dem 2 Menschen zum Opfer fielen, zwei weitere verletzt wurden und eine unbekannte Zahl von Menschen sich in Todesangst befand.
Die Reaktionen der Politiker und in der veröffentlichten Meinung überschlugen sich in Ton und Quantität der Beiträge. Sofort wurden Maßnahmen angekündigt und gefordert, ohne deren Angemessenheit bzw. voraussichtlichen Nutzen überhaupt geprüft zu haben.
Gerd Gigerenzer hat dieses zutiefst menschliche Verhalten in seinem Buch "Risiko" schon vor einigen Jahren analysiert und Lösungsmöglichkeiten beschrieben. Dass es trotzdem immer wieder zu solchem irrationalen Verhalten nach Terroranschlägen kommt, zeigt, dass sein Befund einer tief verwurzelten evolutionären Prägung richtig ist und unsere Gesellschaft daraus noch keinen wirklichen Ausweg gefunden hat.
Nach den Anschlägen vom 11.09.2001 war die amerikanische Bevölkerung zutiefst verunsichert. Eine Welle der Flugangst machte sich breit und die Menschen fuhren jetzt lieber weite Strecken mit dem Auto. Gigerenzer hat ausgerechnet, dass es in den drei Monaten nach dem Anschlag auf amerikanischen Straßen etwa 1600 zusätzliche Opfer von tödlichen Verkehrsunfällen gab. In den Flugzeugen kamen 256 Menschen bei den herbeigeführten Abstürzen ums Leben. 1600 Menschen könnten noch leben, wenn die Gesellschaft mit solchen Ereignissen anders umgehen würde. Terroristen nutzen nach Gigerenzer eine psychologische Regel in unserem Gehirn. "Wenn viele Menschen gleichzeitig sterben, reagiere mit Furcht und vermeide die Situation". Er versuchte, seiner Frau zu erklären, dass Fliegen viel sicherer wäre als Auto fahren. Er verdeutlichte das an einer simplen Frage. "Angenommen, Sie möchten von New York nach Washington reisen und lebend ankommen. Wie viele Kilometer müssten Sie mit dem Auto fahren, bis das Risiko eines tödlichen Unfalls genauso hoch wäre, wie bei einem Nonstopflug? Viele Experten antworteten ihm mit einer bunten Mischung aus 1000 km, 10000 km oder sogar dreimal um die Erde. In Wahrheit sind es 20 km. Er fügt dann hinzu, wenn man mit dem Auto heil am Flughafen ankommt, der gefährlichste Teil der Reise geschafft ist.
Wir können zu dem Anschlag in Halle auch einige andere Zahlen ins Verhältnis setzen. Am gleichen Tag sind etwa 10 Menschen in Deutschland bei einem Verkehrsunfall gestorben und mehr als 1000 verletzt worden (Quelle). Welche Maßnahmen werden dazu gefordert? An diesem Tag haben sich auch etwa 30 Menschen durch Selbstmord getötet. Taten, wie die in Halle, sollen durch verstärkte Beobachtung verhindert werden. Was tun wir, um jährlich 10000 Menschen vor dem Suizid zu bewahren?
Gigerenzer kommt jedoch zu dem Schluss: "Wenn ein Konflikt zwischen der Vernunft und einer starken Emotion vorliegt, verzichte auf Argument. Mache dir lieber eine grundsätzliche und stärkere Emotion zunutze."
In seinem Buch zeigt er aber auch, dass 1. Jeder den Umgang mit Risiko und Unsicherheit lernen kann. 2. Experten eher Teil des Problems sind als die Lösung. Und 3. Weniger mehr ist.
In diesem Sinne würde ich mir Vorschläge von Politikern und Journalisten wünschen.
Zum Schluss noch eine Bemerkung zu der aus meiner Sicht Verengung des Tätermotivs auf den Antisemitismus. Es gibt (fast) keinen Artikel und (fast) kein Statement, die nicht darauf eingehen. Seine Tat wird in einen direkten Zusammenhangmit dem Holocaust gestellt. Der bis dahin unbekannte junge Mann hat doch "tatsächlich den Holocaust geleugnet". Diese Feststellung hat mich an einen Sketch aus dem Film "Das Leben des Brian" erinnert, wo der Delinquent ein bestimmtes Wort gesagt hat und sofort bestraft wird. Im Holocaust sind jedoch 6 Mio. Menschen planmäßig mit Hilfe ausgeklügelter Logistik und wissenschaftlicher Methoden bestialisch ermordet worden. Wenn die Tat von Halle durch Politiker und Journalisten in einen solchen Zusammenhang gestellt wird, ist das nicht in Wahrheit eine viel größere und bewusstere Leugnung oder Verharmlosung des Holocausts?
Kommentare 4
Ideologie, auch menschenverachtende, lässt sich nicht verbieten. Man muss sie den Leuten argumentativ "austreiben". Doppelmoral, Doppelstandards und auch gut gemeinte Dogmen erweisen sich dabei immer wieder als Eigentor. Dort liegt unser Problem!
"Man muss sie den Leuten argumentativ "austreiben"."
Was in den Köpfen und eingefrorenen Herzen drin ist, lässt sich nur selten wieder exorzieren.
Was schafft den Platz für solche "Ideologien"?
Dem ersten Teil Ihrer Aussage würde ich widersprechen. Die Stimme der Vernunft ist viel zu leise. Es sind ja nicht so sehr Ideologien, die solche Taten verursachen, sondern Emotionen, die jeglichen Argumenten unzugänglich sind. Der junge Mann folgte den Prämissen der Aufmerksamkeitsökonomie. Ein Angriff auf eine Synagoge ist viel wirkungsvoller, als ein solcher auf einen Dönerstand. Beim Umgang mit den "Dönermorden" der NSU konnte man das sehr gut beobachten. Andererseits hatte er keine Schwierigkeiten, unbeteiligte Passanten auf der Straße oder im Dönerimbiss als Ersatzziel zu wählen, wobei ihm die nichtjüdische Herkunft völlig Schnuppe war. Unsere Medien und Politiker tun alles, um das zu verschleiern. Wir haben Angst, uns einzugestehen, dass es in der Mitte unserer Gesellschaft Menschen gibt, die sich nicht zugehörig fühlen und die uns das mit Gewalt heimzahlen wollen. Nicht jeder an den Rand Gedrängte hat verinnerlicht, dass das sein "ihm zustehender Platz" ist und lässt die anderen in Ruhe.
Das Problem der Doppelmoral ist hingegen evident für den Umgang unserer Politiker und der Medien mit solchen Ereignissen. Hier hilft nur, "die Mühen der Ebene" nicht zu scheuen, und immer wieder darauf aufmerksam machen, andere Menschen mitzunehmen auf diesen Weg.
"Was schafft den Platz für solche "Ideologien"?"
Hier wäre erst einmal zu fragen, ob wirklich eine Ideologie ausschlaggebend war. In Osteuropa haben bis zum 2. Weltkrieg Einheimische unterschiedlicher Nationalität und Juden über lange Zeiträume friedlich zusammengelebt. Von Zeit zu Zeit brachen jedoch wie aus heiterem Himmel Pogrome aus, die sich gegen genau diese Juden richteten, mit denen man friedlich zusammengelebt hatte und dann wieder weiter lebte. Joseph Roth hat das in seinen Romanen sehr gut beschrieben. Eginald Schlattner hat es in "Der geköpfte Hahn" eindringlich dargestellt, wie die transsylvanische Gesellschaft nach dem 2. Weltkrieg insbesondere aus Deutschland vergiftet worden ist. Aber auch die Rumänen waren urplötzlich sehr nationalistisch eingestellt.
Einen besonderen Roman hat der Isländer Eiríkur Örn Norddahl mit "Böse" geschrieben. Darin verknüpft er die Massaker an der jüdischen Bevölkerung, die im Baltikum während der deutschen Besatzung vor allem von Einheimischen durchgeführt worden sind, mit der Verführbarkeit heutiger Jugendlicher in Europa.
Hier wäre unser gesamtes kulturelles Erbe auf den Prüfstand zu stellen. Antisemitismus und christliche Religion sind so sehr verwoben, dass eine Trennung kaum möglich scheint. Wie kann man aber eine Brandmauer errichten, welche dieses Virus im Zaum hält?