Kann ich das wirklich wollen?

Wundersamer Alltag Arbeit aufschieben, sich ablenken lassen - soll das heißen, dass wir keinen freien Willen haben? Obwohl wir uns manchmal nicht richtig entscheiden, haben wir ihn doch
Arbeiten? Die Welt retten? Nein, erstmal tausend Mails checken
Arbeiten? Die Welt retten? Nein, erstmal tausend Mails checken

Foto: David Gannon/AFP/Getty Images

"Ich leb online" - was vor ein paar Jahren noch ein Werbespruch war, ist heute Alltag.

Das führt auch dazu, dass wir uns verzetteln. Selbst wenn eine wichtige Arbeit zu erledigen ist, ein Artikel termingerecht abgeliefert werden muss, unterbricht man sich ständig selbst, schaut noch mal kurz in die Mail, prüft, ob jemand den Kommentar, den man selbst vor wenigen Minuten geschrieben hat, schon beantwortet hat, einen Tweet re-tweeted, ein geteiltes Foto erneut geteilt hat. Die Arbeit, die man sich eigentlich vorgenommen hatte, bleibt liegen.

Ein Wort für dieses Phänomen war natürlich schneller gefunden, als dass es wirklich verstanden worden ist, oder seine Konsequenzen überhaupt bedacht wurden: Prokrastination. Die einen sagen, die neue Generation sei halt so, sie könne alles auf einmal im Blick behalten, könne damit wunderbar umgehen und auf diese Weise entstünde eine ganz neue Form von Kreativität und Ideenreichtum. Die Intelligenz des Schwarms. Die anderen verweisen darauf, dass das überhaupt nichts Neues sei und nur ein Zeichen dafür, dass der Mensch eben keinen freien Willen habe. Niemand kann selbst entscheiden, worauf er sich konzentriere, das Gehirn will nicht am Artikel schreiben sondern sich durch die Welt der Tweets und Statusmeldungen treiben lassen, und gegen das Gehirn hat der Wille – so behaupten ja die Neuro-Wissenschaftler – eh keine Chance.

Habe ich einen freien Willen?

Ich finde es nicht plausibel anzunehmen, dass meine Kreativität darunter leiden würde, wenn ich nur alle paar Stunden einen Blick ins große Netz werfen würde, und niemand würde darunter leiden, wenn Kommentare und Mails erst nach einem halben Tag beantwortet würden. Ich gebe aber zu, dass ich mich nicht ohne Weiteres daran halten kann. Habe ich also wirklich keinen freien Willen?

Einen Willen zu haben heißt, ein Ziel zu verfolgen, das ich mir gesetzt habe, die Mittel zum Erreichen dieses Zieles auswählen zu können, erkennen zu können, was mich am Erreichen des Zieles hindert und diese Hindernisse beiseite zu räumen. Natürlich kann ich mich in der Wahl der Mittel und der Beurteilung der Hindernisse irren, das schränkt nicht meinen Willen ein, sondern ist meiner begrenzten Erkenntnisfähigkeit geschuldet. Aber wenn ich einen Willen habe, dann beurteile ich meine Situation entsprechend meiner Ziele, meiner Mittel und der Widerstände und leite daraus Handlungsalternativen ab.

Frei ist dieser Wille, wenn er nicht von anderen Instanzen eingeschränkt ist oder gesteuert wird, die meinem Denken und Entscheiden verborgen bleiben und die von mir nicht beeinflusst werden können.

In dem Moment, wo ich bemerke, dass ich prokrastiniere, endet also mein freier Wille nicht, sondern da fängt er erst an. Ich kann ja darüber nachdenken, was zu tun ist, damit ich meinem Wunsch nach Zerstreuung nicht nachgeben kann. Ich kann das Mobiltelefon weg legen oder ausschalten, die Internet-Verbindung des Notebooks kappen, weil ich erkannt und verstanden habe, dass ich ein schwacher Mensch bin und in der akuten Konfliktsituation nicht gegen meine Schwäche ankomme.

"Ich kann nicht anders"

Einen freien Willen zu haben, bedeutet also nicht, in jeder Situation die Lage bewusst analysieren und entsprechend bewerteter Präferenzen entscheiden und handeln zu können. Menschen sind keine Automaten oder Computer, für die ein solches Entscheidungsmodell vielleicht passen würde.

Freier Wille bedeutet, in der Lage zu sein, die eigenen Handlungen reflektieren und sich auf die Problemsituation vorbereiten zu können – das heißt, so paradox es klingen mag, der freie Wille ist unsere Fähigkeit, die eigene Entscheidungsfreiheit selbst und absichtlich einschränken zu können. Wer, wie Martin Luther, sich absichtlich in eine Situation bringt, in der er sagt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ der hat seinen freien Willen gerade im Nicht-anders-können unter Beweis gestellt.

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Geschrieben von

Jörg Friedrich

Naturwissenschaftler, IT-Unternehmer, Philosoph

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