Ein Geheimtipp ist der französische Krimiautor Jérôme Leroy hierzulande mittlerweile nicht mehr. Wobei der 1964 geborene und in Lille wohnende Leroy für seine Literatur den Begriff roman noir vorzieht, um die gesellschaftskritische Komponente darin zum Ausdruck zu bringen. Leroy versteht sich darauf, politische Realität spannend zu fiktionalisieren, übrigens auch als Jugendbuchautor. In seinem mehrfach prämierten, nicht ins Deutsche übersetzten Jugendroman Norlande verarbeitete er das schreckliche Massaker von Anders Breivik auf der norwegischen Insel Utøya. Sein Roman Der Block (der Freitag 12/2017) über die extreme Rechte in Frankreich und eine dem Front National nachempfundene Partei begeisterte Leser wie Kritiker. Mit Der Schutzengel erscheint nun eine Art Prequel von Der Block, diesmal steht die schmutzige Arbeit der Geheimdienste im Vordergrund.
Der 60-jährige Berthet, der keinen Vornamen, aber jede Menge Alibis, Bankkonten und Wohnungen in verschiedenen Ländern hat, ist langjähriger Mitarbeiter der „Unité“, eines Sicherheitsdienstes. Nun soll er aber dran glauben, weil er zu viel weiß und weil er – aus privaten Gründen – eine junge schwarze, aus der Banlieue stammende Politikerin beschützt, die gerade in der sozialistischen Partei eine Bilderbuchkarriere hinlegt, den Strategen der Unité aber im Weg ist. Gleich eine ganze Gruppe Killer wird losgeschickt, um Berthet zu beseitigen, aber der weiß sich zur Wehr zu setzen und richtet ein Blutbad an.
Der Schutzengel ist ein Roman voller widersprüchlicher Figuren. Berthet, der sich selbst eigentlich als Linksliberaler sieht, gerne mal ein bisschen Kapitalismuskritik übt und nebenbei französische Lyrik liebt, ist ein eiskalter, brutaler Mörder, ein Rassist und ein Sexist. In seinem Job interveniert er mithilfe einer parastaatlichen Struktur in politische Konflikte und lässt sie bei Bedarf eskalieren. Berthet hat überdies eine Obsession, und zwar die junge Politikerin Kardiatou Diop aus der Banlieue, mit senegalesischem Elternhaus, die er aus der Distanz seit Jahren beschützt. Was genau hinter diesem eigenwilligen Verhältnis steckt, wird erst im Lauf des Romans gelüftet. Die Killer der Unité werden auf Berthet angesetzt, als Kardiatou Diop in der französischen Provinz in einem medienwirksamen Kommunalwahlkampf gegen Agnès Dorgelles vom „Block“ antreten soll. Die Frontfrau der rechten Partei, deren reales Vorbild Marine Le Pen ist, spielt in Leroys Roman Der Block eine zentrale Rolle. Der Wahlkampf in der französischen Pampa wird dementsprechend zu einer knallharten Angelegenheit, bei der Berthet alles einsetzt, um sicherzugehen, dass Kardiatou Diop nichts geschieht.
Eine Wikileaks-Geschichte
Nicht weniger widersprüchlich als Berthet ist der Schriftsteller Martin Joubert, eine Art literarisches Alter Ego von Jérôme Leroy. Der knapp 50-jährige, gerade von seiner Freundin verlassene, mäßig erfolgreiche Krimiautor schreibt nebenher für eine rechte Webseite, als linksliberaler Autor. Ihn sucht Berthet auf, damit er als Ghostwriter seine Memoiren schreibt, die im Fall seines Todes veröffentlicht werden sollen und jede Menge brisante Informationen über die Unité und den französischen Politikbetrieb enthalten. Der Schutzengel erzählt eine Art Wikileaks-Geschichte in Frankreich. Denn natürlich gelangen die Informationen, die der Geheimagent dem Schriftsteller mitteilt, schließlich an die Öffentlichkeit und erzeugen ein regelrechtes politisches Erdbeben, bei dem kein Stein auf dem anderen bleibt. Parallel dazu eskaliert der Wahlkampf in der Provinz, wobei Gewalt und rassistische Hasstiraden gegen die schwarze Kandidatin auch aus den Reihen der sozialistischen Partei und von abgesägten internen Konkurrenten kommen. Das in diesem Roman geschilderte Frankreich ist ein einziger rassistischer Alptraum. Keiner der Männer in Der Schutzengel kommt besonders gut weg. Berthet wie Joubert und auch der namenlose Geliebte von Kardiatou Diop, aus dessen Perspektive ein Teil des Romans erzählt wird, sind stets auf ihren Vorteil bedacht. Kardiatou Diop ist für sie vor allem eine romantische und sexuelle Projektionsfläche.
Jérôme Leroys Roman funktioniert wie ein Puzzle, ganz langsam fügen sich die Teile zusammen. Wobei es neben den Geheimdiensten und dem Wahlkampf auch um den Einfluss rechter Verlage geht. Denn Martin Joubert, der sich durch seine publizistische Arbeit, wenn auch mit einem gewissen Abstand, auf die politische Rechte einlässt, wird irgendwann massiv unter Druck gesetzt und sogar mit dem Tod bedroht. Bei Leroy ist der „Tiefe Staat“, wie er genannt wird, in Anlehnung an die Loge P2 und den NATO-Geheimdienst Gladio zu verstehen, die in den 1970er Jahren Italien im Kampf gegen die radikale Linke unter anderem mit Attentaten politisch destabilisierten. Für das heutige Frankreich ist das in dieser Form natürlich reine Fiktion, wird aber bei Jérôme Leroy ein spannendes Stück Literatur.
Info
Der Schutzengel Jérôme Leroy Cornelia Wend (Übers.), Edition Nautilus 2020, 352 S., 20 €
Metamorphosen
Die Serie, aus dem das hier gezeigte Bild stammt, entstand in einer „dunklen Phase“ des Lebens von Fotograf Yorgos Yatromanolakis. Er leistete seinen Pflichtdienst in der griechischen Armee und empfand diese Periode als Widerspruch zu seiner Persönlichkeit. Naturwanderungen halfen ihm, Frieden zu finden. Übergreifend in der Serie The Splitting of the Chrysalis and the Slow Unfolding of the Wings ist das Thema der Metamorphose, für Yatromanolakis ebenfalls ein sehr persönliches Thema. Zur Zeit der Griechenlandkrise im Jahr 2008 glaubte er an eine baldige Transformation der Gesellschaft. Der Titel der Reihe ist an den Lebenszyklus des Schmetterlings angelehnt, in dem das Insekt bekanntermaßen einen beeindruckenden Wandel durchlebt. https://www.yatrom.net/
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