Am 25. August beschloss das Stadtparlament von Kiew, 95 Straßen, Gassen und Plätze in Kiew umzubenennen. Die Hauptstadt der Ukraine hat viele Probleme, die noch aus der Zeit vor dem Krieg stammen: den kritischen Zustand der Infrastruktur, schlechte Straßen, chaotische Bautätigkeit, fehlende Kindergärten, Schulen und Kliniken in neuen Stadtvierteln und eine problematische Umweltsituation. Der Krieg verschärfte diese Probleme nur. Im Winter werden auch in Kiew Heizengpässe erwartet. Es fehlen Bombenschutzbunker und es herrscht große Unsicherheit, was das kommende Schuljahr betrifft. Doch das Kiewer Stadtparlament hielt die Umbenennung der Straßen für nicht weniger dringend.
Die Dringlichkeit scheint unstrittig: Die Vertreter der Stadt wollen möglichst alle Ortsbezeichnungen entfernen, die mit dem Aggressor Russland verbunden sind, insbesondere solche, die an die Sowjet- oder die Zarenzeit erinnern. Russische Ortsnamen ebenso wie die Namen russischer Wissenschaftlerinnen, Schriftsteller, Komponistinnen und Helden sollen verschwinden und durch ukrainische Bezeichnungen oder durch die Namen von Leuten ersetzt werden, die als akzeptabel gelten.
Formal gesehen ist das Ganze ein demokratischer Prozess: Die Einwohner von Kiew wurden aufgefordert, über ein elektronisches System darüber zu entscheiden. Innerhalb rund eines Monats nutzten angeblich 6,5 Millionen Bürger:innen diese Gelegenheit – was zweimal die Bevölkerung von Kiew ausmacht, Kinder und Kleinkinder eingeschlossen. In der Praxis können die Organisatoren die öffentliche Meinung auch einfach ignorieren. Das Ergebnis ist vorhersehbar: Der Leiter der „Arbeitsgruppe“, die die Vorschläge unterbreitet, ist Olexandr Alfiorow, der sich selbst als Journalist und Historiker bezeichnet und Öffentlichkeitschef der ultrarechten Partei „Nationaler Korpus“ ist. Erwartungsgemäß wird die Karte von Kiew demnächst mit Namen nationalistischer Helden geschmückt sein.
Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, bezeichnete die Umbenennung als „einen wichtigen Schritt hin zur Verringerung der wahnhaften Manipulation und des Einflusses des russischen Angreifers auf die Interpretation unserer Geschichte“. Allerdings erklärte er nicht, wie etwa die Streichung der Namen des Mathematikers Nikolai Lobatschewski, des Dichters und führenden Vertreters des russischen Futurismus Wladimir Majakowski, des Schriftstellers Theodor Dreiser sowie von Karl Marx dabei helfen werden, Russlands Einfluss zu verringern.
Die neue Welle der Umbenennung könnte als Weiterführung der Politik der Dekommunisierung – also der Abschaffung der Überreste des Kommunismus – verstanden werden, die 2014 – 2019 von den gleichen Initiatoren angestoßen und umgesetzt wurde. Aber der neue politische Vorstoß findet auch wieder vor dem Hintergrund russischer Aggression statt, die Ressentiments auslöst. Wieder nutzen die Vertreter ultrarechter Organisationen den Fall für ihre Selbstdarstellung und politische Werbung. Wieder wird die Umbenennungskampagne missbraucht, um die öffentliche Aufmerksamkeit von den alten und neuen, oben angesprochenen Problemen abzulenken. Zudem wird dieses Zelebrieren historischer Gerechtigkeit allzu gern von der russischen Propaganda für ihre Zwecke aufgegriffen werden. Rund 200 weitere Namen von Orten sollen ersetzt werden, darunter der von Friedrich Engels –vermutlich weil er als Agent des russischen Imperialismus betrachtet wird.
Die öffentliche Diskussion ist indes nicht einstimmig. Viele unterstützen die Entrussifizierung des öffentlichen Raums natürlich, was angesichts des schrecklichen Schattens verständlich ist, den der russische Krieg auf die Ukraine wirft: Moskauer Straße in Kiew klingt jetzt sehr merkwürdig. Allerdings kritisieren viele Stimmen das Vorgehen auch als zu extrem, etwa wenn der Teil der russischen Kultur betroffen ist, der zur ukrainischen Geschichte gehört, es sind dies eher die Vertreter eines verschwindenden liberalen Bürgertums. Eine unklare Zahl von Bürger:innen steht der Initiative gleichgültig gegenüber. Eine Tendenz ist allerdings leicht zu erkennen: Je weiter entfernt von der Front, desto größer ist das Engagement der Kämpfer für die Reinheit der topografischen Namensgebung. Die Sprache – Ukrainisch oder Russisch – spielt dabei notabene keine Rolle.
Die Show muss eben weitergehen: Kürzlich schlug der Nationale Schriftstellerverband mit Sitz in Kiew die Schließung des Museums im früheren Wohnhaus von Michail Bulgakow vor. Der weltbekannte russische Schriftsteller wurde vor der russischen Revolution in Kiew geboren und lebte auch dort. Kurz vor der Initiative zur Museumsschließung war schon die Erinnerungsplakette am Gebäude der Universität Kiew entfernt worden, an der Bulgakow Medizin studiert hatte. Der Satiriker sah die Unabhängigkeit der Ukraine 1918 – 1919 kritisch und machte sich mit Sarkasmus über die Extravaganzen der Nationenbildung lustig. Für seine heutigen Kolleg:innen macht ihn das zu einem anti-ukrainischen Autor. Der ukrainische Nationale Schriftstellerverband wurde 1934 von Stalin gegründet, der auch alles tat, um Bulgakow zu boykottieren.
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