Linkes Zerren im "Kräfteverhältnis"

ZeroCovid Wohin führt die Forderung nach einem harten Lockdown?

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Die Linke ist in das Stadio zurückgekehrt. Bislang war sie nur Linienrichterin. Viele rote Karten wurden verteilt - etliche Platzverweise erteilt, hauptsächlich jedoch gegenüber unbotmäßigen Hooligans, den "Verschwörungstheoretikern" und "Coronaleugnern". Zum Spielverlauf selbst war wenig Wirksames und Praktisches zu vernehmen.

Mit der ZeroCovid-Kampagne scheint die Linke zumindest wieder auf dem Feld zu stehen. In welcher Rolle ist allerdings ungewiss. Ob dies eine Offenive darstellt, linke Positionen zumindest aus der Defensive kommen oder die Forderung der Kampagne etwa gar zu einem Eigentor einlädt, ist offen und wird heftig debattiert. Die Hamburger Zeitung analyse und kritik hat darum zu einer Debatte eingeladen, in der bereits wesentliche Für und Widers benannt wurden: dabei wurde sowohl aus feministischer Perspektive für ZeroCovid gestritten, wie aus "revolutionärer" dagegen. Die Queer-Feministische Theoretikerin Bini Adamczak ist genauso prominente Fürsprecherin der Kampagne wie die DKP, Alex Demirovic von der Rosa-Luxemburg-Stiftung dagegen macht ein dickes Fragezeigen hinter die Kampagne, genauso wie die Redaktion des Blogs "Solidarisch gegen Corona".

Mit Demirovic und Christian Zeller, einem der Initiatoren der Kampagne, der zusammen mit Verena Kreilinger für einen klaren und harten Lockdown optiert, organisierten Elisabeth Voss, Anne Seeck, Peter Nowak und ich in unserer montaglichen Gesprächs- und Diskussionskreis eine Veranstaltung.

Sie war lehrreich, erhellend, solidarisch, um Klärung und Klarheit bemüht. Einig waren sich beide Diskutanten darin, dass es bei dieser Art linker Politik und Intervention um "Kräfteverhältnisse" gehe, um die gerungen werden müsste. Dabei waren mir einige Argumente schlüssig, andere nicht, einige Forderungen sympathisch, andere eher unverständlich. So blieben etliche Fragen offen. Einige möchte ich hier formulieren:

1. Muss man mit dem Virus leben oder kann man ihn tendenziell ausmerzen?

- Das "Multiversum" (Karl Heinz Roth) der Proletarisierten ist im aktuellen Kapitalismus mit einer Vielzahl von Gefahren konfrontiert, mit denen Arbeiterinnen und Proletarisierte zu leben gelernt haben. Unter Umständen werden sich abschwächende, sich umbauende und mutierende Viren die Welt weiter begleiten. Irritierend ist im historischen Rückblick ja tatsächlich, wie wenig sich die Katastrophe der Spanischen Grippe im Jahre 1918 theoretisch und praktisch in der dem proletarischen Kampf verpflichteten Linken niedergeschlagen hat (im Vergleich zu ihrem Kampf gegen Militarismus und Krieg). Dies mag einer eurozentristischen Perspektive geschuldet sein, aber vielleicht auch schlicht der sinnvollen Priorisierung kämpferischer Gesellschaftskritik. Eine solche bleibt mit Begegnung, Aktion, gemeinsamem Handeln, der Straße verbunden

2. Liegt ein Gegensatz zwischen "Gesundheit" und "Wirtschaft" tatsächlich in der Schlichtheit vor, wie von der ZeroCovid-Kampagne suggeriert?

- Das Multiversum der Proletarisierten ist hier nicht einheitlich formiert und wird keine einheitliche Antwort geben. In Norditalien gab es beispielsweise Streiks für ein Lockdown von unten, in Neapel protestierten dahingegen proletarische Jugendliche gegen die Regierungsmaßnahmen. Heißt für eine kämpferische Amazon-Arbeiterin, die sich in den Mühen der Ebene der Koordination von Kämpfen und Streiks bewegt, ZeroCovid: "Geh nach Hause?" Und dann...? Protest nur noch als Onlinepetition und Austausch per Zoom? Für viele abhängig Beschäftigte heißt nicht mehr arbeiten zu können auch eine erhebliche psychische wie physische Gesundheitsbelastung. Arbeit ist mehr als Ausbeutung, sie umfasst auch Sinn und Kooperation außerhalb des Privaten. "Jetzt nehmen sie mir das auch noch", wäre nicht die unverständlichste Reaktion auf ZeroCovid.

3. Welche Veränderung im "Kräfteverhältnis" erreicht die Kampagne, wenn sie sich auf per se administrative Lockdown-Forderungen versteift, allerdings bei allen sozialpolitischen und antikapitalistischen Forderungen bis hin zu Enteignung der Pharmaindustrie öffentlich abgewatscht wird?

- Proletarisierte werden über konkrete Kämpfe und eine darin gewonnene Macht eher ihre Interessen gelten machen können wie die von der FAU unterstützten rumänischen SpargelstecherInnen. ZeroCovid kann nicht die konkreten Kämpfe ersetzen und die fundamentale Kritik an dem arbeitsmarktpolitischen Sozialdarwinismus der EU. Die Utopie einer anderen, nach-kapitalistischen Gesellschaft, in der Produktion und Verteilung anders zu organisieren ist, muss genauso wachgehalten und propagiert werden, wie das rasche Ende einer Gesellschaft, in der Sklavenhändler, ausgebeutete VertragsarbeiterInnen in Containerwohnungen und 8-Stunden an der Supermarktkasse als "normal" angesehen werden.

4. Schließlich: Was heißt "Kräfteverhältnis"?

- Linke und antikapitalistsche Forderungen und Inhalte sind weitgehend marginalisiert. Die bürgerliche Öffentlichkeit tabuisiert sie oder macht sie lächerlich. Damit schließt sie ein Fenster, das sich zumindest nach 1968 öffnete, als linke und den Kapitalismus fundamental in Frage stellende Themen noch medial wirksam zirkulieren konnten. Der Staat in der Coronakrise zeigt sich gerade nicht als weitgehend neutrales Feld, auf dem "Kräfteverhältnisse" abgebildet werden. Das ganze Pandemiemanagement zeugt von der Existenz eines "Staats des Kapitals" (Johannes Agnoli), der sich zwar erweiterte autoritäre und repressive Kompetenzen verschafft, allerdings Profitinteressen der Pharmaindustrie nicht im Kern antastet. ZeroCovid könnte hier ungewollt zu einer Staatsillusion einladen.

5. Zuletzt: Das Sein bestimmt das Bewußtsein

Dass die Linke weitgehend akademisch und intellektuell geprägt ist, findet in der Unterschriftenliste von ZeroCovid eine beeindruckende Bestätigung. Das ist so und muss nicht selbstkasteiend bedauert werden. Allerdings wäre eine kritische Reflexion auf die Problematik des spezifischen Verhältnisses von Intellektuellen zum Staat notwendig und eine kritische Selbstüberprüfung von materiellen Voraussetzungen eigener Kritik und Praxis.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gerhard Hanloser

Kritische Analysen, Miniaturen und Reflexionen über linke Bewegungen, Theorien und Praxis

Gerhard Hanloser

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