Geburt einer Jugendkultur - Eine Blogreportage

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Niemand fühlt sich unter anderen Menschen gerne unwohl, nicht respektiert oder nicht aufgenommen. Die Großraumdiskotheken deutscher Millionenstädte, Partymeilen wie die Hamburger Reeperbahn oder der Kölner Hohenzollernring, sind jedes Wochenende zur nächtlichen Stunde Treffpunkt tausender Jugendlicher und junger Erwachsener, die, schick eingekleidet mit Highheels und „Armani“-Hemd, in den Clubs und Bars feiern gehen.
Etlichen jungen Erwachsenen graut es vor diesen Meilen, vor den „Armani“-Hemd-Trägern und vor David Guetta. Doch auch sie wollen tanzen und feiern.
„Manche Leute sind Außenseiter, die in der Schule irgendwie anders sind. Ich bin Fan davon, dass man diese Leute dazu ermutigt mit ihrem Anderssein auch klarzukommen. Ich meine jetzt keine Crash-Kids oder Drogenabhängigen sondern einfach Leute, die eine andere Vorstellung von einer Gesellschaft haben und bestimmt auch andere Vorstellungen davon, wie man auf einer Party feiert“, erzählt mir Lars Lewerenz im Gespräch. Der 34-Jährige hat mit der Gründung seines Labels „Audiolith“ 2003 in Hamburg, keinen neuen Akteur der Musikindustrie geschaffen sondern einen zuvor nicht existenten Anknüpfungspunkt und eine gemeinsame Identifikation für Jugendliche die sich von kommerziellen, elitär wirkenden Partys in glitzernden Großstadtclubs oder 99-Cent-Dorfdiskotheken angewidert fühlen. Das Zusammenfinden von gleichgesinnten, alternativen Jugendlichen auf der einen und Elektropunkbands auf der anderen Seite hat innerhalb weniger Jahre eine Eigendynamik entstehen lassen, die die mittlerweile zu einem Teil der Jugendkultur aufgeblüht ist.
„Egotronic“ ist eine dieser Elektropunkbands der ersten Stunde. Sänger und DJ Torsun kommt, wie alle andere Künstler des Labels „Audiolith“ ehemals aus der Deutschpunk- und Metallszene bis er die Produktion von Musik durch neue elektronische Möglichkeiten für sich entdeckt hat. „'Audiolith' ist was so viele Punklabels früher gewesen sind. 'Audiolith' ist Punk mit anderen Mitteln, mit neueren Mitteln“, erklärt er mir vor dem Konzert im Kölner Club „Gebäude9“. Harte elektronische Bässe kombiniert mit computerproduzierten C64- oder auch 8-Bit-Sounds und rauer, je nach Band auch Hip-Hop-lastigem Sprechgesang – das sind diese neuen Mittel. „Dass man auf der Bühne diesen egozentrischen Superstar raushängen lässt, finde ich scheiße!“ Und das sei eben der Punk.
Gründer und Label-Chef Lars Lewernz bringt auf den Punkt, was alle „Audiolith“-Fans spüren und zu schätzen wissen: „Wenn man jemanden mit einem 'Audiolith'-T-Shirt trifft, weiss man, man ist auf einer Wellenlänge.“ Das „Audiolith“-Shirt. 10.000 Stück verkaufte das Label im Jahr 2011 von diesem einen T-Shirt. Es hat sich eine unglaubliche Eigendynamik, um dieses T-Shirt entwickelt, das nun symbolisch für eine Kultur der Offenheit, der Solidarisierung, des gegenseitigen Respekts und der Identifikation zwischen den Anhängern des Hamburger Labels steht.
Auch wenn Lars Lewerenz eine direkte Verbindung mit der Stadt Hamburg leugnet, so kann er nicht bestreiten, dass viele Fans dennoch eine starke Verbindung mit der Stadt Hamburg sehen, allein durch die Verbundenheit eines großen Teils von Anhängern mit dem FC St. Pauli, der Gründung des Lables in Hamburg und einer seit Jahrzehnten bestehenden, großen linken Szene in Hafenstraße und der „Rote Flora“, die ein Symbol für Autonomie ist.
Unabhängig möchten die Fans auch dieses Label sehen. Das Label soll sich niemals im Sumpf der Musikindustrie bewegen, sich nicht mit anderen Vergleichen, sich nicht anpassen. Es besteht die übergreifende Sorge, dass im Wachsen des Labels auch die Nähe, das familiäre zerstört wird. Oder schon zerstört ist. Fans erster Stunde sehen schon jetzt in Audiolith kein Independet-Label mehr sondern ein zur Mode gewordener Akteur der Musikindustrie deren Fans die Texte der eigenen Bands nicht mehr verstehen. Das Verständnis zum politischen Hintergrund von Szenehits wie dem „Egotronic“-Song „Raven gegen Deutschland“ sei verloren.
Doch auch Lars Lewerenz muss marktwirtschaftlich denken. Offensichtlich sind diejenigen Fans so fokussiert auf ihre Unabhängigkeit, auf ihr Anderssein und auf die strikte Einhaltung ihrer eigens definierten linksradikalen Einstellung, dass sie den Blick auf die Realität verlieren.
Es gehört zu den tiefsten und ursprünglichsten Grundsätzen des Labels klare Positionen zu Themen wie Antifaschismus, Solidarität und Gesellschaftskritik zu beziehen. Diskussionen über diese Themen unter jungen Erwachsenen anzustoßen und Menschen zum Handeln und für das Außergewöhnliche zu ermutigen seien die übergeordneten Ziele, erklärt Lars Lewerenz.
Ein Label, das nur wenige tausend Hörer landesweit hat, kann aber finanziell kaum überleben und schießt an diesem Ziel vorbei. Deshalb veranstaltet das Label auch immer wieder Solidaritätskonzerte für eine antifaschistische Jugend in Dörfern Ost-Deutschlands. So bleibt man bodenständig, nah an den Anhängern. Das stärkt die Identifikation enorm.

Auf der Kehrseite steht, trotz aller linken Einstellung und Solidaritätsbekundungen des Labels, die Pflicht Geld zu verdienen. Weil auch Lars Lewerenz seinen Lebensunterhalt und den seiner zwei Angestellten bezahlen muss, bleibt der Wille zu wachsen nicht aus. „Wenn Bands sagen, wir wollen immer vor 50 Leuten spielen und einen kleinen elitären Kreis haben, dann lügen sie“, sagt er. Bei der Bewegung hin zu radiotauglichen Songs und musikalischem Mainstream, bleibt das Hinzustoßen von neuen Fans nicht aus. Sie kaufen sich die Karte für das Konzert wegen des Songs, den sie im Radio gehört haben oder wegen der einen Band. Das was Lars Lewerenz mal als Lebenswerk, Philosophie und soziales Netzwerk beschrieben hat, das Gesamtkunstwerk „Audiolith“, interessiert sie wenig.
Im Gegenteil: Sie stören die zusammengewachsene Kultur bestehend aus der einzigartigen Symbiose zwischen Party, Punk und politischer Haltung. Es kommt zu einer Spaltung der Anhängerschaft. Über ein Konzept gegen diese Spaltung hat sich Lars Lewerenz noch keine Gedanken gemacht. Er werde weiter das produzieren, was er für richtig halte. Es wäre schön, wenn es weiter so viele Leute wie möglich erreichen würde.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Felix

Politikwissenschaftler. Tischtennisspieler.

Felix

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