Streit um Religion und Weltanschauung

Zirkumzisionsdebatte Jetzt hat auch Malte Lehning im Tagesspiegel die positivistische Karikatur des "Rationalismus" verbreitet, der unfähig sei, religiösen Glauben zu respektieren

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Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen hat sich in Bezug auf die Zirkumzisionsdebatte zu Wort gemeldet. Der Erlanger Politikwissenschaftler Heiner Bielefeld hat am Donnerstag, den 27. Juli, seine Besorgtheit angesichts der breiten Resonanz erklärt, den ein verächtlicher Grundton gegenüber den Religionen erstmals in Deutschland finde. Ich entnehme seine zusammenfassende Formulierung der in Hameln seit 1848 erscheinenden „Deister-Weser-Zeitung“ vom 27.7., S.8: „Erschreckend sind das Ausmaß an Polarisierung, kulturkämpferischer Aufheizung und der sehr aggressiv verächtliche, ausgrenzende Ton, in dem über Religionen geredet wird. Wir erleben gerade eine neue Bruchlinie in der deutschen Gesellschaft. Das macht mir Sorgen.“ Bisher habe eine verächtliche Religionskritik vor allem auf Muslime gezielt, jetzt seien auch das Judentum und Religionen insgesamt betroffen.

Kein Zweifel, es gibt, auch und gerade in Deutschland, Antisemitismus und Antiislamismus, die sich unter dem Mantel der Religionskritik austoben. Und es gibt eine schrecklich „kulturkämpferische“ Tradition, mit der seit Bismarck gerade anti-katholische Ressentiments für ideologische Massenmobilisierungen im Dienste der jeweiligen Inhaber der Staatsgewalt ausgenutzt und verstärkt worden sind. Vielleicht wird inzwischen sogar diese „kulturkämpferische“ Haltung gelegentlich auf das protestantische Christentum ausgedehnt, so sehr es sich auch traditionell als Staatschristentum begreift.

Aber Heiner Bielefelds Diagnose der deutschen Zustände ist falsch und sein Eingreifen in die Zirkumzisionsdebatte in seinem Kern zurückzuweisen: Die ganz reale Polarisierung der Verhältnisse – noch nie war die Schere zwischen Superreichen und ganz Armen so weit aufgegangen wie heute – findet sicherlich ideologische Ausdruckformen in Meinungstrends unter den von dieser Polarisierung bedrohten Mittelschichten (also etwa in der ersten Sarrazin-Debatte), aber das ist noch weit entfernt davon, das gesellschaftliche Meinungsklima zu prägen. Die seit dem Beginn dieses Jahrhunderts in Deutschland wieder offen geführte Auseinandersetzung mit dem Versuch religiöser Hardliner, die „Rückkehr der Religion“ im säkularen Rechtsstaat nicht nur zu predigen, sondern auch institutionell durchzusetzen, hat zu säkularen Reaktionen und Gegenmobilisierungen geführt (etwa im Zusammenhang der Auseinandersetzung um den gescheiterten „Pro-Reli“-Volksentscheid in Berlin). Säkulare Religionskritik hat in Deutschland wieder eine öffentliche Stimme, wie etwa auch die vom Papstbesuch 2011 ausgelöste Debatte gezeigt hat, bis zur großen Gegendemonstration vor knapp einem Jahr. Das ist aber kein Ausdruck einer Bruchlinie in der deutschen Gesellschaft – allenfalls ein spätes Eintreten in die westeuropäische Normalität weltanschaulicher Pluralität, innerhalb der Religionen eine wichtige Rolle spielen, aber keineswegs einen Monopolanspruch erheben können. Noch besteht in Deutschland die Hoffnung, dass sich die gesellschaftliche Polarisierung der letzten Jahrzehnte einen gesellschaftspolitischen Ausdruck verschafft – wie dies in den USA der 1930er Jahre im New Deal geschehen ist – und nicht in ideologischen „Freund-Feind-Erklärungen“ zur völligen Unkenntlichkeit „verarbeitet“ wird. Aber wir können noch nicht wissen, wie das geschehen kann. Deswegen kommt uns Heiner Bielefelds Diagnose nur so lange plausibel vor, wie wir nicht weiter darüber nachgedacht haben. Denn Grund zur Sorge besteht doch.

Um so wichtiger ist es daher, hier genauer hinzusehen. Aggressivität, Verächtlichmachung und Ausgrenzung sind voneinander und von scharfen Formen der Kritik zu unterscheiden – insbesondere ist dadurch die wichtige Unterscheidung mit greifbarem Inhalt zu füllen (die Heiner Bielefeld zwar formal zugesteht, in seiner Wahrnehmung der Zirkumzisionsdebatte dann aber unter der Hand wieder zurückgenommen hat): nämlich die zwischen Religionskritik überhaupt – die in einer pluralen modernen Gesellschaft legitim und notwendig ist – und einer verächtlichen Religionskritik – welche die Menschenwürde ihrer TrägerInnen verletzt und daher unterbleiben sollte bzw. notfalls auch rechtstaatlich unterbunden werden muss. Dabei ist klar, dass wir es hier nicht mit einer Frage der Etikette zu tun haben: Es geht nicht einfach darum, von allen DiskussionsteilnehmerInnen einen netten, zivilisierten Ton zu verlangen (auch wenn das sicherlich nichts schaden würde: die nötige Schärfe bekommt mensch auch hin, ohne sich im Ton zu vergreifen) und alle rauhen und ungehobelten Tonlagen zu zensieren. Es geht vielmehr darum, wie wir in unserer Gesellschaft mit unseren Ängsten und Sorgen umgehen – jeder für sich selber und alle zusammen im gesellschaftlichen Verkehr.

Als Hintergrund für meine Position vielleicht lesenswert: "Humanismus für das 21. Jahrhundert", Berlin 2008

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Frieder Otto Wolf

Ich lehre als Honorarprofessor Philosophie an der Freien Universität Berlin, bin Mitinitiator des Forums Neue Politik der Arbeit und Humanist.

Frieder Otto Wolf

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