Die Dunkelheit vor uns: Wohin der Ukraine-Krieg steuert

John Mearsheimer legt in einem Beitrag dar, wie der wahrscheinliche weitere Verlauf des Ukraine-Krieges aus seiner Sicht sein wird. Dabei behandelt er zwei Hauptfragen. Ist ein Friedensabkommen möglich? Welche Seite wird den Krieg wahrscheinlich gewinnen?

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Seine Analyse "The Darkness Ahead: Where The Ukraine War Is Headed" geht von den objektiven Gegebenheiten aus und beschreibt die Lage ohne Wunschdenken und Moralismus.

Die erste Frage beantwortet er mit einem klaren "Nein". Beide Seiten, die Ukraine und der Westen sowie Russland, sehen sich gegenseitig als existenzielle Bedrohung. Dazu kommen unüberbrückbare Differenzen hinsichtlich des Territoriums und des Verhältnisses der Ukraine zum Westen, d.h. zur NATO. Als bestmöglichstes Ergebnis sieht er einen eingefrorenen Konflikt, der jederzeit wieder in eine heiße Phase übergehen kann, aber auch einen Atomkrieg als schlimmsten Fall.

Die zweite Frage nach einem Sieger beantwortet er klar mit Russland, welches die Ukraine jedoch nicht entscheidend schlagen wird. »Mit anderen Worten: Russland wird einen hässlichen Sieg erringen.«

Im weiteren Verlauf des Textes analysiert er das Bedrohungsumfeld der drei beteiligten Parteien (Russland, Ukraine, der Westen).

Zu Russland schreibt er:

»Das russische Denken wird wahrscheinlich von drei Berechnungen beeinflusst. Moskau hat ein starkes Interesse daran, ukrainisches Gebiet zu erobern und dauerhaft zu annektieren, das stark von ethnischen Russen und russischsprachigen Menschen bewohnt wird. Es will sie vor der ukrainischen Regierung schützen - die allem Russischen gegenüber feindlich gesinnt ist - und sicherstellen, dass es nirgendwo in der Ukraine zu einem Bürgerkrieg kommt, wie er zwischen Februar 2014 und Februar 2022 im Donbass stattgefunden hat. Gleichzeitig wird Russland vermeiden wollen, Gebiete zu kontrollieren, die größtenteils von feindlich gesinnten ethnischen Ukrainern bewohnt werden, was einer weiteren russischen Expansion erhebliche Grenzen setzt. Um die Ukraine in einen dysfunktionalen Rumpfstaat zu verwandeln, muss Moskau beträchtliche Teile des ukrainischen Territoriums einnehmen, damit es in der Lage ist, der Wirtschaft des Landes erheblichen Schaden zuzufügen. Die Kontrolle der gesamten ukrainischen Küstenlinie entlang des Schwarzen Meeres beispielsweise würde Moskau einen erheblichen wirtschaftlichen Einfluss auf Kiew verschaffen.

Diese drei Berechnungen deuten darauf hin, dass Russland wahrscheinlich versuchen wird, die vier Oblaste Dnjepropetrowsk, Charkiw, Mykolajiw und Odessa zu annektieren.«

Über den Westen notiert Mearsheimer:

»Es sollte klar sein, dass der Westen entschlossen ist, Russland zu besiegen. Präsident Biden hat wiederholt erklärt, dass die Vereinigten Staaten in diesem Krieg gewinnen wollen. "Die Ukraine wird niemals ein Sieg für Russland sein". Er muss mit einem "strategischen Scheitern" enden. Washington, so betonte er, werde in diesem Kampf bleiben, "so lange es nötig ist".

Konkret geht es darum, Russlands Armee in der Ukraine zu besiegen - und damit seine territorialen Gewinne zunichte zu machen - und seine Wirtschaft mit tödlichen Sanktionen zu lähmen. Im Erfolgsfall würde Russland aus den Reihen der Großmächte verdrängt und so weit geschwächt, dass es nicht mehr mit einer Invasion in der Ukraine drohen könnte.

Die westliche Führung verfolgt weitere Ziele, darunter einen Regimewechsel in Moskau, die Verurteilung Putins als Kriegsverbrecher und möglicherweise die Aufteilung Russlands in kleinere Staaten.

Gleichzeitig ist der Westen nach wie vor entschlossen, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, obwohl innerhalb des Bündnisses Uneinigkeit darüber herrscht, wann und wie dies geschehen soll.«

Und schließlich verfolgt die Ukraine aus seiner Sicht folgende Ziele:

»Es besteht kein Zweifel, dass die Ukraine einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt ist, da Russland darauf aus ist, das Land zu zerstückeln und dafür zu sorgen, dass der überlebende Rumpfstaat nicht nur wirtschaftlich schwach ist, sondern auch weder de facto noch de jure Mitglied der NATO ist. Es steht auch außer Frage, dass Kiew das Ziel des Westens teilt, Russland zu besiegen und ernsthaft zu schwächen, damit es sein verlorenes Territorium zurückgewinnen und für immer unter ukrainischer Kontrolle halten kann. Wie Präsident Zelensky kürzlich zu Präsident Xi Jinping sagte: "Es kann keinen Frieden geben, der auf territorialen Kompromissen beruht."

Die ukrainische Führung ist natürlich weiterhin fest entschlossen, der EU und der NATO beizutreten und die Ukraine zu einem integralen Bestandteil des Westens zu machen.«

Warum kommt er zur Schlussfolgerung, dass Russland einen "hässlichen Sieg" erringen wird?

»Der Krieg in der Ukraine ist ein Zermürbungskrieg, in dem die Eroberung und das Halten von Territorium von untergeordneter Bedeutung sind. Das Ziel eines Zermürbungskrieges ist es, die Streitkräfte der anderen Seite so weit zu zermürben, dass sie entweder den Kampf aufgibt oder so geschwächt ist, dass sie das umkämpfte Gebiet nicht mehr verteidigen kann.

Wer einen Zermürbungskrieg gewinnt, hängt im Wesentlichen von drei Faktoren ab: dem Gleichgewicht der Entschlossenheit beider Seiten, dem Gleichgewicht der Bevölkerungszahl und dem Verhältnis zwischen den Opfern. Die Russen haben einen entscheidenden Vorteil in Bezug auf die Bevölkerungszahl und einen deutlichen Vorteil im Verhältnis zwischen den Opfern und der Entschlossenheit beider Seiten.«

Er geht detailliert auf das Kräfteverhältnis ein, insbesondere auf die Rolle der Artillerie. Dem Westen ist es auf absehbare Zeit nicht möglich, die Ukraine mit gegenüber Russland gleichwertiger Artillerie auszurüsten. Das betrifft sowohl die Zahl der Geschütze als auch der Granaten. Da die meisten Opfer unter den Soldaten durch Artilleriebeschuss verursacht werden, ist die Zahl der ukrainischen Toten und Verwundeten wesentlich höher als die der Gegenseite. Er räumt auch mit dem Märchen des 3 : 1 Verhältnisses bei Angreifer und Verteidiger auf, da Verteidigung immer auch wieder in Angriff übergeht. Weil aber die Russen mit der Überlegenheit der Artillerie und auch mit ihrer Luftunterstützung rechnen können, liegen deren Verluste bei einem Bruchteil der ukrainischen.

Neben den oben bereits genannten Hindernissen für ein Friedensabkommen sieht Mearsheimer noch zwei weitere Hindernisse, die dem Frieden im Wege stehen: »der Nationalismus, der sich inzwischen in einen Hypernationalismus verwandelt hat, und der völlige Mangel an Vertrauen auf russischer Seite«.

Aus seiner Sicht haben sich Russen und Ukrainer in einen Hypernationalismus hineingesteigert, der es nicht zulässt, der anderen Seite "zu vergeben und zu vergessen". Weil Regierungen sich stark auf den Nationalismus verlassen, um ihre Bevölkerung zu motivieren, ihr Land bis zum Äußersten zu unterstützen, sondern auch, weil der Tod und die Zerstörung, die mit einem Krieg einhergehen - insbesondere bei langwierigen Kriegen - jede Seite dazu bringt, die andere zu entmenschlichen und zu hassen, wird es hier in absehbarer Zeit nur noch schlimmer werden.

»Die russische Führung traut weder der Ukraine noch dem Westen zu, in gutem Glauben zu verhandeln, was nicht heißen soll, dass die ukrainische und die westliche Führung ihren russischen Amtskollegen vertrauen. Der Mangel an Vertrauen ist auf allen Seiten offensichtlich, aber auf Moskaus Seite ist er aufgrund einer Reihe von Enthüllungen in jüngster Zeit besonders akut.«

In seinen Schlussfolgerungen geht er noch einmal auf den Werdegang des Konfliktes ein und stellt die Bestrebungen zum NATO-Eintritt der Ukraine als Hauptursache heraus.

»Es steht zwar außer Frage, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist, doch die eigentliche Ursache des Krieges war die Entscheidung des Westens - und hier sind vor allem die Vereinigten Staaten gemeint -, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an der Grenze Russlands zu machen. Das Schlüsselelement dieser Strategie war die Aufnahme der Ukraine in die NATO, ein Schritt, den nicht nur Putin, sondern das gesamte russische außenpolitische Establishment als eine existenzielle Bedrohung ansah, die es zu beseitigen galt.

Es wird oft vergessen, dass zahlreiche amerikanische und europäische Politiker und Strategen die NATO-Erweiterung von Anfang an ablehnten, weil ihnen klar war, dass die Russen sie als Bedrohung ansehen würden und dass diese Politik letztendlich zu einer Katastrophe führen würde. Zu den Gegnern gehören George Kennan, William Perry, der Verteidigungsminister von Präsident Clinton, und sein Vorsitzender der Generalstabschefs, General John Schalikaschwili, Paul Nitze, Robert Gates, Robert McNamara, Richard Pipes und Jack Matlock, um nur einige zu nennen.«

Anmerkung: Die wörtlichen Textstellen sind mit DeepL aus dem Amerikanischen übersetzt worden. Der Originalartikel kann auf mehreren Internetseiten nachgelesen werden.

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