Proust’sche Dimensionen

Video in Worten A. J. Weigonis ambitioniertes Projekt „Abgeschlossenes Sammelgebiet“
Ausgabe 36/2014

An seinem Debütroman arbeitete er 25 Jahre lang. Am Ende dieser Zeit steht ein 512 Seiten starkes Buch, das den Untertitel „ein Video in Worten“ trägt. Die Handlung lässt A. J. Weigoni im Herbst 1989 einsetzen, ein polyamouröses Figurendreieck führt durch die Wendezeit. Zwei Westler, Radiojournalisten, eine US-amerikanische Opernsängerin – Hedonismus, Flaneurismus, Nihilismus und eine Extraportion Dandyismus. Die Kippfiguren, die an die Komik der Charaktere aus der Serie Seinfeld und an die Gestalten aus American Psycho erinnern, chiffrieren und abstrahieren das, was Weigoni „eine Migropole im Zustand der Dekadenz, des Niedergangs und des Zerfalls“ nennt.

Der 1958 geborene Weigoni ist eigentlich Lyriker. Seine Prosa ist nicht einfach, baut auf einer Art Schüttelbildeffekt auf, der Leser muss schon kräftig rütteln, damit sich klare Konturen abzeichnen. Mehr noch, das Buch liest sich wie die Sekundärliteratur zur Geschichte, die Weigoni schreiben wollte. Das ist zum einen mutig und interessant, zum anderen leider oft ermüdend. Ein hyperrealistischer, fast neurotischer Blick fällt auf die Welt und lässt wenig Leerstellen. Das unendliche Auserzählen und Simultananalysieren verfehlt dabei oft die gewünschte Präzision und endet in Gedanken- und Satzkonstruktionen von, zumindest in der Länge, Proust’schen Dimensionen.

Aber das Durchhalten wird dann doch immer wieder belohnt, denn Weigonis Roman ist sprachmächtig. Diese Sprachgewalt kommt in der Geste eines langen, prosaischen Gedichts daher. Weigoni entlockt den Worten Musikalität und Rhythmus, mal hart, mal sanft. Und zwischen den Perioden von Kunstsätzen trifft der Leser immer wieder auf Stellen, in denen es um den Stoff selbst geht.

In einer der eindrücklichsten Stellen fährt Protagonist Moritz nachts zufällig mit dem Fahrrad an der sich öffnenden Grenze Ostberlins vorbei, die Menschenmassen strömen. Eine surreale Szenerie, in der es Moritz gelingt, sich an den Grenzern und Menschen vorbeizuschleusen. Aber statt die Lage zu sondieren, geht Moritz in die nächstbeste Kneipe und schwadroniert mit einer Handvoll von Gästen über Kunst und Kunsttheorie, als hätte der Mauerfall gar nicht stattgefunden.

Nicht dass der Roman hier und an anderer Stelle mit Erwartungshaltungen bricht, ist problematisch, sondern dass er sich liest wie eine ambitionierte intellektuelle Zeitschrift. Aus einem Roman über das Lebensgefühl der Wendezeit wird so immer wieder ein Labertext über Film, Theater, Musik, Philosophie, Kunst und Architektur. Als Initialzündungen dafür dienen die hochfrequenten kulturellen Codes und Verweise auf beispielsweise Russ Meyers B-Film-Klassiker Faster, Pussycat! Kill! Kill! bis hin zu Ernst Blochs philosophischem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung.

Holzhammerrealismus

Durch die Kunstsprache, in der ausnahmslos alle Figuren sprechen, führen die Protagonisten nur Spuren von Plastizität mit sich. Doch darauf muss man sich einlassen, wenn man dieses Buch lesen will, muss die Figuren wohl als radikal analytische, abstrakte Ableitungen verstehen. Abgeschlossenes Sammelgebiet haut sprachlich und ideologisch mit Holzhammerrealismus auf die Nachwehen der 80er Jahre ein. Die Diskurse sind strapaziös, aber auf seine Art entwirft dieser Roman den Raum für kulturell-gesellschaftliche Utopien. Die meisten Lektoren hätten ihn zweigeteilt – in einen kurzen Roman und einen großen, kulturtheoretischen Essay. Und die meisten Schriftsteller hätten ihn gar nicht erst geschrieben.

Abgeschlossenes Sammelgebiet A. J. Weigoni Das Labor 2014 Limitierte und handsignierte Ausgabe als Hardcover

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