Stell Dir vor, die Welt hat sich verändert…

und keiner nimmt es wahr. In der vergangenen Woche hat der russische Präsident Putin eine Rede an die Nation gehalten, von der er ca. ein Drittel zur Vorstellung neuer Waffensysteme verwendete.

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Um die Auswirkungen dieser Ankündigung in ihrer ganzen Dimension verständlich zu machen, muss man etwas weiter ausholen. Leider habe ich dazu noch keinen fundierten Artikel in den deutschen Qualitätsmedien gefunden. Im Internet sind z. B. bei Consortiumnews.com drei ausführliche Artikel zu finden.

Bis zum Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts haben sich die beiden damaligen Großmächte mit so vielen atomaren Sprengköpfen aufgerüstet, dass die Welt mehrfach vernichtet werden konnte. Anfang der 70er Jahre tauchte die Möglichkeit auf, gegnerische Raketen abwehren zu können. Hier muss man sich die Dialektik von Angriffs- und Verteidigungswaffe klar machen. Jede Atomrakete ist eine Angriffswaffe. Wenn der Gegner allerdings mit gleichen Waffen zurückschlagen kann, dann ergibt ein Angriff damit keinen Sinn. Wenn ich jedoch zur Verteidigung gegnerische Raketen abschießen kann, bevor sie ihr Ziel erreichen, dann wird die Verteidigungs- zur Angriffswaffe. Aus dieser Logik heraus schlossen die USA und die UdSSR den Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (Anti-Ballistic Missiles, ABM). Jeder Seite wurde ein solches System zugestanden. Die UdSSR schütze damit Moskau, die USA bauten es zum Schutz eigener Abschussrampen. Das damit einhergehende System der gegenseitig zugesicherten Vernichtung (mutually assured destruction; MAD) bedeutet in der Rückübersetzung aus dem englischen: wahnsinnig. Aber dieser Wahnsinn bewahrte die Welt wahrscheinlich vor einem alles vernichtenden Atomkrieg. Er hielt auch nach dem Ende der UdSSR in den 90er Jahren, in denen eine große Anzahl der Atomwaffen beider Seiten vernichtet wurden.

Erst im Jahr 2002 änderte sich alles, als der amerikanische Präsident Bush jr. diesen Vertrag einseitig kündigte. In den Folgejahren wurden amerikanische Raketenabwehrsysteme auf Schiffen installiert und können so an beliebigen Orten in unbegrenzter Zahl stationiert werden. Russland wurde mit der Zeit fast vollständig mit landgestützten Systemen eingekreist. Auch wenn diese Abwehrraketen nominell Defensivwaffen sind, führen sie doch zur Fähigkeit, einen Erstschlag anzudrohen, ohne einen wirksamen Gegenschlag hinnehmen zu müssen. Europa ließ sich vor den Karren der Amerikaner spannen, indem in Rumänien und in Polen solche Raketen aufgebaut wurden. Das Besondere dieser Abschussrampen ist noch, dass sie für den Gegner fast ununterscheidbar auch mit Mittelstreckenraketen bestückt werden können, in deren Reichweite Moskau liegt.

Wenn man das berücksichtigt, wird klar, dass der russische Präsident Putin 2007 in München auf taube Ohren stieß, als er die Hinwendung zu einer multipolaren Welt als machbare Vision vorstellte. Der Westen hörte im Bewusstsein seiner eigenen Stärke gar nicht zu.

In der letzten Woche hat der russische Präsident Putin 5 Waffensysteme vorgestellt, die das Potenzial haben, eine multipolare Welt zu erzwingen. Außerdem wird damit das amerikanische Politikmodell, als Indispensible Nation die Welt nach eigenem Gusto zu führen, zunichte gemacht.

Die erste Waffe ist eine Interkontinentalrakete mit zehn einzeln lenkbaren Sprengköpfen, die nicht von jetzt oder in naher Zukunft existierenden Abwehrsystemen getroffen werden können. Jede Rakete verfügt in Summe über die Sprengkraft, einen Staat von der Größe Frankreichs oder Texas vollständig zu vernichten.

Die zweite Waffe ist ein unbemanntes und nicht ortbares U-Boot, welches atomar bestückt ist. Damit kann ein gesamter Flugzeugträgerverband vernichtet werden, ohne dass dieser die Gefahr überhaupt bemerkt. Somit sind die teuersten Waffensysteme, mit denen die USA bisher kleinere Staaten einschüchtern konnten, wirkungslos geworden. Ebenso können die seegestützten Raketenabwehrsysteme unschädlich gemacht werden. Länder wie Bolivien, Nordkorea oder auch der Iran brauchen sich vor Flugzeugträgern nicht mehr zu fürchten. Was das für die Weltpolitik bedeutet, ist noch gar nicht absehbar. Diese U-Boote können aber auch eingesetzt werden, um Küstenstädte zu vernichten. Ein Blick auf die Landkarte genügt, um zu sehen, dass fast alle bedeutenden Städte der USA potenzielle Ziel sind.

Präsident Putin wandte sich in seiner Rede mit den Worten an den Westen: "Obwohl wir die zweitgrößte Nuklearmacht geblieben sind, wollte niemand uns hören. Mit uns wollte niemand sprechen. Hören Sie uns jetzt zu!"

Eine multipolare Welt ist nicht nur Vision, sondern wird jetzt auch materiell gestützt. Diese Schlussfolgerung ist in deutschen Medien nirgends zu finden. Stattdessen wird aus der NYT und WaPo abgeschrieben, dass das alles nur ein großer Bluff (simple Cartoons) sei und nichts davon real. Aber welcher Politiker, der noch bei Verstand ist, wird diesen Bluff abrufen wollen. Vor einer militärischen Auseinandersetzung kommt es darauf an, was der Gegner glaubt, was ihn erwartet. In dieser Hinsicht steht die Welt heute vielleicht näher am nuklearen Abgrund als jemals in der bisherigen Geschichte.

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