Teilmengen (Mein Freund und ich - und die große Politik)

Teile und herrsche Auf dem Gedankenweg, der von der unteilbaren Brüderlichkeit aller Menschen ausgeht, wird es mehr und mehr einsam. Jede anbrechende Krise hält Mitmenschen zurück, die eben noch mit mir auf diesem Weg vorwärtsstrebten.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Mein Freund schüttelt den Kopf.
„Dann sind wir uns in dieser Frage also NICHT einig“, fasst er die Lage zusammen.
Und ja, so ist es.
Hier trennen sich unsere bislang gemeinsamen Ansichten.
Das macht mich traurig, ich weiß auch nicht, warum.
Mit dem 07. Oktober 2023 hatte sich mein Freund nun einer Seite zugeschlagen, auf der ich nicht stehen möchte. Einer kriegerischen Seite nämlich.

„Dann bist du also für die Palästinenser?“ fragt er mich noch und will nicht verstehen, dass es im Krieg nicht richtig ist, sich auf eine Seite zu stellen; dass es nicht die eine, richtige Seite gibt, weil der Zustand des Krieges bereits davon zeugt, dass ihm etwas erheblich Falsches vorangegangen ist.
Aber mein Freund: Er hat sich nun positioniert.
Schulter an Schulter mit Israel will er sich aufstellen und spricht über die andere Seite, als wären die Palästinenser allesamt bloß irre Terroristen, angetrieben von einer besonders gefährlichen Religion.
Die Vorgeschichte der im Gaza-Streifen eingepferchten und jahrzehntelang unterdrückten, im Elend lebenden Palästinenser will er nicht hören, wiegelt er ab.
Sein latenter Hass auf den Islam und auf Muslime, der öfter schon zu erahnen war, zeigt sich nun offener denn je.
Er zählt mir terroristische Attentate der jüngeren Vergangenheit auf und macht drauf aufmerksam, dass diese doch immer vor islamistischen Hintergründen verübt wurden.
Daraus schließt er, der Islam wäre aktuell die größte Bedrohung der Menschheit und ein einziger Quell des Bösen, dem man jetzt erst recht mit voller Härte und mit Waffengewalt entgegentreten müsse.
Ich kontere mit dem Spruch vom Krieg, welcher der Terror der Reichen wäre und Terror wäre dementsprechend der Krieg der Armen. Ich versuche zu erklären, dass sich die wahrhaft gefährlichen Mächte meist von Westen her in ölreiche Böden bohren, die sich nun mal allzu meist in muslimisch geprägten Kulturkreisen befinden, womit diese destabilisiert werden, schlechte Lebensumstände bieten, woraus wiederum Terrorismus und Extremismus erwachsen - aber mein Freund lässt nichts gelten.
Er zuckt die Schultern, seine Meinung steht fest.
Zur Auflockerung zitiere ich Volker Pispers aus dem Gedächtnis, der sagte sowas wie: ‚Sollte den anderen Religionen vielleicht mal zu denken geben, dass der liebe Gott all das schöne Öl bei den Moslems verbuddelt hat‘ – aber noch nicht mal Pispers, den wir beide eigentlich hochschätzen, kann meinen Freund und mich heute versöhnen.

Noch in der Angelegenheit des Ukraine-Krieges war das alles ganz anders.
Dass man auch die andere Seite sehen und verstehen muss, dass der Konflikt eine lange, komplexe Vorgeschichte hat, dass es von daher überlegte Diplomatie braucht statt dumpfer Waffengewalt und fahriger Kriegslogik: Darin waren wir uns einig, solange es noch um die Ukraine und um Russland ging.
Alles das gilt meinem Freund nun in der Sache Israel und Palästina nichts mehr.
Unsere geistigen Wege trennen sich.
Nun also doch.

Dabei zeigte sich unsere geistige Freundschaft sogar noch in der verrückten Corona-Zeit unverbrüchlich!
Während dazumal weite Teile des Bekanntenkreises vorrangig drauf aus waren, möglichst nicht anzuecken, sich keinen Ärger einzuhandeln und den Maßnahmen zu entsprechen, zeigten sich mein Freund und ich deutlich verstört von den alles-einschränkenden und rigorosen Vorgängen der Pandemie-Politik, die wir beide als übers Ziel hinaus- und am Ziel vorbeischießend einschätzten und schließlich nur noch als beängstigend empfanden.
Als Zeitkritiker, die sich gegen die Ausgrenzung Andersdenkender und Ungeimpfter aussprachen und die unveräußerlichen Grundrechte hochhalten wollten, galten wir beide damals als „Schwurbler“ und „Wissenschaftsfeinde“ und erfuhren von außen oft nur Ablehnung und Hass.
Kurz drauf schimpfte man uns „Friedensfuzzi“, Lumpenpazifist“ oder „Putin-Troll“, weil wir uns gegen den militaristisch gewordenen Zeitgeist verwehren wollten und weil wir nicht dran glauben konnten, dass nun Waffeninstrumente den jahrelang vergeigten Frieden herbeitrompeten sollen.
Als ringsum um uns alles ins Wanken geriet, gaben wir uns gegenseitig Halt, mein Freund und ich - jedenfalls bis jetzt.

Dass sich in der Islamfrage unsere Geister scheiden, war länger schon klar.
Meist ignorierte ich die Spitzen, die mein Freund gern in Nebensätzen gegen den Islam und seine Gläubigen ritt.
Er wiederum lächelte spöttisch, wenn ich die Ähnlichkeit und Gleichwertigkeit aller Religionen betonen wollte, als hielte er mich für leicht naiv, weil ich aus seiner Sicht die Gefahr, die er in der einen Glaubensrichtung zu sehen meinte, nicht erkennen wollte.
Noch bis vor kurzem war es uns möglich, diese Differenzen aus unserer Freundschaft draußen zu halten; nun bricht auch hier eine Trennlinie auf, die erheblich werden könnte.

Das neue Thema „Nahost-Konflikt“ bricht ja doch herein in unser aller Leben und wird auf vielen Ebenen zum bestimmenden Faktor.
„Auf welcher Seite stehst du“ wird als Gretchenfrage neu ausgewürfelt und wird nun dieser Art unentwegt gestellt.
Je nach Antwort findet man sich dann alsbald in dieser oder jener gesellschaftlichen Teilmenge wieder, die sich von den anderen scharf abgrenzt und kaum Überschneidungen findet.

Wie auch immer man gestanden haben mag in dieser oder jener Zeit, es bleibt für die Zukunft vor allem eins: Gesellschaften, die sich immer weiter zersplittern und zerfasern.
Kaum noch gibt es eine Kontinuität der gemeinsamen Ideen und Ideale, welche prinzipiell alle mitnehmen.
Mit jeder Krise tun sich neue Bruchstellen auf, spalten sich Teilmengen ab.
Das merkt jeder für sich.
Mag sein, der Freundeskreis war sich noch weitgehend einig in Sachen Corona, aber mit dem Ukraine-Krieg haben sich dann doch Gräben aufgetan.
Vielleicht auch umgekehrt: In Corona stand xy vielleicht noch auf der „anderen“ Seite, aber dann, in Sachen Ukraine, war man wieder eins. Jetzt, in Sachen Nahost hat sich xy allerdings schon wieder „verrannt“, wie man hört…
Man hört: „Mit Peter rede ich nicht mehr, der war ja auf den Corona-Demos unterwegs, für mich ist er damit für alle Zeiten unten durch, der Spinner.“
Oder:
Der ungeimpfte Sohn ist den Eltern seit Corona nicht mehr willkommen, man redet nicht mehr miteinander.
Die Kollegin hat ein israelkritisches Posting geteilt, das ist doch verfänglich, beim Mittagessen setze ich mich besser nicht zu ihr.
Alex haut Sätze raus, die stark nach Putin-Propaganda riechen, zum Grillfest laden wir ihn ganz sicher nicht ein…
Die Bruchlinien gehen quer durch Familien und Freundschaften, quer durch das ganze soziale Gefüge und sind nur schwer wieder zu kitten.
Und schlimmer noch: Anstatt gekittet zu werden, tun sich nebenher ständig neue Klüfte auf.
Wir sind geteilt und beherrscht von unversöhnlichem Groll.

Ich weiß, so weit wird es mit meinem Freund und mir nicht kommen.
Wohl werden wir die Meinung des anderen aushalten und uns nicht voneinander abwenden, werden auch weiterhin Freunde sein, aber dennoch: Es steht nun etwas zwischen uns.
Etwas Wichtiges, wie mir scheint.

Auf dem Gedankenweg, der von der universellen Gleichwertigkeit, von einer unantastbaren Brüderlichkeit aller Menschen ausgeht, wird es mehr und mehr einsam.
Jede anbrechende Krise hält Mitmenschen zurück, die eben noch mit mir auf diesem Weg vorwärtsstrebten.
Erst hieß es, die Ungeimpften und Maßnahmenkritiker sind nun der Feind und müssen ausgeschlossen, bekehrt, bekämpft werden: An dieses Denken habe ich die ersten ehemaligen Mitstreiter für allumfassende Menschlichkeit verloren.
Dann waren die Russen plötzlich der neue Sonderfall, den man ohne weiteres hassen und verdammen durfte.
Jetzt Palästinenser.
Dazu die althergebrachten Feindbilder: „Die Ausländer“. Flüchtlinge. Sozialhilfeempfänger. Arbeitslose…
So entstehen immer neue Teilmengen, die aus ihrer Sicht jeweils eine andere Gruppe Mensch diskriminieren, runtermachen und ausstoßen wollen.

Die böse Sorte Mensch, die eine böse Religion, DAS böse Regime: Daran glauben kann und will ich nicht.
Kann ich nicht, weil ich felsenfest von einem Gegenteil überzeugt bin.
Überzeugt bin ich:
In der Masse sind die Menschen aller Zeiten und Kulturen gleich: Wie friedlich und freundlich sie sind, hängt immer von den Umständen ab, in denen sie leben (müssen).
Wo sich die Massen augenscheinlich „schlechter“ benehmen und in irgendeiner Weise „verhaltensauffällig“ werden, sind es eben diese Umstände, die auffallend schlecht oder schlechter geworden sind.
Menschen oder Religionen sind kaum je das Problem; das eigentliche Problem wurzelt dann doch immer tiefer und hat mit den jeweiligen Umständen zu tun.
Das lese ich auch aus der Geschichte heraus und daran glaube ich fest.
Das will ich glauben, weil auch nur innerhalb dieses Denkens konstruktive Zukunftspläne möglich sind.
Gute Lebensbedingungen, gute Umstände schaffen für alle Menschen dieser Erde, für eine friedliche, gute Zukunft: DAS ist doch zumindest mal ein Plan mit Hand und Fuß.
Schwer umzusetzen, schwer vorstellbar, gewiss; aber prinzipiell durchdacht und inhaltlich jedenfalls nicht verkehrt.
Jedes andere Denken führt ja doch nur hinein in etwas Falsches; in ein permanentes Gegeneinander, in Zwietracht, Misstrauen und Dominieren-Wollen, in ewiges Feinddenken, in unendlich viele Teilmengen und in global kriegerische Zeiten, gegen die man sich mit Händen und Füßen wehren muss.
Gut vorstellbar und hat eine ewig lange Tradition, wird fortwährend umgesetzt, ist profitabler für einige Wenige, sicher; aber ist einfach viel zu kurz gedacht und im Grunde völlig verkehrt, führt uns bloß ins Verderben.

Und dieses Verderben, es rückt näher, je weniger Menschen auf dem gemeinsamen Gedankenpfad unterwegs sind. Rückt näher, je mehr Menschen sich in nichtssagenden Teilmengen verlieren.
Das merkt man.
Ich merke das, immer wieder.
Das ist dann wohl auch der Grund, warum es mich so traurig macht, meinen Freund nun gedanklich nicht mehr an meiner Seite zu wissen.
Einer mehr, der fehlt auf dem Weg, wo es so dringend die Vielen bräuchte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden