Schwere Kämpfe in Libyen

Zur Situation - ein Interview mit Mohammed Al-Fatah

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Mohammed Al-Fatah (55) ist in Tripolis geboren und aufgewachsen. Er gehört sowohl dem Warfala- als auch dem Gaddafi-Stamm an. Zur Zeit des Umsturzes arbeitete er in Europa, wo er sich auch heute aufhält. Einige seiner Familienmitglieder kamen bei Kämpfen gegen die Milizen ums Leben.

Frage: „Herr Al-Fatah, wie stellt sich heute die Lage in Libyen dar?“

Al-Fatah: „Die Stämme (sprich der „Ältestenrat“) sind dabei, die Oberhand zu gewinnen und Tripolis, Bengasi, Tobruk und andere Städte von den Milizen der Al-Kaida, der Ansar-Sharia, der Moslem-Bruderschaft und des Misrata Clans zu säubern. Alles in allem gibt es in Libyen etwa 250 Milizen. Misrata kann sich immer noch halten, hat aber schwere Verluste hinnehmen müssen. Der Krieg ist voll im Gange und ich kann nicht voraussagen, wer ihn gewinnen wird. Aber nach meinen Informationen rücken die Stämme schnell vor.“

Frage: „Die schwersten Kämpfe scheinen im Moment in Tripolis und Bengasi stattzufinden. Wie ist die Situation für die Bevölkerung dort?“

Al-Fatah: „Neunzig Prozent der Bevölkerung haben sich den Stämmen angeschlossen und helfen mit das Durcheinander zu beseitigen, das die NATO hinterlassen hat.“

Frage: „In Bengasi und Tripolis stehen Truppen von al-Haftar gegen islamische Kämpfer. Wer ist al-Haftar? Ist er ein Freund der USA? Hat er bei der Bevölkerung Rückhalt?“

Al-Fatah: „Haftar ist ein Mann der CIA. Wir haben ihn einige Zeit unterstützt, weil wir wussten, dass er von der CIA finanziert wird und wir alle Hilfe benötigten, die wir bekommen konnten. Unglücklicherweise ist Haftar militärisch nicht besonders erfolgreich gegen die oben aufgeführten Milizen vorgegangen. Er hat sich eher feige verhalten und ist bei schweren Kämpfen mehrmals geflohen. Er hat wirklich nicht unsere Unterstützung. Er war für uns ein Mittel zum Zweck. Dieser Mann hat oft gegen Libyen gehandelt. Seine Söhne haben einer unserer Banken über eine Million Dinar gestohlen. Dieser Vorfall ereignete sich 2012. So etwas vergisst man nicht. Haftar wollte immer Gaddafi stürzen, um an unsere Ressourcen zu kommen. Das libysche Volk interessierte ihn nicht. Die CIA wusste das und benutzte ihn mehrmals, um Gaddafi zu stürzen, zuletzt beim sogenannten jüdisch-arabischen Frühling. Jetzt hat Haftar keine Truppen mehr. Diese haben sich den Stämmen angeschlossen.“

Frage: „Woher kommen die islamischen Kämpfer? Von wem haben sie ihre Waffen?“

Al-Fatah: „Die islamischen Kämpfer, wie Sie sie nennen, sind schlichtweg Söldner, angeheuert, trainiert und bezahlt von Katar, Saudi Arabien und der Türkei, auf Veranlassung der USA. Diese Söldner werden in Libyen eingesetzt, so zum Beispiel 2011, als sie die Bombardierung durch die Nato durchsetzten. Ihr Gehalt beträgt etwa zweitausend Dollar im Monat und sie bekommen etwa dreihundert Euro für jede getötete Person oder jeden abgeschnittenen Kopf. Auch die Waffen werden von den USA über Katar, Saudi Arabien und die Türkei geliefert.“

Frage: „Das neu gewählte Parlament hat sich gerade in Tobruk getroffen. Es hat die Vereinten Nationen um Hilfe angerufen. Welche Art von Hilfe könnte das sein? Was halten Sie davon? Hat das Parlament die Unterstützung des libyschen Volkes?“

Al-Fatah: „Das sogenannte Parlament in Tobruk ist der verlängerte Arm Amerikas, der die Muslimbruderschaft, Ansar Sharia, den Misrata Clan und Al Kaida umfasst. Es möchte die Nato dazu bringen zu intervenieren, um Libyen wieder unter seine Kontrolle zu bekommen. Gottseidank können sie nichts ausrichten, da die Resolution 73 [Anm.d.Ü.: von 2011 - Einrichtung einer Flugverbotszone etc.] ausgelaufen ist und die Nato im Moment vollauf mit der Ukraine beschäftigt ist. Und selbst wenn es versuchen sollte, eine neue Resolution zustande zu bringen, würden Russland, China, Indien und die lateinamerikanischen Staaten „nein“ dazu sagen, da sie sich nicht ein zweites Mal zum Narren halten ließen. Dieses Parlament schert sich nicht um die libysche Zivilbevölkerung. Ich persönlich erkenne es nicht als rechtmäßig gewählt an und ich denke, die Stämme würden es auch nicht anerkennen, falls man ihnen diese Frage stellte.“

Frage: „Wie ist der neu gewählte Parlamentspräsident Aguila Salah Issa einzuschätzen?“

Al-Fatah: „Niemand in Libyen kennt den Mann…“

Frage: „Was geschieht gerade in den anderen libyschen Städten? Wie muss man sich das Leben dort vorstellen? Und was passiert auf dem Land?“

Al-Fatah: „Im Moment sind Tripolis, Bengasi, Tobruk, Sebha, Misrata und Derna die Hauptbrennpunkte. Im restlichen Libyen ist es ruhiger, aber manchmal flammt es auch dort auf. Im Moment liegt unser Schwerpunkt darin, Tripolis und Bengasi von Extremisten zu säubern und den Hafen von Misrata und dessen Einwohner – die Hauptfeinde der libyschen Bevölkerung – zu isolieren. Anschließend sollen die restlichen kleineren Städte gesichert werden. Augenblicklich hat ganz Libyen ein Problem mit Bargeld, da die Zentralbank von Tripolis geschlossen ist. Es gibt auch Probleme mit Benzin, Elektrizität, Wasser und Telefon, die wir mittels Rationierung zu managen versuchen. Am härtesten sind Stromausfälle, die über acht Stunden andauern, da die sommerliche Hitze der libyschen Bevölkerung schwer zu schaffen macht. Für all diese Leiden machen wir die Leute des Misrata Clans verantwortlich, die den Krieg gegen Tripolis in der Mitte des Fastenmonats Ramadan begonnen haben. Ein Treffer setzte die Öltanks am Flughafen von Tripolis in Brand. Dies führte zu einer entsetzlichen Luftverschmutzung, zur Beschädigung der elektrischen Leitungen und vielem mehr – die dadurch ausgelöste Katastrophe ist unverzeihlich.“

Frage: „Die Stämme in Libyen sind sehr mächtig. Kämpfen Stämme gegeneinander oder welche Koalitionen zwischen ihnen gibt es?“

Al-Fatah: „Alle Stämme haben sich zusammengeschlossen und kämpfen jetzt gegen den Misrata Clan, gegen Zliten und die Garian-Stämme. Es handelt sich dabei um Minderheiten, die aber von den USA, der Moslembruderschaft, al-Kaida, Dash [Anm.d.Ü.: eine libysch-islamische Kämpfertruppe], al-Nasra Sharaia über Katar, Saudi Arabien und die Türkei finanziert werden. Um die Situation wirklich zu verstehen, muss man einige Zeit in Libyen gelebt haben. Der größte Stamm sind die Warfala mit über zwei Millionen Menschen, gefolgt von den Rishvana mit etwa der gleichen Anzahl an Menschen, dann erst folgen die anderen Stämme wie beispielsweise der Zintan-Stamm, der bekannt ist für seine Kampfeskraft, aber nur 500.000 Menschen umfasst.“

Frage: „Wie stellt sich die Situation im Süden Libyens, in der Sahara dar?“

Al-Fatah: „Dort herrschen der Grüne Widerstand [Anm.d.Ü.: Anhänger von Gaddafi und der Dschamahirija/Volksrepublik] und die Stämme.“

Frage: „Wie haben sich die Tuareg und die Tibu in Libyen positioniert?“

Al-Fatah: „Sie haben sich den Stämmen angeschlossen und kämpfen mit uns für die Befreiung Libyens.“

Frage: „Wie sieht es in den Städten Bani Walid und Sirte aus?" [Anm. d.Ü.: Diese Städte waren bis zuletzt Gaddafi-treu]

Al-Fatah: „Bis 2011, also vor dem Krieg, waren beide Städte Perlen Libyens. Heute sind diese Städte zerstört und erinnern stark an Gaza. Sie wurden mit abgereichertem Uran, weißem Phosphor und Sarin bombardiert. Die Vereinten Nationen taten nichts, um die Zivilbevölkerung zu schützen! Aber die Menschen leben immer noch dort.“

Frage: „Gibt es den Grünen Widerstand in Libyen noch? Was halten die Menschen in Libyen vom Grünen Widerstand?“

Al-Fatah: „Ja, es gibt den Grünen Widerstand, es gab ihn von Anfang an. Wir haben auf unserem Weg so lange gekämpft bis wir die größten Stämme überzeugen konnten, sich uns anzuschließen und aktiv zu werden. Wir mussten uns die ersten zwei Jahre neu organisieren, da über zwei Millionen von uns ins Exil gegangen waren. Das brauchte Zeit. Wir mussten auch einen Ort finden, den ich nicht nennen darf, an dem wir dann nach nur wenigen Monaten alle Stämme (Ältestenrat) um den Tisch versammeln konnten, um mit den Planungen zur Rückeroberung Libyens zu beginnen. Die Resultate sehen wir jetzt. Selbstverständlich führte der Grüne Widerstand bereits seit Oktober 2011 Sabotageakte aus, befreite Gefangene, übernahm den Süden Libyens sowie Sebha und einige Ölhäfen.“

Frage: „Sind noch viele Menschen aus Schwarzafrika in Libyen? Wie geht es ihnen dort?“

Al-Fatah: „Es gab schon immer schwarze Libyer in Libyen. So sind zum Beispiel im Fezzan die meisten Menschen dunkelhäutiger als jene in Tripolis oder Bengasi. Das Leben ist für sie soweit o.k., soweit auch nicht, wie für alle anderen Libyer auch.“

Frage: „Es heißt, zwei Millionen Libyer sind außer Landes geflohen. Wohin hat es sie verschlagen und wie leben sie?“

Al-Fatah: „Das ist ein Drittel der Bevölkerung! Über 3,5 Millionen wurden gezwungen, ins Exil zu gehen, davon sind über zwei Millionen in Tunesien, 1,5 Millionen in Ägypten und die restlichen in Europa. Bis vor wenigen Tagen hatten wir auch über 100.000 Gefangene. Davon wurden 82.000 befreit. 18.000 sind immer noch in Misrata und Tripolis in Gefängnissen, die vom Misrata Clan kontrolliert werden.“

Frage: „Was sieht es auf den libyschen Ölfeldern aus? Wer kontrolliert sie? Wer verkauft das Öl und wer verdient damit?“

Al-Fatah: „Die meisten Ölfelder werden von den Stämmen kontrolliert. Wir verkaufen sehr wenig Öl an China und Russland. Ich glaube, das meiste brauchen wir für den eigenen Bedarf.“

Frage: „Gibt es noch fremde Kräfte im Land selbst? Von woher?“

Al-Fatah: „Fremde Kräfte, von denen ich weiß, kommen aus Katar, Dash, Türkei, Syrien, Tunesien. Das sind alles Söldner, die dem Misrata Clan unterstehen.“

Frage: „Wie sind die Vorgänge in Libyen einzuordnen im Kontext zu den anderen arabischen Ländern wie Irak, Syrien, Palestina, Ägypten etc.?“

Al-Fatah: „Diese Frage verstehe ich nicht. Aber wenn Sie die Kriege in Palästina/Gaza, Syrien, Irak und der Ukraine meinen, sind wir natürlich darüber unglücklich. Allerdings gaben uns diese Kriege die Gelegenheit für Veränderungen in Libyen. Ich meine damit, während die internationale Gemeinschaft und die westlichen Mächte versuchten, in diesen Ländern einen Umsturz herbeizuführen, wurde ihre Aufmerksamkeit von Libyen abgelenkt. Durch das Chaos, das in diesen Länder entstand, konnten wir uns um Libyen kümmern, ohne eine Intervention von Nato oder UN befürchten zu müssen.“

Frage: „Es gibt in Libyen einige interessante archäologische Stätten wie Leptis Magna und Sabratha. Wurden diese beschädigt? Und wie steht es um die berühmten prähistorischen Felszeichnungen in der Sahara?“

Al-Fatah: „Die archäologischen Stätten sind alle intakt, aber es wurden viele archäologische Gegenstände gestohlen und ins Ausland gebracht, ebenso wie der letzte Fund vor dem Krieg 2011, ein Abakus [Anm.d.Ü.: Deckplatte über Säulen im antiken Tempel].“

Frage: „Im Irak ist der Staat kollabiert und das Land bricht auseinander. Herrscht in Libyen jetzt eine ähnliche Situation?“

Al-Fatah: „Die Situation in Libyen ist eine völlig andere. Die Bevölkerung im Irak ist viel größer und die Stämme sind auseinander gebrochen – ein gieriger Ausverkauf hat stattgefunden. Libyen hat nicht diese Art von Bevölkerung. Wir sind nur sechs Millionen, das heißt nicht einmal mehr sechs Millionen, denn wir haben von Anfang des Krieges bis heute über 600.000 Menschen verloren. Unsere libyschen Stämme sind seit achttausend Jahren eng miteinander verflochten. Wir haben schlimmere Dinge als die, die jetzt geschehen, überlebt. Wir schauen auf die 42 Jahre der Gaddafi-Herrschaft zurück und darauf, was wir besaßen und was wir verloren haben. Wir verloren unsere Freiheit, unsere Würde, unseren Stolz, unseren Lebensunterhalt. Der Westen versuchte, uns zu kolonisieren und brachte eine diktatorische Demokratie mit westlichen Standards in unser Land. Er zwang uns extremistische Parteien auf, die wir vor über zwanzig Jahren abgeschafft hatten. 95 Prozent der libyschen Bevölkerung möchten den Zustand vor dem Krieg 2011 wieder herstellen und das werden wir erreichen. Deshalb glaube ich, dass wir uns sehr vom Irak unterscheiden. Die Irakis liebten ihren Führer nicht, aber die Libyer liebten Gaddafi. Das haben sie mit ihrem Marsch der zwei Millionen in Tripolis im Juli 2011 gezeigt. Die westlichen Medien entschieden sich, diesen Marsch bei ihrer Berichterstattung zu ignorieren. Ich zitiere Abdu Jalil, der sich im Mai 2014 in einem Interview im Sender Arabia wie folgt äußerte: „Gaddafi gab niemals den Befehl, Demonstranten zu töten. Das taten Scharfschützen aus dem Westen (F.UK.US): Frankreich, United Kingdom und USA. Die Getöteten, die wir vorzeigten, waren Ausländer, die wir in libysche Kleidung gesteckt hatten. Niemand forderte sie zurück. Ich wusste von dem Plan als ich noch in Gaddafis Regierung war, aber zu dieser Zeit konnte ich nichts sagen. Doch das war der Plan und wir mussten ihn ausführen.“ Wenn dies alles bereits 2011 bekannt geworden wäre, hätten die internationale Gemeinschaft und die UN die Resolution 73 nicht durchsetzen können. Sogar al-Haftar sagte in einem Interview mit Al Arabia: „Die al-Fatah-Revolution war eine echte Revolution und Gaddafi war der wahre Führer aller Libyer. Was wir jetzt haben ist eine Invasion.“

Frage: „Was wünschen Sie sich für Ihr Land?“

Al-Fatah: „Ich wünsche für mein Land, dass wir wieder dorthin kommen, wo wir 2011 vor dem illegalen Krieg waren, mit nur sehr wenigen Änderungen. Was wir hatten, war eine echte Demokratie, auch wenn der Westen das nicht so sah. Wohnen war kostenfrei, ebenso die Gesundheitsfürsorge und der Besuch von Schulen und Universitäten. Wir mussten nur einmal im Jahr Instandhaltungsgebühren für Strom und Wasser bezahlen, für beides zusammen nicht mehr als hundert Euro. Wir hatten kostenfrei Wasser und Strom, etwas das der Westen nicht hat. Wir mussten keine Einkommenssteuer bezahlen, nur Geschäfte und Unternehmen zahlten Steuern. Kredite von Banken waren zinsfrei. Libysche Frauen hatten die gleiche Rechte wie Männer. Nahrungsmittel unterlagen keiner Steuer. Wir hatten keine Obdachlosen. Die Armutsrate lag unter fünf Prozent (nach UN-Standards). Und noch vieles mehr. Von alldem blieb uns nichts. Deshalb glaube ich ganz fest daran, dass die Stämme zusammen mit dem Grünen Widerstand all diese Vorteile, die wir hatten, zurückholen können und vielleicht noch mehr.“

Frage: „Wie wird das alles Ihrer Meinung nach enden?“

Al-Fatah: „ Nun, ich hoffe, es wird mit unserem Sieg enden und unserem Land den dringend benötigten Frieden, Stabilität und Sicherheit bringen. Gott allein weiß, wie dieser Krieg ausgehen wird. Ich kann nur Vermutungen anstellen und hoffen, dass alles gut wird.“

Interview: Angelika Gutsche - aus dem Englischen: Angelika Gutsche
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

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