"Winter adé" im Deutschen Herbst 2022

Dokumentarfilm Der 1988 produzierte DEFA-Klassiker von Helke Misselwitz macht nicht nur klar, was mit der DDR verschwunden ist, sondern auch, dass ein feministischer Blick auf heutige Alltagsphänomene des Ostens fehlt

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„Winter adé" (1988) dokumentiert die Empfindungen der unterschiedlichen Generationen und Schichten der DDR-Gesellschaft
„Winter adé" (1988) dokumentiert die Empfindungen der unterschiedlichen Generationen und Schichten der DDR-Gesellschaft

Foto: Ronny Hartmann / AFP / Getty Images

Mit "Summertime" von Janis Joplins Band „Big Brother and the Holdig Company“ endet Helke Misselwitz Dokumentarklassiker „Winter adé“, eine DEFA-Produktion von 1988. Die Meisterschülerin von Heiner Carow reist mit der Bahn durchs Land und befragt vornehmlich Frauen unterschiedlichen Alters über ihr Leben und ihre Sehnsüchte. Sie dokumentiert die Empfindungen der unterschiedlichen Generationen und Schichten der relativ egalisierten DDR-Gesellschaft: eine stolze Fabrikarbeiterin ebenso wie Akademikerinnen oder eine tatsächlich marginalisierte, wohl subproletarisch zu nennende Frau im persönlichen Überforderungsmodus. Schülerinnen, die die Ehe ablehnen, aber doch irgendwie so leben wollen wie ihre Eltern, kommen neben auf Ehejahre und Beziehungsabbrüche zurückblickende ältere Frauen zu Wort. Da ist die gesellschaftlich engagierte und couragierte Kinderheimorganisatorin, die freimütig berichtet, dass sie für die Liebe der Kinder auf Eheglück und Erotik verzichtet, wir hören eine 85jährige, die die diamantene Hochzeit feiert, und nebenbei kundtut, dass ihr Mann irgendwie ihr Mann wurde, sie sich einen anderen aber wünsche. Zwei robust-subversive Mädchen zwischen Gothic und Punk stylen sich, beschmieren Wände und träumen von dem großen Ausbruch, der sie vorerst unter Brücken und an einen stillen Fluss führt. Auch ein frischvermählter Schnauzbartträger mit Kind auf dem Arm wird über Familie und Lohnverhältnisse im Zug interviewt. Wollte man Helke Misselwitz also zur "Feministin" machen - wie es in der ambitionierten Ausstellung über "Feminist Worldmaking and the Moving Image" im Haus der Kulturen der Welt von Juni bis August geschah - müsste man wohl eine recht breiten Begriff von Feminismus anlegen.

Dumm und borniert, wie die DDR-Funktionäre waren, weigerten sie sich, den Film mit seinen ungeschönten Frauenporträts im DDR-Fernsehen zu zeigen. 1988 wurde er aber im Wettbewerb des Dokfilmfestivals in Leipzig gezeigt und mit der Silbernen Taube ausgezeichnet. Misselwitz brachte dies eine Einladung nach Massachusetts ein. So kommt der heutige Medienkonsument leider nicht in den Genuss, einen Dokumentarfilm von ihr zu den 1989-Ereignissen zu sehen. Misselwitz Gesprächsführung und Fragetechnik, die von respektvoller und zurückhaltender Genauigkeit im Wissenwollen geprägt ist, hätte auch für die Umbruchszeit manch interessante Beobachtung zu Tage gefördert. Von einigem Interesse wäre auch zu sehen, wie sie eine der jungen Hoyerswerderinnen 1991 interviewt und porträtiert hätte, die den mehr sensations- als wissbegierigen Reportern erklärten, sie wollen auch, dass die Ausländer verschwinden. Und wie toll wäre eine Reportage und eine Dokumentation in der Art von Misselwitz, die sich gezielt die Frauen aus den Demonstrationen von Schwedt über Saalfeld bis Lubmin gegen die aktuelle Russland- und Energiepolitik herauspickt und den Darlegungen ihrer Beweggründen, auf die Straße zu gehen, Raum schenkt.

Eins ist jedenfalls auffallend: Betrachtet man den Film „Winter adé“ von 1988 und kontrastiert die Aussagen der zögerlichen, um wahre Worte ringenden, sich ehrlich Rechenschaft über Vergangenheit, Zukunft und Präsenz ablegenden Protagonistinnen mit den Larmoyanz, Verzweiflung und Aggressivität präsentierenden Bildern des ostdeutschen Auftakts zum „heißen Herbst“, so merkt man, dass hier nicht nur ein Faden gerissen ist, ein gesellschaftlicher Schock muss stattgefunden haben. Es ist die disruptive kapitalistische Transformation der DDR-Gesellschaft, die zwischen den heutigen Bildern und jenen von Helke Misselwitz liegt. Allein deswegen lohnt es, diesen Film heute genau zu betrachten.

https://absolutmedien.de/film/8038/Winter+ad%C3%A9+und+andere+Klassiker+von+Helke+Misselwitz

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Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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