„Im Grunde genommen bin ich Etatist“

Demokratie Oliver Marchart hält in Frankfurt einen Vortrag. Sein Ziel: Das Institutionenproblem der radikalen Demokratietheorie zu lösen. Ist er zum Republikanismus übergelaufen?

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Beziehung zwischen Bevölkerung und staatlichen Institutionen, wie sie sich die radikale Demokratietheorie eher nicht vorstellt (Symbolbild)
Beziehung zwischen Bevölkerung und staatlichen Institutionen, wie sie sich die radikale Demokratietheorie eher nicht vorstellt (Symbolbild)

Foto: John MacDougall/AFP/Getty Images

Mit der radikalen Demokratietheorie ist es so eine Sache. Ihre Radikalität speist sich nicht aus ihrem Revolutionsgehabe, sondern ihrer tiefen Verbundenheit zur – im wahren Kern des Wortes – Demokratie, der Herrschaft des Volkes. Es geht zunächst und hauptsächlich um die Befähigung aller, an ihr teilzunehmen und die mit ihr verbundenen Rechte, einzufordern. Es soll also sein: die Herrschaft aller oder auch aller Beliebiger (Rancière). Demokratie ist dagegen nicht das meistens alle vier Jahre stattfindende Wählen von nicht-alternativen Vertretern. Und sie ist genausowenig, wenn wir in Europa bleiben, die technokratische Steuerung des Lebens von einem politischen Mehrebenensystem, dessen Namen im Volksmund häufig nur abtrünnig mit seinem Wohnsitz verbunden wird: Brüssel.

Oliver Marchart hat in seinem vor allem im deutschsprachigen Raum breit rezipierten Werk (Die politische Differenz) der radikalen Demokratie noch eine weitere Note verpasst: den Postfundamentalismus. Damit will er Letztbegründungen aufgelöst wissen – gerade hinsichtlich der Demokratie. Das bedeutet umgekehrt die Akzeptanz – oder noch mehr Affirmation – von einer konflikthaften und kontingenten „Demokratie“, dessen konkreten Inhalte also erst noch bestimmt werden müssen. Kurz: Ihre Form ist umkämpft, niemand hat die Legitimation zu herrschen. Auf normative Prinzipien soll dennoch nicht verzichtet werden: Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Selbstregierung sind das, folgt man Marchart. Sie sollen intensiviert und extensiviert, neu gegründet und ausgebreitet werden – am besten in jedem gesellschaftlichen Einzugsbereich, also etwa nicht nur öffentlich, sondern auch privat gelten. Plastisch gesagt: nicht nur für den Ferrari fahrenden Multimillionär konzipiert sein, sondern auch für die einen Fiat Punto nutzende alleinerziehende Mutter in der Bonner Vorstadt. Doch wie kann die Umsetzung eines solchen radikaldemokratischen Projekts aussehen?

Marchart versucht in seinem Vortrag an der Goethe-Universität Frankfurts, darauf zu antworten. Dafür unterbreitet er Vorschläge, wie das institutionentheoretische Defizit – weil die Theorie diese Frage gerne umgeht – der radikalen Demokratie gelöst werden könne. Das heißt: wie radikaldemokratisch etwa über Stadt, Polizei, Parlamentarismus nachzudenken ist. Sein Vorschlag: dies offen (und auch dialektisch) zu tun. Institutionen haben nicht per se etwas Undemokratisches, sagt Marchart, sie seien nicht gleich zu verteufeln, sondern, ganz im Gegenteil: ihre Gestalt ist genauso wie die Demokratie an sich veränderbar, sie sind Felder auf denen Kämpfe um ihre inhaltliche Formung ausgetragen werden. Er mahnt deshalb ein frühzeitiges Einknicken vor einer scheinbaren Nicht-Umsetzbarkeit an, Institutionen zu verändern oder falsche Praktibilitätserwartungen an sie heranzutragen. Seine Geste will den Menschen Mut machen, sich (wieder) der Demokratie zu verschreiben und ein hegemoniales Projekt aus den (seinen) demokratischen Leitideen zu machen. Dafür – und um die Menschen für die Demokratie zu befähigen – will er ihre Institutionen mit kritischen, linken Geistern besetzen.

Welche Funktionen müssen Institutionen erfüllen, welchen politischen Prinzipien müssen sie gehorchen, um als Instrumente radikaler Demokratie zu taugen?

Marchart nennt exemplarisch zwei (Zwangs-)Institutionen, die sich die Linke aneignen solle, um hierin Staat zu werden, statt diesen abzuschaffen: die Schule und die Armee (deren dystopisches - oder auch utopisches - Potential er sich bei Fredric Jameson leiht). Voraussetzung dafür sind, dass der Staat selbst laisiziertwird und das soziale Transversalität herrscht, auch zwangsweise. Was eigentlich eine strenge Trennung von Staat und Religion bedeutet, meint bei Marchart, eine strenge Trennung von Staat und allen anderen quasi-religiösen Fundamenten. Es dürfe keine Verhaltensforscher geben, die soziale Fragen aus tierischen Positionen des Menschen ableiten, keine neoliberalen Ökonomen, die alles mit den eisernen Gesetzen des Marktes beantworten, keine, wie Marchart sagt: „Kleriker des Fundamentalismus.“ Dann, so Marchart energisch, könne auch er behaupten, sei er, im Grunde genommen Etatist.

Am Ende bleiben zwei Fragen offen: Macht Marchart jetzt Republikanismus statt radikaler Demokratie? Die theoretische Offenheit letzterer will er jedenfalls nicht aufgeben, sie soll im kritischen Denken der Handelnden festgezurrt werden. Er nennt dies in einer fast schon adornisch anmutenden Geste eine demokratische Ethik der Selbstbefragung. Und schließlich: Was ist – und was bedeutet – radikal für Marchart oder wird hier nicht einfach die Radikalität durch einen „revolutionären“ Denker (Jameson) hineingetragen? Sein linkes Projekt, seine Idee der Demokratie, jedenfalls mutet wie ein prozessuales, extrem langwieriges, mühsames Vorgehen an, sie ermutigt, und sie ist demokratisch, weil von unten; aber sie macht gleichfalls - schauen wir uns die aktuellen Beteiligungen an ihr an - wenig Hoffnung auf einen schnellen Erfolg.

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Geschrieben von

Frederic Zauels

Politische Theorie

Frederic Zauels

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