„Auch auf technischer Ebene will ich keine Perfektion. Eine gute Ausleuchtung ist kein Wert an sich.“
Foto: Yann Rabanier
War es ein Unfall? Oder ein Suizid? Oder gar Mord? Als ihr Mann tot vor dem Chalet in den französischen Alpen liegt, fällt der Hauptverdacht auf die deutsche Schriftstellerin Sandra Voyter (Sandra Hüller). Ihre kriselnde Ehe wird beim anschließenden Prozess bis in intimste Details seziert und beurteilt. Dabei irritiert Sandra immer wieder durch ihre selbstbeherrschte, distanzierte Art. Der Elfjährige erblindete Sohn, vom Dauerzwist der Eltern traumatisiert, wird schließlich zum Hauptzeugen.
Mit einer furiosen Mischung aus Krimi, Gerichtsfilm und Beziehungsdrama und einer alle Ambivalenzen auskostenden Sandra Hüller in der Hauptrolle gewann die Französin Justine Triet im Mai die Goldene Palme in Cannes. Ihr Film stellt so scharfsinnig wie komplex Gesch
plex Geschlechterrollen infrage und spielt mit Erwartungen und Zweifeln. Ein trilinguales Gespräch über die Macht der Sprache, Vorurteile und glückliche Zufälle.Eingebetteter Medieninhaltder Freitag: Frau Triet, wie ist die Idee zu „Anatomie eines Falls“ entstanden?Justine Triet: Mich trieb der Gedanke um, dass man als Kind nie richtig weiß, wer die eigenen Eltern sind, wie sie ticken, was sie denken. Zunächst stand Daniel im Mittelpunkt, der Sohn von Sandra, der sich fragt: wer ist meine Mutter, wer ist mein Vater? Dieses sehr Fragile war eine Linie, die ich zu Beginn erzählen wollte. Die andere war der Gerichtsprozess, durch den von einem Paar und einer Beziehung erzählt wird.Warum?Im Gerichtssaal wird Sandras Privatleben und ihre Beziehung zu Samuel beurteilt. Andere erklären ihr, was sie selbst erlebt hat. Durch diesen Blick von außen muss sie sich permanent rechtfertigen. Und das passiert durch die Sprache. Sprache ist zweischneidig, sie kann etwas erklären, sie kann helfen, die Realität zu erfassen, aber sie legt auch fest, engt ein. Diese Ambivalenz hat mich interessiert.„Anatomie eines Falles“ ist Gerichtsfilm, Krimi, Beziehungsdrama und das Porträt einer modernen, komplexen Frau. Wie haben Sie die Balance gefunden?Das Schreiben des Drehbuchs war sehr kompliziert, der Film war anfangs dreieinhalb Stunden lang. Das Gleichgewicht hat sich dann erst im Schnitt ergeben, aber es war bis zum Schluss wirklich eine schwierige Sache.Placeholder authorbio-1Sie haben die Rolle für Sandra Hüller geschrieben. Was macht sie in Ihren Augen besonders?Sie hatte bereits in meinem vorherigen Film Sibyl eine Nebenrolle, seitdem bin ich von ihr besessen. Es gibt ein sehr interessantes Paradoxon bei Sandra, das mir erst jetzt so richtig bewusst wird. Ich lasse sie einerseits eine Rolle spielen, die undurchsichtig ist, die nicht gefällig sein will. Und zugleich ist sie eine Schauspielerin, die meiner Meinung nach vielleicht von allen Schauspielerinnen, die ich kenne, am wenigsten betrügt, die nie verführt.Sie erwähnten gerade die Rolle der Sprache. Diese wird noch ambivalenter durch eine Protagonistin, die nicht aus der Kultur stammt, in der sie lebt, deren Muttersprache eine andere ist.Die Tatsache, dass sie Ausländerin ist und mehrere Sprachen spricht, fügt weitere Filter zwischen ihr und der Außenwelt ein. Wie sie sich ausdrückt, welche Sprache sie wählt, wird von jenen, die sie beurteilen, interpretiert. Wenn sie ins Englische wechselt, spürt man, dass es für sie die Sprache der Emotionen ist. Wenn sie auf Französisch spricht, ist es eher das Beherrschte und Kontrollierte. Und man fragt sich unweigerlich, ob sie dieses Spiel mit Sprachbarrieren bewusst nutzt, um zu manipulieren. Es geht um Zweifel und Ambiguitäten, im Gerichtssaal, aber auch beim Kinopublikum.Wie haben Sie diese Figur zusammen mit Sandra Hüller entwickelt?Wir haben versucht, alle Klischees der geheimnisvollen Frau zu vermeiden, wie man sie in vielen Filmen sieht. Wir wollten eine kompromisslose Figur erschaffen, die nie verführerisch ist, die nie etwas für die Kamera oder den Zuschauer herstellen will. Dadurch wirkt sie auf eine Art seltsam extrem. Sandra ist eine Figur, die völlig davon überzeugt ist, genau das zu tun, was sie will. Sie legt es nicht darauf an, als gute Mutter oder perfekte Ehefrau zu erscheinen.Dies ist Ihr vierter Spielfilm, davor haben Sie dokumentarische Kurzfilme gedreht. Inwieweit hat diese Erfahrung „Anatomie eines Falles“ beeinflusst?Es beeinflusst mich im Grunde die ganze Zeit, schon bei der Auswahl der Besetzung, ich mische sehr gerne Laien mit Profis. Und ich denke, je mehr ich mich entwickle, desto mehr suche ich nach glücklichen Zufällen. Ein gutes Drehbuch ist wichtig, aber es ist nur eine Bedienungsanleitung. Ich reagiere beim Dreh auf die Situation. Als etwa im Gerichtssaal der Sohn zum ersten Mal aussagte, machte der Kameramann plötzlich einen Reißschwenk, um die Reaktion der Geschworenen einzufangen. Ich war erst irritiert, aber dann fand ich es gleich besser als diese langsamen Kamerabewegungen, die man aus amerikanischen Serien kennt. Auch mit den Schauspielern versuche ich immer spontan zu bleiben, auf sie zu reagieren. Ich mag es nicht, wenn alles perfekt ist, wenn Kamera und Licht exakt positioniert sind.Warum nicht?Durch diese Herangehensweise entstehen immer wieder Momente, in denen den Darstellern nicht bewusst ist, dass wir bereits drehen. Und sie sind dann fast immer besser. Sandra ist in dieser Hinsicht meine beste Kollaborateurin. Sie fordert geradezu, alles von ihr zu stehlen, diese spontanen Augenblicke, die nicht wiederholbar sind. Wenn sie etwa in einer dramatischen Szene überraschend kurz lächelt und sie dadurch komplexer, widersprüchlicher macht. Auch auf technischer Ebene will ich keine Perfektion. Das hatte ich bei Sibyl, aber es hat dem Film nicht gutgetan, er wurde dadurch zu glatt. Eine gute Ausleuchtung ist kein Wert an sich.Sie haben das Drehbuch mit Ihrem Mann Arthur Harari verfasst. Inwieweit hat das Schreiben aus zwei Perspektiven jene Szenen bereichert, in denen es um die Paarbeziehung geht?Interessant an unserer Zusammenarbeit ist, dass er weniger Drehbuchautor als auch Regisseur ist. Wir haben nicht nur Dialoge geschrieben, sondern immer gleich mitgedacht, wie diese umzusetzen sind. Für die Rückblende, in der sie als Paar streiten, war Arthur sehr wertvoll, weil ich dazu neige, den männlichen Part zu vernachlässigen. Beim Schreiben der langen Auseinandersetzung war uns wichtig, beide Partner in all ihren Facetten darzustellen, auch ihre Widersprüche, ihre Schwächen. Wir wollten raus aus der Komfortzone, es sollte weh tun.Sie sind in 76 Jahren Festivalgeschichte von Cannes erst die dritte Regisseurin, die für ihren Film mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde. Ist das mehr als eine persönliche Genugtuung?Ich bin natürlich sehr glücklich über den Preis, so ganz ist es nach all den Monaten noch nicht gesackt. Aber es ist auch ein ermutigendes Zeichen für alle Frauen, die Filme machen.Zumindest von außen betrachtet wirkt die französische Filmbranche relativ progressiv, etwa was den Anteil von Regisseurinnen angeht. Täuscht der Eindruck?Ich persönlich habe zwei Perioden erlebt. Die erste war vor 25 Jahren, als ich angefangen habe. Damals gab es nur wenige weibliche Vorbilder für mich. In den letzten Jahren hat sich viel verändert, auch durch #Metoo. Auch wenn wir noch lange keine Chancengleichheit haben, der Wandel ist da.In Frankreich kam Ihr Film im August regulär ins Kino. Wie waren die Reaktionen der breiten Öffentlichkeit?Wir hatten 1,3 Millionen Zuschauer, es war ein unglaublicher Erfolg und nicht nur Nischenprodukt für eine Elite. Keiner meiner früheren Filme hat das nur annähernd erreicht und ich weiß nicht, ob mir je wieder so etwas gelingen wird. Es hat uns wirklich überrascht, wie sehr der Film einen Nerv getroffen hat.Placeholder infobox-1
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