Tristesse im Dolce-Vita-Land

Bari. Impressionen aus Süditalien.

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Es ist Oktober, noch früh am Abend, und ich sitze im orange-roten Bus, der vom Flughafen zu dem im Stadtzentrum gelegenen Bahnhof von Bari fährt. Der Fahrtweg des Busses der Linie 16 führt über Brachland und durch trostlose Neubauviertel Richtung Innenstadt. Die Fahrt dauert eine knappe Stunde, der Fahrpreis beträgt einen Euro. Es gibt auch einen Luxusbus, der Plüschsessel und einen extra Gepäckraum bietet und die Reisenden ohne Zwischenstopps vom Flughafen zum Bahnhof befördert, trotzdem aber nicht viel schneller als der 16er ist und der vier 4 Euro kostet. Ich ziehe den 16er vor.

Noch während wir von Haltestelle zu Haltestelle durch die Vororte zuckeln und der Bus sich langsam mit Fahrgästen füllt, verdunkelt sich der Himmel und öffnet, nach nur kurzem Vorspiel mit vereinzelten schweren Tropfen, seine Schleusen. Ein brutaler Wolkenbruch ergießt sich über die Stadt. Der Bus fährt nur noch Schritttempo. Es schüttet in Strömen. Gesprächsfetzen der Mitfahrenden dringen an mein Ohr und ich wundere mich mal wieder, dass ich verstehe, was gesprochen wird. Italienisch ist mir nicht nur nicht mehr fremd, sondern vertraut. Nicht nur die Sprache erscheint mir inzwischen vertraut, auch die Stadt Bari mit ihren Parks und Geschäften, Bars und Restaurants, Gerüchen und Menschen. Ich bin wieder zurück in meiner zweiten Heimat, Apulien.

Der Bus nähert sich dem Stadtzentrum. Die Straßen sind zunehmend gesäumt von hell erleuchteten Läden, Geschäften und Bars. Als der Bus an einer roten Ampel hält, kann ich ein Schild über der Verkaufstheke eines Ladens entziffern: Kredit wird nicht gewährt! Noch immer prasseln von oben wahre Sturzfluten herab. Blitze zucken über den Himmel auf die in nur kurzen Abständen krachende Donnerschläge folgen. Auf den Straßen ist niemand mehr unterwegs. Die Kanalisation kann die Wassermassen nicht mehr fassen. Aus den Gullys sprudeln kleine Geysire und spucken das Wasser zurück auf die Fahrbahn. Wenn die Straße durch eine kleine Senke führt, sammelt sich darin das Regenwasser. Die Ladenbesitzer versuchen mehr oder weniger erfolgreich, das in die Geschäftsräume laufende Wasser mit Besen wieder nach draußen zu kehren. Die Gespräche im Bus sind verstummt. Alle beobachten durch die beschlagenen Scheiben des Busses das sich darbietende Wetterspektakel. Dann endlich lassen die Schauer nach.

Wie verschieden ist diese abendlich-regennasse Welt von Bari zu der Glitzerwelt, die ich gerade verlassen habe! Der Edel-Airport München Zwei, der mich mit seinem in unverstellbaren Überfluss dargebotenen Luxusgütern geradezu erschlagen hat, erscheint weiter entfernt als nur die eineinhalb Flugstunden, die München von Bari trennen. Er liegt in einer anderen Welt.

Der Bus hält am Bahnhof. Es tröpfelt nur mehr leicht. Das kleine Handgepäck hinter mir herziehend suche ich den Eingang zur Haupthalle mit den Fahrkartenschaltern. Seit ich mich erinnern kann, befindet sich dieser Bahnhof im Zustand einer Baustelle. Ich folge dem Menschenpulk und erreiche endlich die Schalterhalle. Hier in der stazione centrale sind die Härten der rauen sozialen Wirklichkeit, die viele Menschen in Süditalien inzwischen getroffen hat, unübersehbar. Wie in jeder Stadt zeigt sich auch hier am Bahnhof von Bari das Gegenbild zu einer vorgegaukelten künstlichen Welt des fröhlichen Konsumierens, fokusieren sich Armut und Elend, finden sich gestrandete Gestalten und heimatlose Emigranten.

Ich muss an die große Demonstration denken, die am letzten Wochenende in Rom stattgefunden hat. Siebzigtausend Menschen waren den Aufrufen der Gewerkschaften gefolgt und sind gegen die Sparpolitik der Regierung Letta auf die Straße gegangen. Dabei flogen auch Eier und Feuerwerkskörper auf das Finanzministerium. Erst letzte Woche war mit dem Haushaltsentwurf für das Jahr 2014 ein Stabilitätsgesetz verabschiedet worden, das während der nächsten drei Jahre Steuerentlastungen für die Wirtschaft, nett umschrieben mit „Wachstumsimpulsen“, in Höhe von 14, 6 Milliarden Euro vorsieht. Die Gegenfinanzierung soll durch Privatisierungen, die 3,2 Milliarden Euro bringen sollen, und durch Ausgabenkürzungen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro erfolgen, die vor allem den sozialen Bereich betreffen werden. Insgesamt sind im Jahr 2014 Einsparungen im öffentlichen Bereich in Höhe von 11,6 Milliarden Euro vorgesehen. 1

Eine lange Schlange hat sich an dem Schalter, über dem das Wort biglietti steht, gebildet. Ich reihe mich ein. Es geht sehr langsam vorwärts. Auf einer Anzeigentafel entdecke ich, dass die Abfahrt des nächsten Zuges in Richtung Lecce schon in zehn Minuten erfolgen soll! Diesen Zug erreiche ich niemals bei dem Schneckentempo, in dem es hier am Schalter vorwärts geht. Es gibt auch Fahrkartenautomaten. Leider habe ich für Fahrkartenautomaten einfach kein Talent. Es bereitet mir schon Probleme, mich durch die Menüführung des Automaten am Münchner Hauptbahnhof zu kämpfen. Und vielleicht gibt es hier eine Menüführung nur in italienischer Sprache? Und wo ist überhaupt meine Lesebrille? Soll ich es wagen, meinen Platz in der Schlange zu verlassen, um mich auf ein Abenteuer mit einem italienischen Fahrkartenautomaten einzulassen? Unentschlossen blicke ich umher. Ein junger Mann, ordentlich und in Jeans gekleidet, hat meinen Blick aufgefangen und spricht mich auf Italienisch an. Ob er mir behilflich sein soll, das Ticket am Automaten zu lösen? Aber ja, doch, gern! Erleichtert verlasse ich die Warteschlange und folge ihm zu den Automaten.

Wohin ich will? Nach Ostuni. Er nickt. Zack, zack, zack: Schnell hüpfen seine Finger über die Tastatur. Gleis 8, 19.35 Uhr, teilt er mir mit. Ja, da passt! Jetzt soll ich zahlen. Nachdem ich eine Fünfzig-Euro-Note in den Automaten gesteckt habe, bekomme ich vierzig Euro plus Kleingeld zurück. Während ich die Scheine an mich nehme, nimmt der Mann die Fahrkarte aus dem Automaten und drückt sie mir in die Hand. Dann fragt er, ob er Kleingeld für Kaffee bekommen kann. Ja, das kann er. Er soll die Wechselgeldmünzen behalten. Später sehe ich, dass der Fahrpreis nur 5,80 Euro betrug. Er hat ein gutes Geschäft gemacht. Armut macht erfinderisch. Dieser junge Mann hat sich einen neuen Job kreiert; die Jugendarbeitslosenquote in Apulien von 41,5 Prozent2 macht erfinderisch.

Durch eine enge, schlecht beleuchtete Unterführung ereiche ich mein binario 8. Die Nässe glitzert auf dem dunklen Bahnsteig und den Gleisen, Lichter spiegeln sich in den Regenpfützen. Vermummte Gestalten lungern herum. Einige betteln. Schwarze versuchen, Nippes, den sie in Bauchkästen vor sich hertragen, an den Mann oder die Frau zu bringen. Der Bahnhof und seine Anlagen sind heruntergekommen, aber wenigstens gibt es hier noch Bänke, auf die man sich setzen und auf die Ankunft seines Zuges warten kann. In München sind Wartebänke fast vollkommen abgeschafft. Die Leute sollen schließlich die Gastronomie aufsuchen und konsumieren. Viele der Menschen, die jetzt mit mir auf den Zug warten, könnten sich das wahrscheinlich gar nicht leisten. Die meisten sind schäbig gekleidet, die Älteren unter ihnen haben müde, bäuerliche Gesichter. Viele der Jüngeren, vor allem die Mädchen, sind billig aufgemacht. Das Aussehen der Menschen lässt nicht direkt auf Armut schließen, sondern auf ein einfaches Leben. Die ganze Szenerie könnte aus einem Film noir der fünfziger Jahre stammen.

Jeden der Wartenden wird die neu beschlossene Mehrwertsteuererhöhung treffen, die in den letzten Tagen zu landesweiten Streiks geführt hat. Immer wieder werde ich gefragt, warum in Italien Berlusconi noch so beliebt ist. Vielleicht weil er bei den letzten Koalitionsverhandlungen festschreiben ließ, dass eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgeschlossen wird? Gerade drohte Berlusconi mit dem Rücktritt seiner fünf Minister und dem Bruch der Koalition, da entgegen der Absprachen die Regierung Letta nach einem Besuch von Olli Rehm, dem EU-Wirtschaftskommissar, beschloss, die Mehrwertsteuer um ein Prozent auf 22 Prozent zu erhöhen (zum Vergleich: in Deutschland beträgt die Mehrwertsteuer 19 Prozent). Zwischenzeitlich wurde die Erhöhung auf ein halbes Prozent reduziert. Ob sich davon die Demonstranten, die seit Sonntag in Rom ein Protestcamp errichtet haben, besänftigen lassen? Beppe Grillo fordert Neuwahlen.

Mein Zug fährt ein. Die Bremsen kreischen. Ich klettere mit den anderen Fahrgästen in die Waggons. Im grellen Licht der Neonbeleuchtung wirken die einfach ausgestatteten Abteile trist. Der Zugführer pfeift, ratternd setzt sich der Zug in Bewegung und fährt in die Nacht.

1http://derstandard.at/1381368826725/Homoeopathische-Kur-fuer-Italiens-Wirtschaft

http://www.tagesschau.de/ausland/portugal432.html

2http://www.livejournal.it/disoccupazione-puglia-balzo-5jy3

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Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

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