Chancen, Freiheit und Verantwortung in der Klassengesellschaft

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Chancen, Freiheit und Verantwortung in der Klassengesellschaft


Der Schock sitzt tief angesichts der neuen Erkenntnisse: Die Bildungschancen hängen von der sozialen Lage ab! Gewiss wird die Politik sofort alles dransetzen, die Ursachen der Benachteiligung zu beseitigen und für gleiche Chancen für alle Kinder zu sorgen, wie es in einem Sozialen Rechtsstaat selbstverständlich ist!


Wird sie das wirklich? Chancen genug hatte sie ja in den letzten 44 Jahren, also seit der ersten größeren öffentlichen Debatte in der Bundesrepublik über „schichtspezifische“ Chancen und Benachteiligung und über die Notwendigkeit einer Bildungsoffensive. Wenn in diesem langen Zeitraum das Problem der eklatanten Ungerechtigkeit des Bildungssystems nicht gelöst, das Ungleichgewicht der Lern- und Lebenschancen vielmehr zunehmend in Richtung neofeudaler Verhältnisse verschoben wurde – dann sind Grundsatzfragen fällig.


In Presseberichten und Kommentaren, in Stellungnahmen von Politikern (vorwiegend der Opposition) und Gewerkschaftern wird die jüngst wieder zutage getretene Ungerechtigkeit des deutschen Bildungssystems beklagt. Denn nach dem „Chancenspiegel“ der Uni Dortmund entscheidet über den Bildungsweg der Kinder in starkem Maß die soziale Stellung der Eltern. Ein Aufstieg im gegliederten Schulsystem ist laut Studie kaum möglich, ein Abstieg um ein Vielfaches leichter. Zwischen den Bundesländern herrschen zwar erhebliche Unterschiede, der Trend ist aber überall eindeutig: Je schlechter die soziale Lage der Familie, desto schwerer wird der Aufstieg in der Bildungshierarchie. (Das wussten anscheinend auch schon die SchülerInnen, die bei den großen Bildungsprotesten vor zwei Jahren „Reiche Eltern für alle!“ gefordert hatten.)


Sicher mögen Chancen und Auf- oder Abstieg im Einzelfall von Lehrkräften beeinflusst sein. Aber die Benachteiligung hat offensichtlich System und so muss über den Einzelfall hinaus festgestellt werden: Das überkommene gegliederte Schulsystem zementiert Ungleichheit, ist aber von der Politik gewollt und die „standesgemäße“ Selektion der Schüler ist das Fundament, quasi die Existenzberechtigung dieses Systems. Die in Bildungspläne, Gesetze, föderale Strukturen gegossenen Leitgedanken für die Vorbereitung von Kindern auf ihr Leben und ihre Welt sind nach wie vor von Auslese, Zuweisung von Positionen und von sanktionierten Möglichkeiten von Aufstieg, Anerkennung und Macht bestimmt.


Kann Schule überhaupt Gerechtigkeit und Chancengleichheit schaffen? Zu Recht werden auch (und gerade) aufgeschlossene, ermutigende, fördernde Pädagogen und Pädagoginnen die Frage an die Politik weitergeben: Ist Chancengleichheit das, was wir für Kinder erreichen sollen? Dann gebt uns die Strukturen und die Arbeitsbedingungen, die dafür notwendig sind. Dann dürften nicht gerade die Kurse gestrichen werden, die auch benachteiligten Kindern helfen würden. Dann wären die Schulen nicht auf das ideologisch gefärbte Material angewiesen, das ihnen die arbeitgeberfinanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zur Verfügung stellt. Übrigens: Welche Ziele verfolgt wohl die Bertelsmann-Stiftung, die die Privatisierung der Bildung betreibt, wenn sie diesen „Chancenspiegel“ in Auftrag gibt?


So berechtigt diese Einwände sind – sie treffen nur ein Teil der Wahrheit. Viel zu selbstverständlich wird nämlich von der Politik, Medien und Verbänden angenommen, Schule könne in einer Klassengesellschaft Chancengleichheit herstellen. Sie kann im besten Fall Kindern helfen, trotz Benachteiligung Selbstvertrauen und Freude am Lernen zu entwickeln; die Ursache der systematischen Benachteiligung beseitigen kann sie nicht.


Denn dauerhafte Armut bedeutet – besonders in einem reichen Land – für die Eltern chronischen Stress. Und der macht krank, an Leib und Seele und er wird auch auf die Kinder übertragen, von der Schwangerschaft an. Die Benachteiligung beginnt nicht in der Schule, sondern in armen Familien während der Schwangerschaft. Sie äußert sich in den bekannten Formen und Auffälligkeiten, motorisch und emotional, durch mangelnde Konzentrationsfähigkeit und das Ausagieren innerer Spannungen. Im Vergleich zu einem Kind aus sicheren materiellen Verhältnissen muss ein sozial benachteiligtes Kind wesentlich mehr können und leisten, um den Anforderungen der Schule gerecht zu werden.


Die Schule kann also allenfalls bestehende Nachteile ausgleichen. Wenn schon die Politik nicht einmal die Bedingungen für die Verwirklichung dieses Minimalzieles schafft - wollen wenigstens die Eltern gute Bedingungen für alle Kinder? Das hängt in starkem Maß davon ab, welche Eltern gefragt werden bzw. ihre Meinung massiv zum Ausdruck bringen; dies war in der Hamburger Schulabstimmung gut zu beobachten. Während die gutbürgerlichen Eltern lautstark und effektiv für den Wettbewerbsvorteil ihrer Kinder mobilisiert haben, gingen die Bildungsabgehängten gar nicht erst zur Abstimmung.


Übrigens: In Deutschland darf niemand wegen seiner Herkunft benachteiligt oder bevorzugt werden. Wenn die Schule „Chancengleichheit“ (die von CDU und FDP inzwischen in „Chancengerechtigkeit“ abgemildert wurde, um die Benachteiligung gerechtfertigt erscheinen zu lassen) nur eingeschränkt ermöglichen kann und ein Großteil der meinungsmächtigen Eltern sie gar nicht will, dann müsste eben der Staat dafür sorgen, dass Grundrechte für alle gelten können. Will die Politik Chancengleichheit?


Angesichts der realen politischen und sozialen Verhältnisse klingt die Frage rührend naiv. Natürlich will die Elite aus Wirtschaft und Politik die Verhältnisse nicht umkrempeln, die sie – besonders krass seit 15 Jahren - mit Macht durchgesetzt hat; deren Ergebnisse wachsende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen sind und Verarmung wachsender Teile der Bevölkerung. Mittlerweile arbeiten in Deutschland acht Millionen Menschen für einen Niedriglohn. Das war und das ist das Ziel der Agenda- und Hartz-Politik. Kinderarmut und Bildungsungerechtigkeit sind die Kollateralschäden. Anhäufung und Konzentration von Reichtum haben eben auch diese Folge: die Bildungsungleichheit in einer Klassengesellschaft. Zumal der alleingültige Maßstab in der herrschenden Markt- und Wettbewerbsgesellschaft die Verwertbarkeit des Humankapitals ist. Auch der Kinder. Es geht nicht um Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Empathie, sondern um Märkte, Profite und billige Arbeitskräfte. Wer nicht mithalten kann, ist selber schuld und bleibt unproduktiver Ausschuss. Chancengleichheit hat in diesem System keinen Platz.


Chancengleichheit in einer Gesellschaft, in der Interessen, Lebenschancen und Macht einer politisch-wirtschaftlichen Elite den Bedürfnissen einer Mehrheit der Bevölkerung widersprechen, kann es nicht geben. Schon der Begriff ist fragwürdig, suggeriert er doch fairen Wettbewerb zwischen freien Individuen: Wer gut ist, soll seine Chance kriegen. Die anderen „Versager“ werden zu Recht abgehängt. Auf diesem Hintergrund sind die Forderungen der Opposition ebenso wirkungslos wie scheinheilig: Das Kooperationsverbot von Bund und Ländern in der Schulpolitik soll gekippt werden? Mehr Schulsozialarbeit soll geleistet werden? Natürlich soll alles getan werden, was benachteiligten Kindern ein bisschen hilft. Die Vorschläge berühren aber das Grundproblem nicht: die wachsende Armut, die Spaltung der Gesellschaft, die Benachteiligung per Geburt in armen Familien.


Wer nicht über Klassengesellschaft, Verteilungsungerechtigkeit und Umverteilung reden will, sollte auch von Freiheit und Verantwortung schweigen. Denn er will keine „Chancengleichheit“ und hat den Boden der Verfassung verlassen. Von Menschlichkeit, Einfühlsamkeit und Solidarität ganz zu schweigen.


Georg Rammer

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Geschrieben von

grammer

Die alten Ziele Demokratie, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Würde sind aktueller denn je - tun wir was dafür.

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