Spätestens als Jane Fonda bei der Preisverleihung daran erinnerte, wie 1963, bei ihrem ersten Mal in Cannes, selbstverständlich niemand darüber sprach, dass der Wettbewerb sich fest in männlicher Hand befand, wurde klar, dass die Goldene Palme an den Film einer Regisseurin gehen würde. Sieben von 21 Beiträgen stammten in diesem Jahr von Frauen, so viele wie noch nie. „Wir haben viel erreicht, aber wir haben noch einen langen Weg vor zu uns“, sagte Fonda, bevor Jurypräsident Ruben Östlund den Siegerfilm verkündete: Anatomie d’une chute von Justine Triet, die erst dritte Regisseurin in der Geschichte des Festivals, die eine Goldene Palme erhält.
Die Französin nutzte ihre Dankesrede für eine flammende Kampfansage geg
nde Kampfansage gegen die den Sparkurs der Regierung Macron, die ein Fördersystem zerstöre, ohne das sie nicht hier wäre. Ihr Film über eine Schriftstellerin, die im Verdacht steht, ihren Mann getötet zu haben, ist eine spannende Reflexion über misogyne Vorurteile im Rechtssystem, die im Namen einer vermeintlichen Wahrheitsfindung tief in die Privatsphäre eingreift.Die internationale Presse hatte früh einen anderen, formal radikaleren Favoriten. Jonathan Glazers The Zone of Interest handelt von der Familie des Lagerkommandanten von Auschwitz, die in scheinbar idyllischer Ignoranz in einer Villa mit großem Garten lebt und den systematischen Massenmord hinter der Mauer schlicht ausblendet. Glazer konzentriert sich ganz auf die Täterperspektive und liefert damit ein verstörendes Werk, das die Gräuel im KZ als nicht darstellbar allenfalls auf der Tonspur erahnen lässt. Der Brite wurde mit dem Grand Prix ausgezeichnet.Sandra Hüller in zwei HauptrollenIn beiden Filmen spielt Sandra Hüller die Hauptrolle, die Frau unter Anklage bei Triet, die Ehefrau des KZ-Kommandanten Höß bei Glazer, und viele sahen sie als Anwärterin für den Preis als beste Darstellerin. Dass Anatomie d’une chute und The Zone of Interest nun mit den zwei wichtigsten Preisen des Festivals prämiert wurden, ist auch Hüllers brillanten, höchst unterschiedlichen Performances zu verdanken. Und sie sind eine späte Wiedergutmachung für die Schauspielerin, die vor sieben Jahren mit Maren Ades Toni Erdmann Cannes im Sturm eroberte, wobei aber der Film dann von der damaligen Jury komplett ignoriert wurde.Der Preis für die beste Darstellerin ging stattdessen an Merve Dizdar in einem der herausragenden Filme dieses Jahrgangs, Nuri Bilge Ceylans About Dry Grasses. Dizdar widmete ihren Preis „allen Frauen, die darum kämpfen, die Schwierigkeiten des Daseins in dieser Welt zu überwinden“. Als bester männlicher Darsteller wurde Koji Yakusho geehrt, der in Wim Wenders’ Perfect Days einen Kloputzer in Tokio spielt, ein Mann mit Zen-artigem Gemüt und Vorliebe für das Schattenspiel von Bäumen und amerikanische Rockklassiker.Riege der Veteranen: Aki Kaurismäki, Ken Loach, Marco Bellocchio, Nanni Moretti Es war ein guter, aber nicht überragender Jahrgang. Der künstlerische Leiter des Festivals, Thierry Fremaux, hat den Wettbewerb erneut mit etlichen altgedienten Veteranen gefüllt, die meist solide, selten herausragende Filme präsentierten. Aki Kaurismäki etwa variierte in Fallen Leaves mit bewährt trockenem Humorseine bekannten Themen von unerfüllter Liebe, Melancholie und unstillbarer Trinkfreudigkeit. Ein Film, der so auch schon vor 30 Jahren hätte laufen können, wenn aus dem Transistorradio nicht immer wieder Nachrichten aus der Ukraine zu hören wären. Der Jury hat’s gefallen, das nostalgische Alterswerk wurde mit dem Prix du Jury geehrt.Andere Veteranen enttäuschten oder gingen leer aus: Der zweifache Palmenpreisträger Ken Loach erzählte in The Old Oak eine arg simple Geschichte über syrische Geflüchtete in einer britischen Kleinstadt, die mit dem wachsenden Rassismus in Teilen der sich abgehängt fühlenden Arbeiterklasse konfrontiert werden. Am Ende siegen dann aber doch die Solidarität und der gute Wille. Marco Bellocchio widmete sich in seinem klassisch inszenierten, dabei sehr beeindruckendem Historiendrama Rapito der wahren Geschichte des sephardischen Jungen Edgardo Mortara, der 1858 in Rom seinen Eltern weggenommen und unter der Obhut von Papst Pius IX. zum katholischen Glauben erzogen wurde. Bellocchios Landsmann Nanni Moretti kehrte mit der Komödie Il sol dell’avvenire zum anarchisch-selbstironischen Humor seiner Anfänge zurück, in dem es um die politischen Umwälzungen in Italien, das eigene Älterwerden und nicht zuletzt um die Krise des Kinos durch Netflix & Co geht.Amour fou der Skandalregisseurin Catherine BreillatDie Filme von und über Frauen waren beeindruckend und vielseitig wie selten, wenn auch nicht alle überzeugend. So inszenierte die französische Skandalregisseurin Catherine Breillat (Baise-moi) nach zehn Jahren Pause mit L’été dernier eine Amour fou über eine verheiratete Frau und ihren jugendlichen Stiefsohn, die in ihrer Unschlüssigkeit eher ratlos machte. Und Jessica Hausner wählte in Club Zero mit einer Gruppe Schüler*innen, die sich mit „bewusstem Essen“ ins sektenartige Hungern hineinsteigern, ein Trendthema, das sie formal streng und distanzierend umsetzte, ohne ihm inhaltlich etwas Neues abzugewinnen.Sehr viel interessanter und vielschichtiger dagegen erschien Alice Rohrwachers La Chimera über eine Räuberbande, die in der italienischen Provinz etruskische Gräber plündert und die antiken Skulpturen an eine zahlungskräftige Klientel verschachert. Rohrwacher nutzt unterschiedliche Formate von Super8 bis 35mm und überträgt damit das Archäologische auch auf die filmästhetische Ebene. In seinem freien Mäandern ein schöner Abschluss dieser Cannes-Ausgabe.