Zehn Jahre sind vergangen, seit er dem Publikum letztmals Nachrichten aus der Welt der Träume und seiner Fantasie schickte. Im Kino ist das eine Ewigkeit. Ob man sich dem Zauber seiner filmischen Reisen seither nicht ein wenig entwöhnt hat? Den Animationsmeister Hayao Miyazaki fechten solche Zweifel nicht an. Er ist ein Mythos, dessen Verlockung ungebrochen scheint. Mit seinem neuen Film jedenfalls ist ihm ein spektakuläres Comeback gelungen: Obwohl ohne Werbung und Marketing gestartet, brach er beim Start daheim in Japan gar die Zuschauerrekorde von Miyazakis vorherigen Arbeiten.
Dieser Erfolg mag auch der Vermutung geschuldet sein, dass Der Junge und der Reiher sein letzter Kinofilm sein könnte. Ihn umgibt die Fama eines Vermächtnisses: Selbstbewusst zieht er die
wusst zieht er die Summe seiner thematischen und stilistischen Vorlieben, inklusive einer deutlich autobiografischen Grundierung. Der fast 83-Jährige erzählt von ersten und letzten Dingen, vom Ursprung des Lebens und vom Tod. Der Mythos ist intakt, aber in ihm bleibt auch Platz für Revision. Dem Film ist die Zeit des Innehaltens eingeschrieben, die der Produktion vorausging. Sein Titel stellt eine handelsübliche Geschichte in Aussicht, in der ein einsames Kind einen Spielkameraden findet. Von einer ungetrübten Freundschaft erzählt Miyazaki jedoch nicht.Sein neuer Film knüpft fast unmittelbar an seinen Vorgänger Wie der Wind sich hebt von 2013 an. Darin erzählt er die Lebensgeschichte eines ehrgeizigen Flugzeugkonstrukteurs (ein Beruf, den auch Miyazakis Vater ausübte), die in den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mündet. Der Prolog von Der Junge und der Reiher hebt mit einem Bombenangriff auf Tokio an, bei dem die Mutter des elfjährigen Mahito ums Leben kommt. Sein Vater Shoichi gibt ihn in die Obhut seiner Tante Natsuko, die er inzwischen geheiratet hat und die ein Kind von ihm erwartet. Dem trauernden Jungen wird nicht wohl in der ländlichen Idylle, in der er von der Stiefmutter und einer Schar greisenhafter Dienstboten umsorgt wird. In der Schule kommt es augenblicklich zum Streit mit den Klassenkameraden. Auch in der Zuflucht bricht für Mahito die Welt auseinander. Nur ein geheimnisvoller Graureiher heißt ihn willkommen.Er haust in einer Turmruine am Rande des Anwesens, in die sich vor langer Zeit Mahitos bibliophiler Großonkel zurückgezogen hatte. Zunächst rüstet sich der Junge gegen den garstigen Vogel, erlernt den Umgang mit Pfeil und Bogen. Mit der Gründlichkeit des einsamen Kindes überprüft er, ob die Ereignisse, die ihm zustoßen, real oder erträumt sind. Der Reiher entpuppt sich als Gestaltwechsler. Aus seinem Schnabel stülpt sich ein Männlein hervor, das verspricht, Mahito zu seiner Mutter zu bringen, deren Leichnam er nie sah. Das rätselhafte Wesen adoptiert ihn; zu welchem Zweck, bleibt vorerst unklar.Als die Stiefmutter eines Tages spurlos verschwindet, folgt Mahito ihm in eine Welt, die unter der hiesigen existiert. Sie wird hauptsächlich von den Toten und den Ungeborenen bevölkert. Dieses magische Reich mutet, wie stets bei Miyazaki, zugleich vertraut und befremdlich an. Die Zypressen scheinen geradewegs aus Arnold Böcklins symbolistischem Hauptwerk Die Toteninsel zu stammen, später fühlt man sich an die metaphysischen Szenerien von Giorgio de Chirico erinnert. Die wundersamen Gestalten jedoch, denen Mahito dort begegnet, sind ganz der Fantasie des Regisseurs entsprungen. Da gibt es die Warawaras, larvenartige Geschöpfe, die darauf warten, in der oberen Welt geboren zu werden. Deren Todfeinde sind hungrige Pelikane. Eine Armee waffenstarrender Sittiche tritt auf den Plan, die die Macht an sich reißen will.Sicherheit ist Miyazakis jungen Heldinnen oder Helden nie versprochen, ihre Neugier führt sie in ungeschützte Räume. Die Feindseligkeit der Schöpfung spielt in seinem Kino seit jeher eine verblüffend große Rolle, erschien aber selten so unwägbar wie hier. Mahito findet zwei wackere Gefährtinnen: die Fischerin Kiriko, die den Fluten trotzt, und Himi, die Macht über das Feuer hat. Mit ihrer Hilfe dringt der Junge zur Stiefmutter vor sowie zum Großonkel, der als Zauberer das Gleichgewicht der Welt in Händen hält. Mahito soll sein Erbe antreten, schlägt das Mandat jedoch aus. Die Reise durch die Unterwelt ist nicht nur eine emotionale Prüfung, sondern auch eine ethische. Seine Beweggründe vermischen sich. Der Wunsch nach Begegnung mit der Mutter geht einher mit dem Gefühl der Verantwortung für Natsuko, die nur in die obere Welt zurückkehren will, wenn ihr Stiefsohn sie überzeugt, dass er sie liebt.Eingebetteter MedieninhaltMiyazaki hebt das Spiegelbildliche der beiden Welten hervor. Sie sind verbunden durch eine motivische und familiäre Verwandtschaft. Kiriko trägt die gleiche Wunde wie Mahito, Himi ist seine Mutter, die noch geboren werden muss. Leichter zu ergründen wird diese Welt der Portale und Türen, der Verbote und Metamorphosen dadurch nicht. Es ist ein filmisches Reich der Gleichnisse und mannigfachen Assoziationen. Die martialischen Wellensittiche, die in der oberen Welt plötzlich friedlich werden, mögen für den Nationalismus stehen, der Japan damals ergriff: Menschen wirken wie ausgetauscht, wenn sie in den Krieg geschickt werden. Das Grundelement von Miyazakis Kino ist die Verwandlung. Mit ihr verbinden sich Hoffnungen wie Ängste. In einer solch gespenstischen Ambivalenz jedoch hat der Regisseur sie bisher noch nie gehalten.Placeholder infobox-1