Folgen des Libyenkriegs für andere Staaten

Islamischer Staat/Libyen. Eine der katastrophalen Folgen des Krieges gegen Libyen im Jahr 2011 war die Erstarkung des Terrorismus in mindestens 14 Ländern.

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Unter dem Titel „Wie Camerons Krieg in Libyen den Terrorismus in 14 Ländern Auftrieb gab“ veröffentlichte am 12. Augst 2019 Truepublica einen Artikel von Mark Curtis.

Mark Curtis schreibt: „Libyen ist acht Jahre nach dem NATO-Krieg in eine neue Konfliktphase eingetreten. Ich zählte mindestens 14 Länder, in denen der Terrorismus als unmittelbares Ergebnis dieses Krieges Auftrieb bekam. Die Hinterlassenschaft von David Cameron, Nicolas Sarkozy und Barack Obama, die den libyschen Führer Muammar Gaddafi stürzten, hatte für Europäer und Afrikaner schmerzliche Folgen. Trotzdem ist man so weit wie nie davon entfernt, diese Personen für ihre Entscheidung, gegen Libyen Krieg zu führen, zur Rechenschaft zu ziehen.“

Gebiete ohne Regierung

Der Krieg von 2011, in dem die Nato mit islamistischen Kräften vor Ort zusammenarbeitete, um Gaddafi zu beseitigen, hatte das Entstehen großer Gebiete zur Folge, die nicht mehr unter Kontrolle einer Regierung standen. Dafür waren Unmengen von Waffen im Umlauf. Der ideale Nährboden für terroristische Gruppen. Zunächst war aber Syrien an der Reihe.

Nachdem Anfang 2011 sowohl in Syrien als auch in Libyen ein Bürgerkriegs ausgebrochen war, entstanden in Libyen Ausbildungszentren für rund 3.000 Kämpfer, die auf dem Weg nach Syrien waren, um sich dem Islamischen Staat Katibat al-Battar al-Libi (KBL) anzuschließen, der von libyschen Militanten gegründet worden war.

In Libyen selbst wurden Mitte 2014 nahe der Stadt Derna al-Kaida nahe Gruppen zum ersten offiziellen Ableger des Islamischen Staates im Land, zu dem auch Mitglieder der KBL gehörten. 2015 führte der IS in Libyen Autobombenanschläge und Enthauptungen durch und konnte die territoriale Kontrolle über Teile von Derna und Bengasi im Osten und Sabratha im Westen erringen. In der in der nördlichen Mitte Libyens gelegenen Stadt Sirte, in der sich bis zu 5.000 IS-Kämpfer aufhielten, konnte er eine Art Regierung etablieren.

Ende 2016 war der IS in Libyen hauptsächlich aufgrund von US-Luftangriffen aus diesen Gebieten vertrieben. Allerdings konnte er sich in die Wüstengebiete südlich von Sirte zurückziehen, um von dort seine Angriffe fortzusetzen. In den letzten beiden Jahren hat der IS wieder an Schlagkraft gewonnen und führte Angriffe auf staatliche Institutionen und in den südwestlichen libyschen Saharagebieten durch. Dies wurde auch von UN-Sondergesandten für Libyen, Ghassan Salamé, bestätigt.

Terror in Europa

Nach dem Sturz Gaddafis errichtete der libysche IS in der Nähe der Stadt Sabratha Trainingslager, die mit einer Reihe von Terroranschlägen in Zusammenhang stehen. „In Europa begann das größte Blutvergießen durch Waffen und Bomben, nachdem Katibat al-Battar nach Libyen zurückkehrt war“, so Cameron Colquhoun, ein ehemaliger Anti-Terror-Spezialist der britischen Regierung, in einem Interview mit der New York Times. „Hier nahm die Gefährdung Europas ihren Anfang – als diese Männer nach Libyen zurückkehrten und sich dort frei bewegen konnten.“

Salman Abedi, der 2017 bei einem Popkonzert in Manchester 22 Menschen in die Luft jagte, traf sich in Sabratha mehrmals mit IS-Mitgliedern der Gruppe Katibat al-Battar al-Libi. Vermutlich wurde er dort auch ausgebildet. Zur KBL gehörten auch Abdelhamid Abaoud, 2015 in Paris Rädelsführer bei dem Attentat im Nachtclub Bataclan und dem Angriff auf das Sportstadion. Dabei kamen 130 Menschen ums Leben. Der KBL war 2016 auch an der Verviers-Verschwörung in Belgien beteiligt. Ebenso hatte Amis Amri, der Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt, Kontakte zu Libyern, die mit dem IS in Verbindung standen. In Berlin starben 2016 zwölf Menschen. Und auch in Italien bestanden Verbindungen zwischen dortigen terroristischen Aktivitäten und dem libyschen IS: Bei dem Anschlag auf das Bardo-Museum in Tunis, bei dem 22 Menschen getötet wurden, waren mehrere Personen beteiligt, die ihren Wohnsitz in Italien hatten.

Libyens Nachbarn

2015 kam es in Tunesien zu einem schrecklichen Terroranschlag, als ein 23-jähriger Tunesier im Ferienort Port El Kantaoui 38 Touristen mit einem Maschinengewehr niedermähte. Wie bekannt wurde, war der Täter IS-Anhänger und war wie Salman Abedi im IS-Schulungslager von Sabratha trainiert worden, wo auch die Planung des Anschlags durchgeführt worden war.

Auch Libyens Nachbar im Osten, Ägypten, wurde vom libyschen Terrorismus heimgesucht. IS-Leute in Libyen standen mit der Terroristengruppe Wilayat Sinai, ehemals bekannt als Ansar Bayt al-Maqdis, in Verbindung und führten vermutlich das Kommando bei mehreren tödlichen Attentaten in Ägypten. Nach dem Fall von Gaddafi wurde die westliche Sahara zur Schmuggelroute für Waffen und Kämpfer, die in den Sinai wollten. Ägypten flog 2015, 2016 und 2017 in Libyen Luftangriffe auf Stützpunkte von Militanten. 2017 war der Anlass die Ermordung von 29 koptischen Christen in der Nähe von Kairo.

Die Sahel-Länder

Libyen ist aber auch zu einer Drehscheibe für Dschihadisten geworden, die sich in Richtung Süden, in der Sahelzone, ausgebreitet haben. 2011 ergossen sich Unmengen von Waffen von Libyen in den Norden Malis. Stammeskonflikte, die ihren Ursprung in den 1960er Jahren hatten, wurden neu entfacht. Bis 2012 hatten lokale Verbündete von Al-Kaida im Islamischen Maghreb (AQIM) die Verwaltung in den nordmalischen Städten Gao, Kidal und Timbuktu übernommen. Nachdem Frankreich militärisch in Mali interveniert hatte, verlegten mehrere der dschihadistischen Gruppen ihre operativen Zentren nach Libyen, das einen rechtsfreien Raum bot. Gruppen wie AQIM und al-Mourabtoun konnten so leichter an Waffen gelangen.

Von Libyen aus hatte im Januar 2013 al-Mourabitoun unter Führung von Mokhtar Belmoktar den Angriff auf die Kohlenwasserstoffanlagen von Amenas (Ostalgerien) verübt, bei dem 40 ausländische Mitarbeiter ums Leben kamen. Auf das gleiche Konto gingen die Schüsse auf das Radisson Blu Hotel in Bamako (Mali) im November 2015 mit 22 Toten und der Angriff auf das Hotel Splendid in Ouagadougou (Burkina Faso), bei dem im Januar 2016 zwanzig Menschen getötet wurden. Al-Mourabitoun griff auch eine Militärakademie und eine in französischem Besitz befindliche Uranmine in Niger an.

Folgen einer katastrophalen Außenpolitik

Der Krieg gegen Libyen hatte jedoch noch weitreichendere Auswirkungen. 2016 sahen US-Beamte Anzeichen dafür, dass die in Nigeria für zahlreiche brutale Angriffe und Entführungen verantwortliche Dschihadistengruppe Boko Haram Kämpfer nach Libyen entsandte, damit sie sich dem dortigen IS anschließen. Die beiden Gruppen schienen ihre Zusammenarbeit auszubauen. Die International Crisis Group vermerkt, dass erst die Waffen und das Fachwissen aus Libyen und der Sahelzone Boko Haram den Aufstieg ermöglichten, deren Anschläge noch heute den Nordwesten Nigerias heimsuchen.

Zusätzlich zu diesen 14 Staaten kommen noch die Länder, aus denen Kämpfer nach Libyen kamen, um sich dem IS anzuschließen. Nach Schätzungen sind fast 80 Prozent der IS-Mitglieder in Libyen keine Libyer, sondern kommen aus anderen Ländern wie Kenia, dem Tschad, dem Senegal und dem Sudan. Nachdem sie in Libyen militärisch ausgebildet wurden, könnten sie in ihre Heimatländer zurückkehren und dort zur Gefahr werden.

Man sollte sich das echte Ausmaß der Auswirkungen des Libyen-Krieges klarmachen: Er hat zur Erstarkung des Terrorismus in Syrien, Europa, Nordafrika und Subsahara-Afrika geführt. Obwohl der Islamische Staat in Syrien und im Irak fast besiegt ist, ist er noch lange nicht tot. Während westliche Politiker versuchen, den Terrorismus an manchen Orten militärisch zu besiegen, haben ihre katastrophalen außenpolitischen Entscheidungen ihn an anderen Orten erst angefacht.

Mark Curtis ist Autor, Historiker und Journalist. Er war ehemaliger Research Fellow am Royal Institute of International Affairs (Chatham House) und Honorary Research Fellow an der University of Strathclyde. Sein neuestes Buch erschien unter dem Titel: „Secret Affairs: Britain’s Collusion with Radical Islam“

https://truepublica.org.uk/united-kingdom/how-camerons-war-in-libya-has-spurred-terrorism-in-14-countries/

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Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

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