Das Ende vom Ende der Geschichte

Istanbul Die Abkehr der Türkei vom Westen markiert eine Zeitenwende

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Im Jahre 1992 schloss der amerikanische Politologe Francis Fukuyama aus dem nahezu vollständigen Zusammenbruch des realsozialistischen Systems, dass die geschichtliche Entwicklung demnächst an ein Ende kommen würde. Der wirtschaftliche und politische Liberalismus, sprich: Marktwirtschaft und Demokratie, hätten gesiegt, eine nennenswerte Gegenströmung gäbe es nicht mehr. Daher würden sich nun die Demokratie und Marktwirtschaft westlicher Prägung über die ganze Welt ausbreiten und sobald sie sich universell durchgesetzt hätten, geschähe nichts mehr. Diese These wurde in ihrer Absolutheit zwar nie von anderen, einigermaßen vernünftigen politischen Beobachtern geglaubt. Aber noch im Juni 2014 behauptete Josef Joffe in Der Zeit, dass Fukuyama bezüglich des Siegeszuges von Demokratie und Marktwirtschaft im Wesentlichen Recht behalten habe. Es gäbe inzwischen 120 Demokratien, viermal mehr als 40 Jahre zuvor, auch wenn nicht jede das Prädikat „Westminster“ verdiene.

Der Begriff der „Westminster-Demokratie“ lädt mich zu einer nötigen Abschweifung ein. Fukuyamas These hat nämlich eine ganze Generation von Politikern geprägt, neben Hillary Clinton auch diejenigen, die an eine immer größere und immer enger verflochtene Europäische Union glaubten. Durch das Brexit-Referendum in der ursprünglichen Westminster-Demokratie ist dieser Prozess zum ersten Mal umgekehrt worden. Die Europäische Union wird nun kleiner und zwar deutlich, was Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft betrifft. In Großbritannien selbst bröckeln einige Charakteristika, die dem Westminster-System auf Wikipedia zugeschrieben werden.

Der Brexit verblasst als politischer Wendepunkt jedoch noch gegen den „Putschversuch“ vom 15./16. Juli in der Türkei, denn hier kehrt sich der Trend zur Demokratie westlicher Prägung weltgeschichtlich um. Natürlich findet eine solche Umkehr nicht an einem Tag statt. Ein dramatisches Ereignis kann den Umkehrprozess jedoch plötzlich deutlich machen.

Die westliche Demokratie in der Krise

Glaubt eigentlich tatsächlich jemand, bei der Stichwahl zum Amt des Österreichischen Bundespräsidenten habe es nur ein paar formelle Unregelmäßigkeiten gegeben und das Verfassungsgericht habe deshalb die ganze Stichwahl für ungültig erklärt und für die Zukunft die Bekanntgabe von Teilergebnissen der Wahl vor der Gesamtauszählung untersagt? Immerhin klafften zwei Teilergebnisse in statistisch sehr auffälliger Weise auseinander, das vorab bekannt gegebene aus den Wahlkabinen und das erst am Folgetag ausgezählte der Briefwahl. Und dieses statistisch schiefe Ergebnis wollen Meinungsforscher bereits vor Schließung der Wahllokale vorhergesagt haben- womit? – mit einem statistischen Modell doch wohl! Mit Verlaub, dieses statistische Modell würde ich gern sehen.

Was die bevorstehende Präsidentschaftswahl in den USA betrifft, so hat die Washington Post vor einigen Tagen die Ergebnisse mehrerer Umfragen zur Kandidatin Hillary Clinton veröffentlicht. Eine davon ist 68:30 ausgegangen. Gefragt worden war, ob die Kandidatin Hillary Clinton ehrlich und vertrauenswürdig sei. Liebe Leser, Sie ahnen auf welche der Antworten 68% entfallen sind. Die Alternative für die USA hieße allerdings Donald Trump. Können die USA unter diesen Umständen noch als stabile Demokratie bezeichnet werden?

Nun handelt es sich hier nur um zwei anekdotische Ereignisse. Man muss die Augen aber sehr fest verschließen, wenn man ähnliche Muster in anderen westlichen Ländern nicht bemerken will. Politik und Medien haben dramatisch an Vertrauen verloren. Das könnte daran liegen, dass die westlichen Politiker und Medien heute weniger Vertrauen verdienen als 1992 oder 1962, oder aber daran, dass die Bevölkerung sich heute vielseitiger informieren kann und Vertrauensbrüche eher bemerkt. Ich persönlich glaube Letzteres. Wichtig ist hier aber nur, dass das westliche System in den letzten Jahren erheblich an Attraktivität verloren hat, und zwar sowohl bei den eigenen Bürgern als auch von außen gesehen. Das muss man bedenken, wenn man die relative Attraktivität Erdogans in der türkischen Bevölkerung und unter den in Deutschland lebenden Türken verstehen will. Oder auch die Haltung vieler Russen zu Putin.

Putschversuch oder Putsch von oben?

Wie die Hurriyet Daily News berichtete, hat der Staatsanwalt der türkischen Stadt Edirne behauptet, CIA und FBI hätten Gülen-Anhänger für den Putsch ausgebildet. Dabei hat er sich ausdrücklich auch auf die Ereignisse des 17. Dezember 2013 bezogen, als Gülen-Anhänger im Justizapparat konzertiert Korruptionsvorwürfe gegen Erdogan-Treue im Staatsapparat erhoben hatten. Dieses Ereignis war mit einem sehr schnellen und lauten Echo in westlichen Medien verbunden, welche ein halbes Jahr zuvor auch die Gezi-Proteste lautstark propagiert hatten. In beiden Fällen bestand kein Zweifel daran, auf wessen Seite die westlichen Meinungsmacher standen.

Ich weiß so wenig wie Sie, was nun genau in der Nacht vom 15. zum 16. Juli 2016 in der Türkei geschehen ist. Ich neige eher nicht zu der Ansicht, amerikanische Dienste seien in die Auslösung dieses Putsches involviert gewesen – es wäre ein Beispiel an Dilettantismus wie es seit der Schweinebucht-Invasion vom 17.-19. April 1961 nicht mehr vorgekommen ist. Dass allerdings die schon Jahre andauernde Meinungsmache gegen Erdogan in westlichen Mainstream-Medien organisiert ist, dürften nur wirklich Naive bezweifeln. Wenn Informationskrieg ein mögliches Geheimdienstinstrument ist, warum sollten die bestenfalls lose kontrollierten Geheimdienste westlicher Länder auf dieses Instrument verzichten?

Wahrscheinlich ist daher, dass Erdogan spätestens in der zweiten Jahreshälfte 2013 den Angriff von US-Geheimdiensten auf seine Machtposition erkannt hat. Die USA hatten allerdings kein Interesse daran, in der Türkei Gülen an die Macht zu bringen. Er und seine Bewegung sollten als nützliche Idioten bei einer Destabilisierung dienen, nach der das Militär in bewährter Weise die Ordnung hätte wiederherstellen können. Das ist in der Türkei ja mehrfach passiert und es war immer eine NATO-Armee, die da putschte. Erdogan gelang es 2013 allerdings, die versuchte Destabilisierung abzuwehren. Die Ereignisse der letzten beiden Wochen legen nun nahe, dass es ihm anschließend auch gelang, eine Struktur im türkischen Geheimdienstes aufzubauen, die gegen die US-Dienste abgeschirmt war. Aus dieser Struktur dürfte das Netz möglicher Putschisten unterwandert worden sein, so dass der Putschversuch von innen sabotiert werden konnte. Möglicherweise haben die V-Leute selbst den Putsch zu einem Zeitpunkt ausgelöst, an dem Erdogan starken Rückhalt in der Bevölkerung genoss, also zu einem Zeitpunkt, an dem kein Möchtegern-Putschist ernsthaft in Erwägung ziehen würde, loszuschlagen.

Was auch immer in der Nacht vom 15. zum 16. Juli geschehen ist, die anschließenden Säuberungen sind von langer Hand und sehr gründlich vorbereitet worden. Sie hätten in dieser Form nicht durchgeführt werden können, ohne dass vorher ein Putschversuch gescheitert war. Auch das legt nahe, dass Erdogan zumindest vorab von den Putschplänen wusste oder dass seine eigenen Leute den Putsch ausgelöst haben. Inwieweit westliche Geheimdienste vorher im Bild waren, ist selbstredend unbekannt. Man kann aber sicher schließen, dass sie entweder diese für den Westen wichtigste Entwicklung der letzten Jahre verschlafen haben oder dass sie nicht die Mittel hatten, das Fiasko zu verhindern. Wenn man weiß, wie dicht die Netzwerke der USA in den Machtstrukturen der ihnen verbündeten Länder im Allgemeinen sind (siehe Gladio), dann erstaunt diese Schwäche.

Die Säuberungen und was darauf folgt

Erdogans Säuberungen richten sich in erster Linie gegen die Netzwerke der USA und anderer westlicher Staaten in der Türkei und erst in zweiter Linie gegen das Gülen-Netzwerk, das sich für die Destabilisierungsstrategie des Westens hatte instrumentalisieren lassen. Weder Erdogan noch der Westen haben derzeit ein Interesse, in ihrer Propaganda den ersten Aspekt hervorzuheben. Erdogan möchte in den westlichen Ländern keine stärkere antitürkische Stimmung erzeugen als ohnehin unvermeidlich ist und westliche Regierungen möchten die massive Niederlage nicht offen zugeben, die ihre Anti-Erdogan-Strategie erlitten hat. Um zu verstehen, warum Erdogan 58000 Personen aus ihren Positionen entfernt hat, muss man wissen, wie ein politisches Netzwerk funktioniert. Der Mechanismus ist ein allgemeiner und trifft gleichermaßen auf Erdogans eigenes Netzwerk zu, aber hier ist es zweckmäßig, ihn am Beispiel der US-Netzwerke in verbündeten Ländern zu erklären.

Ein Teil dieser Netzwerke ist der Öffentlichkeit bekannt, als Beispiel kann man die Atlantik-Brücke in Deutschland nennen. Die Mitgliedschaft in einem solchen Verein ist einer Karriere im Staat, in den Medien oder in der Wirtschaft bis in die höchsten Positionen sehr förderlich. Wichtige Funktionsträger dokumentieren damit öffentlich, dass sie Garanten gegen jeden Politikwechsel sind, der den Interessen der USA schaden könnte. Dadurch ist weniger herausgehobenen Funktionsträgern bekannt, dass es auch ihrer Karriere nutzt, diese Haltung einzunehmen, zumindest öffentlich. Der Zweck der öffentlichen Repräsentation des Netzwerks ist es also, Mitläufer in großer Zahl zu erzeugen. Häufig haben die Mitläufer ihre Haltung verinnerlicht. Sie sind keine Befehlsempfänger, insbesondere diejenigen in den Medien nicht. Die Tendenz der Medien kommt dadurch zustande, dass Funktionsträger ihre Organisation mit Leuten ergänzen, die ähnlich denken wie sie. Wenn in einer Organisation alle die gleiche Meinung zu den Grundfragen haben, dann lässt sich die Meinung zu fast jeder Detailfrage durch Äußerungen sehr weniger zuverlässiger Loyalisten setzen.

Ein anderer Teil des Netzwerks wird geheim gehalten. Das am besten bekannt gewordene Beispiel dieser Art ist die inzwischen aufgelöste Propaganda Due in Italien, deren Mitglied zum Beispiel auch Silvio Berlusconi war. Ein solcher Teil des Netzwerks ist mit den Geheimdiensten und dem Militär des Landes verknüpft. Sein Zweck ist, Operationen durchzuführen, die der Öffentlichkeit nicht bekannt werden dürfen. Ferner soll dieser Teil möglichst jegliche Machtbeteiligung von Kräften verhindern, welche den USA nicht wohl gesonnen sind, zumindest aber deren direkte Machtübernahme. Dazu wird notfalls Gewalt eingesetzt, auch wenn diese Kräfte auf demokratischem Weg an die Macht gelangt sind.

Ein politischer Führer, der den USA nicht wohl gesonnen ist oder zumindest in den Sicherheitsstrukturen der USA so eingeschätzt wird, kann dauerhaft nur an der Macht bleiben, wenn er diese Netzwerke zerstört. Das ist eine Frage des „wir oder sie?“. Diese Frage wird nur selten die Seite für sich entscheiden, welche die größeren Skrupel hat. Wie viele Skrupel sich Erdogan leisten kann, das kann man abschätzen, wenn man die Geschichte von Propaganda Due und Gladio kennt oder auch die jüngere Geschichte der „farbigen Revolutionen“ in Osteuropa und des „Euro-Maidan“.

Warum glaube ich nun, dass die Säuberungen sich in erster Linie gegen die westlichen Netzwerke richten und nicht gegen Gülen-Anhänger? Erstens ist das die rationale Stoßrichtung, denn die westlichen Netzwerke können auf viel größere Ressourcen zurückgreifen und sind deshalb gefährlicher. Zweitens gibt es ausreichend viele Indizien. Hier soll genügen, was laut FAZ der Nationale Geheimdienstdirektor der USA, James R. Clapper, jüngst auf einer Sicherheitskonferenz öffentlich aussprach: viele Kontakte der US-Geheimdienste in der Türkei sind entlassen oder verhaftet worden. Die anti-westliche Stoßrichtung ist auch aus den wiederholten Ereignissen um die Luftwaffenbasis Incirlik abzulesen. Die logische Konsequenz dieser Stoßrichtung ist, dass die Türkei sich nach den Säuberungen und der inneren Konsolidierung vom Westen abwenden wird. Dazu muss der Putschversuch schon jetzt mit dem Westen verknüpft werden, was Erdogans Propaganda nach Ausweis der New York Times augenscheinlich gelungen ist. Solange die neuen Strukturen noch nicht konsolidiert sind, wäre es allerdings gefährlich, die Abkehr zu vollenden. Die von der türkischen Seite derzeit verfolgte Strategie des „Zwei Schritte vorwärts, ein Schritt zurück“ ist erfolgversprechender, insbesondere wenn die Schritte nach vorn Tatsachen schaffen, während die Schritte zurück rein verbal bleiben.

Wird die Türkei die NATO verlassen?

Die Nahoststrategie der USA steht im eklatanten Widerspruch zu den nationalen Interessen der Türkei. Die USA haben seit 2006 auf einen Regimewechsel in Syrien hingearbeitet und nach der Eskalation 2011 die Türkei überzeugt, sich gegen die Assad-Regierung zu stellen. Ob dabei Druck ausgeübt wurde, wissen wir nicht. Noch 2009 hatte die Türkei gemeinsame Militärmanöver mit Syrien durchgeführt. Nachdem die Türkei mit der Führung ihres Nachbarlands gebrochen hatte, war es für sie von immenser Bedeutung, dass es auch zum Regimewechsel kommen würde. Spätestens seit Anfang September 2013 ist offensichtlich, dass der Westen die nötigen Ressourcen dafür nicht mobilisieren kann. Damals fanden zuerst Cameron in Großbritannien und dann Obama in den USA keine Parlamentsmehrheiten für ein direktes Eingreifen, nachdem der Vorwand bereits geschaffen worden war. Obama lenkte ein, bevor es zu Abstimmungen in Repräsentantenhaus und Senat kam. Unabhängig von moralischen Erwägungen, nach denen Obamas Entscheidung richtig war, ist es ein schwerer strategischer Fehler, eine solche Aktion erst vorzubereiten und dann nicht zu vollenden. Ein politisches System muss sich intern vorab einigen können, ob ein solcher Kurs verfolgt wird oder nicht. Inzwischen hat sogar der CIA-Direktor John Brennan öffentlich zugegeben, dass die USA die Idee eines Regimewechsels aufgegeben haben, wenn auch in einer indirekten Formulierung. Er sei nicht optimistisch, sagte Brennan am 29. Juli 2016, dass Syrien wieder vereinigt werden könne. Diese Aussage kann man als Offenlegung eines Strategiewechsels werten, nach dem die USA nun versuchen, im Ostteil Syriens Verbündete an die Macht zu bringen und diesen abzuspalten. Dieser Strategiewechsel ist in den Sicherheitsstrukturen der USA wahrscheinlich bereits im Herbst 2013 erfolgt. Ein Teil der US-Verbündeten sind kurdische Gruppen, die vom Westen bewaffnet und ausgebildet werden und die im Erfolgsfall ein zusammenhängendes autonomes Kurdengebiet in Teilen des ehemaligen Irak und des ehemaligen Syrien beherrschen werden. Im Westen Syriens wird Assad seine Macht konsolidieren, nachdem die Opposition in Aleppo geschlagen ist.

Für die Sicherheit der Türkei ist das eine katastrophale Entwicklung. Zudem machen die Luftangriffe gegen den IS aus Incirlik heraus die Türkei zu einem Ziel für Terroranschläge des IS. Die Türkei kann keinerlei Interesse daran haben, dass diese Angriffe weitergeführt werden und auch keines, dass die Strategie der USA aufgeht. Sie täte gut daran, sich mit Assad wieder zu arrangieren, wobei die Allianz mit dem Westen stört.

Gegen eine Abkehr von der NATO sprechen die waffentechnische Abhängigkeit vom Westen und der aus einer Abkehr folgende Verlust eines wichtigen strategischen Vorteils, der Unangreifbarkeit. Diese Nachteile müssten durch neue Bündnisse kompensiert werden. Da China aus geografischen Gründen kein geeigneter Partner ist, kommen hauptsächlich Russland und Iran in Frage, die ihrerseits einer Normalisierung der Beziehungen zu Assad förderlich wären. Nicht zufällig waren diese beiden Staaten die ersten, die sich während des Putschversuchs hinter Erdogan stellten und zwar mit unmissverständlichen Formulierungen. Solche Formulierungen fanden westliche Regierungen auch dann nicht, als der Putschversuch bereits gescheitert war. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass der Westen die jüngsten Putschpläne befördert hat, wohl aber dass westliche Politiker wissen, welche Stoßrichtung die Säuberungen haben.

Erdogan wird kaum von sich aus ein Ausscheiden der Türkei aus der NATO verkünden. Er hat aber ein Interesse daran, den Ausschluss zu provozieren. Die Eskalation entsprechender Provokationen wird er vermutlich hinauszögern, bis das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in den USA feststeht. Wegen der strategischen Lage der Türkei und ihrer riesigen Streitkräfte hat die NATO ein immenses Interesse, das Land nicht zu verlieren. Die Provokationen können deshalb sehr weit gehen. Die NATO und die USA sind in gewissem Ausmaß durch die Türkei erpressbar geworden. Eine westliche Überreaktion auf Erpressungsversuche könnte mit einem Ausschluss der Türkei aus der NATO enden. Wenn es nicht so weit kommt, so wird die Türkei gegenüber dem NATO-Kommando und den USA eine Unabhängigkeit gewinnen, wie sie zuletzt Frankreich nach 1957 unter de Gaulle genoss.

Aus all dem folgt, dass deutsche Politiker irren, wenn sie glauben, sie könnten Erdogan für sein Verhalten bestrafen, indem die Bundeswehr aus der Türkei abgezogen würde. Einen solchen Abzug versucht Erdogan gerade mit allen möglichen Mitteln zu erreichen.

Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU

Ein anderer Irrtum europäischer Politiker ist, dass Erdogan oder die AKP noch irgendein Interesse an einer EU-Beitrittsperspektive hätten. Die Inaussichtstellung einer späteren EU-Mitgliedschaft wurde schon zu lange benutzt, um die Türkei zu Zugeständnissen zu nötigen. Eine stets 20 Zentimeter vor dem Eselsmaul hängende Karotte ist eben irgendwann nicht mehr als leckeres Futter glaubwürdig. Abgesehen davon ist eine EU-Mitgliedschaft in den letzten Jahren nicht eben attraktiver geworden. Beitrittsverhandlungen sind nunmehr kein mögliches Druckmittel der Türkei gegenüber.

Wiederum wird Erdogan vermutlich nicht von sich aus das Ende des Beitrittsprozesses verkünden. Für ihn ist es viel günstiger, wenn die Initiative von Österreich oder der CSU in Deutschland ausgeht, zumal die darauf folgenden Auseinandersetzungen in der EU seine Gegner schwächen. Schon jetzt musste Jean-Claude Juncker dem österreichischen Kanzler Kern mit einem Kommentar antworten, der zwar strategisch richtig ist, aber in der Öffentlichkeit kaum verstanden werden wird. Denn auch die EU kann kein Interesse daran haben, als der am Abbruch schuldige Partner gesehen zu werden. Für Erdogan sind wiederum Provokationen die günstigste Strategie. Er wird Zugeständnisse verlangen oder alte eigene Zugeständnisse annullieren, bis die EU von sich aus den Prozess beenden muss, um sich nicht völlig unmöglich zu machen. Eine Abkehr von der EU ist für die Türkei mit überschaubaren Nachteilen verbunden, eine stärkere Zuwendung zu Russland (von dort bezieht die Türkei die meisten Importe) und zum Iran (ihr zweitgrößter Exportmarkt) könnte diese Nachteile je nach der zukünftigen Entwicklung dieser Länder kompensieren.

Fazit

Die Türkei wendet sich gerade von den politischen Strukturen und dem Sicherheitssystem des Westens ab. Ob diese Abkehr in den nächsten Monaten auch formell vollendet wird, ist nicht entscheidend. Erdogan hat bereits jetzt eine Unabhängigkeit von den USA und anderen westlichen Ländern gewonnen, die im westlichen Bündnissystem nicht vorgesehen ist, die er aber auch nicht kampflos aufgeben wird. Diese Entwicklung fällt mit einer inneren politischen Krise der westlichen Länder zusammen und wird den globalen Machtverlust des Westens beschleunigen. Die Zeit, in der die Demokratie westlicher Prägung global auf dem Vormarsch war, ist vorbei.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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