Buch Versöhnungstheater nun lässt sich als eine solche Intervention verstehen. Dass Balke die hier formulierte Kritik delegitimiert, indem er ihr u.a. vorwirft, der Kritik an linken Befindlichkeiten zu wenig Platz einzuräumen, und dass die Jungle World diese Form der Delegitimierung abdruckt, zeigt einmal mehr, dass sich antideutsche Kritik zumindest bisweilen immer weiter von ihrem namensgebenden Objekt (Deutschland) entfernt und sich stattdessen auf die denunziatorische Kritik der Linken versteift. Konsequenterweise hat Balke für Czolleks politische Vision eines Verbündet-Seins von marginalisierten Gruppen auch im Rahmen der Erinnerungskultur – als Gegenpol zum deutschen Versöhnungstheater – nur Spott übrig: Von Kitsch ist die Rede sowie von einer Bestellseite bei Lieferando, „wo für jeden Geschmack das richtige Essen angeboten wird“, nur dass es „zumeist lauwarm und matschig“ ankäme. Manche mögen dies witzig finden. Doch zeugt der Witz auch von Ignoranz und Empathielosigkeit gegenüber den emanzipatorischen Anliegen marginalisierter Gruppen.

Man mag einwenden, dass sich das antideutsche Milieu schon seit vielen Jahren stark ausdifferenziert hat, was folglich bedeutet, dass es die antideutsche Kritik nicht gibt – manche, die sich einst antideutsch positioniert haben, bezeichnen sich heute eher als Ideologiekritiker*innen. Man mag außerdem einwenden, dass Falschbehauptungen, Auslassungen und Entstellungen von Zitaten auch in anderen linken Milieus verbreitet sind. Schließlich vermag ich nicht zu beurteilen, ob und inwiefern das Label antideutsch auf Ralf Balke zutrifft. Dennoch – Balkes (immerhin in der Jungle World erschienener) Verriss von Czolleks Buch ist in mancherlei Hinsicht symptomatisch für eine Kritikform, die in jenen Zusammenhängen verbreitet ist, die gemeinhin mit dem Begriff antideutsch assoziiert werden. Das betrifft die inhaltliche wie auch die formale Ebene. Mit Blick auf letztere hatte der ehemalige Redakteur des Freitag, Mladen Gladić, in einem ähnlich gelagerten Zusammenhang vor einer Weile für die Verpflichtung zu genauem Lesen plädiert, weil alles andere den Gegenstand der Debatte verhöhnen würde. Das sollte auch und gerade von jenen beherzigt werden, die sich der gegen linke Befindlichkeiten gerichteten Polemik verschrieben haben.

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