Das Ende der Parabel

Rezension Über Ulrich Ziegers Roman "Durchzug eines Regenbandes"

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Größe und Tragik der Postmoderne ist es, dass mit ihr jede Unterscheidung verwischt wird, die helfen könnte, sich über den Wert ihrer Produkte zu verständigen. Eindeutigkeit, Bestimmtheit, Bedeutung ...? Alles dahin. Aber waren diese drei nicht seit jeher Feinde jeder echten Kunst?
Und so fällt es auch bei Ulrich Ziegers Roman „Durchzug eines Regenbandes“ nicht nur schwer, zwischen Genie und Dilettantismus einen klaren Trennstrich zu ziehen, sondern man streckt bereits nach einigen Seiten die Waffen beim Versuch. Zwischen Ironie und Unvermögen, zwischen Hintersinn und bloßer Albernheit, zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Komik, zwischen Scheitern als Künstlerattitude und Scheitern aus Versehen oszilliert diese Geschichte mit ihren Geschichten und Geschichtchen vor dem Auge des Lesers. Eine weitere Größe und Tragik solcher Romanversuche liegt darin, dass, wenn der Verfasser behauptet, er habe zehn Jahre Arbeit in sein neues Werk gesteckt, man dem Ergebnis nicht ansehen kann/soll/darf, ob nicht neun Jahre davon in Rauchen, Trinken und langen Spaziergängen durch Montpellier bestanden. Aber das ist ja auch Arbeit.
Da sitzt dann also der postmoderne Autor da und lacht sich ins Fäustchen, während der Kritiker, verpflichtet auf Sinn und Allgemeingültigkeit, sich abmüht auf der Suche nach Bezügen und Verweisen, Mustern und Strukturen. Aber auch den Leser, der nach Kohärenz, Abenteuer oder einfach nur Kohärenz sucht, enttäuscht er lachenden Auges. Für den wird es bei der Lektüre von „Durchzug eines Regenbandes“ daher das Beste sein, sich ganz darauf einzulassen, dass man sich hier auf nichts einlassen kann.
Ulrich Zieger lacht sich vielleicht immer noch ins Fäustchen, doch tut er das nun von einem anderen Ort aus, denn er ist Ende Juli 2015 in Montpellier, wohin er seit 1989 ausgewandert ist, gestorben. Als Plot für einen Roman hätte er das vielleicht nicht für ungeeignet gehalten, soweit man es der Haltung, die im Roman selber zutage tritt, entnehmen kann. Ein Schriftsteller, seit dem politischen Umsturz fern der Heimat im südfranzösischen „Exil“ lebend, schreibt besagte zehn Jahre an einem rätselhaften, monumentalen, epischen Monstrum, und bevor die ersten Sinnsucher zu ihm pilgern können, hinterlässt er der Nachwelt nicht mehr als Schweigen und die endgültige Unmöglichkeit, sich mit ihm über Sinn und tiefere Bedeutung seines Werks auseinanderzusetzen.
Nach dem Tod des Autors ist eben nicht nur literaturtheoretisch der Leser auf sich allein gestellt. Wenn nun selbst vor so profanen Angelegenheiten wie Tipp- und Schreibfehlern die Postmoderne nicht halt macht (denn wer will dem Lektorat Schlampigkeit vorwerfen, wenn Namen falsch geschrieben oder sprachliche Bilder schief gesetzt sind, wenn es im Grunde keinerlei Bezug zu einer Außenwelt gibt, der eine Unterscheidung zwischen richtig und falsch, gewollt und versehentlich erlauben würde?), wie soll der Leser dann mit der Geschichte umgehen? In „Durchzug eines Regenbandes“ gibt es zwar eine, aber es ist nicht klar, worum es in ihr, worum es ihr geht. Vielleicht um nichts.
Da ist von einem Journalisten die Rede, dem ein Fremder Besuch abstattet und von einer Revolution im Inselstaat Bienitz erzählt wird, in dem die Einwohner Kleidung aus Papier tragen und aus dem der Besucher, Angehöriger des Stammes der Lapislazuli, geflohen ist. Wer jetzt noch Lust hat, die Geschichte weiterzuhören, auf den kann der Roman einen gewissen Reiz ausüben, der eine tiefergehende Beschäftigung mit ihm rechtfertigt.
Wer dabei allerdings einen Spaß wie bei Walter Moers erwartet, wird mit Sicherheit enttäuscht. Denn all das wird nur aus zweiter Hand erzählt, in Dialogen, langatmig, weitschweifig, geduldig, mäandernd. Und nach 170 Seiten ist es auch schon vorbei und eine zweite Geschichte setzt an, die mit der ersten nichts Ersichtliches zu tun hat. Und dann noch eine dritte. Sprachlich oft beeindruckend bis bedrückend, manchmal erstaunlich, manchmal betulich, mitunter zu gewollt. Da wird das seltene Wort um seiner Seltenheit willen gesucht; es kann nicht einfach Korb, es muss Kiepe heißen, nicht Dachfenster, sondern Gaube. Um Folgerichtigkeit ist der Erzähler ja offensichtlich nicht durchweg bemüht, aber Unstimmigkeiten in der Erzählperspektive verzeiht der Leser doch nicht so leicht.
Ein nachvollziehbares, interessantes Geschehen ergibt sich daraus nicht, und, wir können es nur vermuten: soll es auch nicht. Doch der Roman wäre kein postmoderner, würde er diese unwillige Unfähigkeit nicht selber noch ironisch reflektieren in den Aussagen, die seine Figuren über die Geschichten machen, die sie erzählen („Verzeihen Sie, aber der Abschluss der Geschichte ist mir infolge einer Reihe schwerer Nervenanfälle in der Vergangenheit unaussprechlich geworden …!“) und erzählt bekommen („schließlich bin ich ja noch beinahe unfähig, aus Ihrem Bericht einen im engeren Sinne greifbaren Inhalt abzuleiten …“). Tröstlich immerhin, dass die Figuren die gleichen Schwierigkeiten haben wie die Leser.
Angelegt ist der Roman wie ein Triptychon, mit drei voneinander unabhängigen Teilen, „links“, „Mitte“, „rechts“, die eben auch drei Romane hätten ausmachen können. Die trinitarische Entscheidung, aus drei mach eins und umgekehrt, mag einer rein äußerlichen, schreib- und verlagsökonomischen Überlegung folgen, oder sie mag andererseits auch durch geheime Verweise der Teile auf- und untereinander motiviert sein - ein Fest für Rätselsucher, doch anders als beim Rubikwürfel weiß man nicht einmal, ob es eine Lösung gibt. Wen auch diese Unsicherheit reizt, hat eine weitere Rechtfertigung für die tiefergehende Beschäftigung.
Wie diese kurze Übersicht andeutet, wirkt das alles recht surreal, irritiert mit seiner wilden Fabuliererei um ihrer selbst willen. Das Netz aus Bezügen ist längst gerissen, es hält niemanden mehr fest und wird von nichts gehalten. Der Roman ist ein Labyrinth aus Assoziationen, Metaphern, Montagen, Chiffren, in das man schwerer hineinfindet als hinaus. Im Faden der Ariadne haben Leser und Autor sich verheddert, so dass bloß die gordische Lösung bleibt. Dabei findet man in diesem Irrgarten durchaus Schmuckstücke - stark ist der Roman vor allem in der Evozierung von Atmosphäre wie z. B. im zweiten Teil, wo mit der einfühlsamen, sprachlich bewundernswerten Darstellung der Umstände, in denen sich der Protagonist befindet (eine ländlich-dörfliche Gegend der DDR der späten 60er) eine vergangene Zeit hervorgerufen, ja geradezu beschworen wird. Das ist bezaubernd, man ist verzaubert.
Aber freilich kann es dabei nicht bleiben. Märchenhaft wirkt und wird es, als kaum sichtbare Folie aller drei Teile, aber bisweilen auch in Stil und Sprache; zugleich finden wir Anspielungen auf Filme und Schlager, den Tiger von Eschnapur und Nosferatu und Fahrenheit 451, auf Drafi Deutscher und Roy Black, und dass nichts zueinander passt, muss man eben als Signatur des Postmodernen hinnehmen. Das Ganze ein Gegenwarts- oder gar Gesellschaftspanorama zu nennen, entfernt sich allerdings zu sehr vom eigentlichen Erlebnis der Lektüre. Zu subjektiv und innerlich, zu privat bleibt das Glasperlenspiel des Autors, dabei nicht selten klischeehaft, als dass sein Leser hier Einsichtsvolles über sein Leben und das seiner Zeitgenossen erhalten würde. Wer in der Fabel eine Parabel finden möchte, sollte sich darauf vorbereiten, ihren Enden bis ins Unendliche zu folgen.
"Aus der Zeit gefallen“ wie seine Figuren, der marlowehafte Journalist Max Norden, Spione, Schlagersänger, Traumtänzer mit Zinkeimern auf dem Kopf und die anderen Außenseiter ist dann auch der Erzähler. Im Akt des Erzählens verweigert er sich. Er und seine Figuren sind Nostalgiker, und die Kunst und die Literatur sind ja vielleicht noch die letzten Orte, an dem Nostalgie erlaubt ist. Verzweifelt retrospektiv ist das alles und in dieser Retrospektive auf der Suche nach dem Absoluten - im Sinne einer Loslösung von Wirklichkeit und Alltag. Fragmente sind es noch, die übrig geblieben sind von der Welt da unten und draußen. Wen also auch die Absage der Kunst an Realitätsverpflichtung nicht stört, kann während des Durchzugs eines Regenbandes getrost eine Pause vom Zeitgemäßen, Allzuzeitgemäßen machen.

Ulrich Zieger: Durchzug eines Regenbandes, Roman, S.Fischer, Frankfurt am Main. 683 Seiten, 26 €.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Kaiser

Schriftsteller und freier Journalist, Köln

Gunnar Kaiser

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden