In Anatolien sind die Winter lang und hart. Über Monate liegt alles unter einer schweren Schneedecke, das Dorfleben beschränkt sich auf Innenräume. Samet wurde hierherversetzt, um als Lehrer zu arbeiten, und träumt doch davon, nach Istanbul zurückzukehren. Mit diesem Protagonisten führt Nuri Bilge Ceylans About Dry Grasses in einen Mikrokosmos der türkischen Gesellschaft, in dem über dreieinhalb Stunden immer neue Schichten freigelegt werden und ethische Themen nicht bloß angerissen, sondern in langen, aber nie langatmigen Dialogen verhandelt werden.
Ceylans Diskurs-Epos ist einer der frühen Favoriten des diesjährigen Filmfestivals in Cannes. Die Männer in Ceylans Film geben sich aufgeklärt und erweisen sich beim kleinsten Wid
beim kleinsten Widerstand als unreife und verunsicherte Kindsköpfe, die auf dem Status quo beharren. Als stärkste Figur erweist sich eine Frau und Kollegin, die überraschend Paroli bieten kann. Der große Eklat bleibt aus, doch am Ende beginnen die scheinbar eingefrorenen Strukturen auch in der anatolischen Provinz zu schmelzen.Wie bei Ceylan sind es in vielen Beiträgen in Cannes vor allem die Frauenfiguren, die in diesem Jahr herausragen: nicht als Klischee der „starken Frau“, sondern komplex und streitbar. Endlich, möchte man rufen. Auch angesichts der Taubheit, mit der das Festival und sein künstlerischer Leiter Thierry Frémaux auf berechtigte Kritik an der mangelnden Diversität des Programms reagieren, das trotz des Rekords von sieben Regisseurinnen im Wettbewerb hinter der Kamera wieder von den üblichen männlichen Cannes-Veteranen dominiert wird.Eine UnruhestifterinAuf der Leinwand aber sah es etwas anders aus: Karim Aïnouz feiert in seinem Historiendrama Firebrand Katherine Parr (Alicia Vikander), die sechste und letzte Frau Henry VIII., als große Unruhestifterin. In Martin Scorseses Killers of the Flower Moon ist Mollie (Lily Gladstone), die indigene Ehefrau, das stille Zentrum, umgeben von machtgierigen, oft tumben Männern. Und in May December lässt Todd Haynes gleich zwei schillernde Frauen aufeinandertreffen, eine ehrgeizige Seifenoperndarstellerin (gespielt von Natalie Portman) und deren reales Vorbild für eine Rolle in einem True-Crime-Drama (Julianne Moore). Eine High-Camp-Spiegelfechterei mit zwei Protagonistinnen, die in ihren Ambivalenzen faszinierender sind als das unschlüssige Konzept des Films. Im Liebesdrama Banel & Adama der Senegalesin Ramata-Toulaye Sy, dem einzigen Regiedebüt im Wettbewerb, versucht sich eine junge Frau aus den Zwängen ihres Dorfes zu befreien, in dem Traditionen und Aberglaube ein freies, selbstbestimmtes Leben unmöglich machen. Die Tunesierin Kaouther Ben Hania wählt für ihr Porträt Die Töchter von Olfa eine hybride Form, die dem Trauma einer alleinerziehenden Mutter durch eine Art filmischer Familientherapie nachspürt. Zwei ihrer vier Töchter sind verschwunden, die Regisseurin ersetzt sie durch Schauspielerinnen, die sie auf die realen Frauen treffen lässt, wodurch es ihr immer wieder gelingt, emotionale Brüche sichtbar zu machen.Traumatisiert ist auch die junge Französin in Katell Quillévérés Melodram Le Temps d’aimer. Während der Nazibesatzung hatte Madeleine eine kurze Affäre mit einem deutschen Wehrmachtssoldaten, nach der Befreiung wurde sie dafür kahl geschoren und bloßgestellt. Der Film folgt ihrem Leben auf der Flucht vor dieser Vergangenheit, den kleinen Sohn pflichtbewusst, aber lieblos zunächst allein aufziehend, und dem fragilen Glück mit einem Mann, der mit seinem eigenen homosexuellen Begehren hadert, und der Liebe und Solidarität, die diese beiden Außenseiter über Jahre trägt.Die Wunden von AmsterdamDas „Dritte Reich“ stand in zwei weiteren Filmen im Zentrum: In Occupied City sucht Steve McQueen nach den Spuren der deutschen Besatzung im heutigen Amsterdam. Er filmt Häuser, Straßen und Plätze der Stadt, eine Erzählstimme nennt stoisch die Adressen, Namen und Daten. Vieles ist aus dem Stadtbild verschwunden, alte Wohnhäuser sind Neubauten gewichen. McQueens Dreieinhalbstundenwerk ist eine Kette filmischer Stolpersteine, die unsichtbare Wunden der Stadt wieder ins Bewusstsein rückt.Im meistdiskutierten Film der ersten Festivalhälfte, The Zone of Interest, blickt Jonathan Glazer auf die andere Seite der KZ-Mauern von Auschwitz, auf die Villa und den Familienalltag des Lagerkommandanten Rudolf Höß (Christian Friedel) und seiner Frau Hedwig (Sandra Hüller). Eine bitterböse Groteske – nach dem Roman Interessengebiet des letzte Woche verstorbenen Briten Martin Amis – über die Banalität des Bösen, die in ihrer Radikalität fasziniert, aber zu eindimensional bleibt. Die Jury wird an diesem Film bei der Preisverleihung am Samstag dennoch kaum vorbeikommen.