Das gefährliche Wahlergebnis

Kiew Die Parlamentswahlen in der Ukraine sind ausgegangen wie das Hornberger Schießen. Das verheißt nichts Gutes.

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Ich weiß es, aber ich sag' es nicht

Am 30. Oktober hätte das Ergebnis der Parlamentswahlen vom 26. Oktober bekanntgegeben werden sollen. Die Zentrale Walkommission, die schon am Wahltag angedeutet hatte, sich viel mehr Zeit lassen zu wollen, hat das aber nicht getan. Es seien erst 99,42% (Wikipedia) bzw. 99,7% der Stimmen (Glavcom) ausgezählt. Offenbar ließ sich der Rest auch bis zum Freitagabend nicht auszählen. Das lässt sich schwer anders erklären als durch die Annahme, die Zentrale Wahlkommission wolle den Politikern Zeit für Sondierungen einräumen, bevor die Zusammensetzung des Parlaments endgültig klargestellt wird. So ungewöhnlich das ist, so nötig könnte es in der Ukraine bei dieser Wahl sein.

Wer hat denn nun gewonnen?

Herausgestellt wird in den westlichen und ukrainischen Medien vor allem das Ergebnis der Parteilisten, über das allerdings nur die Hälfte der Sitze gefüllt wird. Hier hat die Volksfront von Jazenjuk mit 22,16% der Stimmen einen hauchdünnen Vorsprung vor dem Block Poroschenko mit 21,83%. Multipliziert man Jazenjuks Anteil mit der Wahlbeteiligung und berücksichtigt man die Ergebnisse, die seine Politik seit Ende Februar für die Ukraine hatte, so kommt man nicht umhin, bei 11,34% der ukrainischen Wahlberechtigten die Diagnose eines Stockholm-Syndroms zu stellen. In allen Wahlumfragen, die letzte davon lief vom 12.-21.10., hatte die Volksfront noch unter 10% gelegen. Die Unterstützung für den Block Poroschenko, die Ende September noch bei 30-40% lag, war im Laufe des Oktober schon in den Umfragen kollabiert.

Jazenjuk fühlt sich nun als Wahlsieger und behauptet das auch öffentlich, gleichwohl ist er es nicht. Der Block Poroschenko hat nämlich deutlich mehr Direktmandate (69 gegenüber 18) gewonnen und somit insgesamt 132 Abgeordnete, während die Volksfront es auf 82 bringt. Die Unlogik der Argumentation, mit der Jazenjuk trotzdem die Führung beansprucht, überrascht weder in der ukrainischen Politik im Allgemeinen noch bei Jazenjuk im Speziellen. Von ihm haben wir seit dem Januar dieses Jahres viele völlig unlogische Argumente zu den verschiedensten Fragestellungen gehört. Insofern ist er der legitime Nachfolger von Julia Timoschenko. Bedenkt man, wozu das entsprechende Verhalten Timoschenkos nach der orangenen Revolution geführt hat, schwant einem nichts Gutes.

Ferner liefen: Die Selbshilfe-Partei des Lwiwer Bürgermeisters (10,91%, 1 Direktmandat, 33 Sitze), der Anti-Maidan Oppositionsblock (9,40%, 2 Direktmandate, 27 Sitze), die Radikale Partei Oleh Liaschko (7,45%, kein Direktmandat, 22 Sitze), die Vaterland-Partei von Julia Timoschenko (5,68%, 2 Direktmandate, 17 Sitze). Alle anderen Parteien scheiterten an der 5%-Hürde.

Moment, haben Sie mitgezählt? Wir sind jetzt bei 313 Abgeordneten. Hatte die Werchnowa Rada nicht 450? Nun gut, sie hat diesmal nur 423. Die 12 Sitze für die Krim und Sewastopol bleiben leer. Ferner konnte in 9 Wahlbezirken der Oblast Donezk und in 6 Wahlbezirken der Oblast Luhansk nicht gewählt werden. Daher kommen die insgesamt 27 leeren Sitze. Es fehlen aber immer noch 110 Abgeordnete.

Die an der 5%-Hürde gescheiterte nationalistische Swoboda hat es auf 6 Direktmandate gebracht, die meisten in der Westukraine, aber eines auch in der Zentralukraine. Weitere Direktmandate gingen an die Starke Ukraine von Tihipko (1), die Agrarpartei Spaten (1), die nicht mit einer Parteiliste angetretene Partei Volia (1) und an den Führer des Rechten Sektors Dmitri Jarosch. Letzterer gewann in der Region Vasylkivka der Oblast Dnjepropetrowsk mit 29,76% aller Stimmen. Ein Schelm, wer denkt, da sei etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen. In einem Staat, der mit der EU ein Assoziierungsabkommen hat, wird doch kein Ergebnis eines Wahlbezirks zugunsten eines ultrarechten Kandidaten manipuliert. Es fehlen immer noch 100 Sitze. Davon sind 96 an unabhängige Kandidaten gefallen! Die Differenz von vier Sitzen in diesem auf der Wikipedia publizierten Ergebnis ist mir nicht klar. Die 198 zu vergebenden Direktmandate tauchen dort alle auf. Das legt nahe, dass von den Wikipedia-Autoren bei der proportionalen Vertretung falsch gerundet wurde, was leicht passieren kann, weil das korrekte Runden bei einer proportionalen Sitzverteilung auf sechs Parteien nicht trivial ist.

Zurück zu der Frage, wer denn nun gewonnen hat. Das hängt ganz davon ab, wer wie viele der unabhängigen Kandidaten auf seine Seite ziehen kann, um es mal neutral auszudrücken. Auch das hat Tradition in der Ukraine. Mehrheiten werden durch etwas gemacht, was man schwer anders bezeichnen kann als das Kaufen von Abgeordneten. Genau deshalb wird jetzt Zeit gebraucht, ehe das offizielle Wahlergebnis bekanntgegeben wird. Es macht nämlich einen besseren Eindruck, wenn das Geschachere vorher diskret stattfindet, als hinterher kommentiert von den Medien.

Gibt es eine stabile Koalition?

Die Mehrheit dafür liegt bei 212 Sitzen. Der Block Poroschenko und die Volksfront liegen zusammen bei 214, wenn man Wikipedia glaubt. Rundet man richtig, werden es wohl eher 215 oder 216 sein. Komfortabel ist das für ukrainische Verhältnisse nicht, zumal beide Parteien mit vielen Kandidaten angetreten sind, die sich erst in letzter Zeit zu ihnen gesellt haben, aus den verschiedensten Gründen, von denen Machtopportunismus ein prominenterer sein dürfte. Insbesondere die Volksfront hat einige radikal anti-russische Abgeordnete, die eine von Poroschenko angestrebte und ökonomisch dringend nötige Verständigung mit Russland nicht akzeptieren werden. Auch das dürfte ein Grund gewesen sein, das endgültige Wahlergebnis noch nicht bekanntzugeben und schnell noch den dringend nötigen Gasliefervertrag mit Russland zu unterzeichnen. Die Bedingungen sind nämlich haargenau diejenigen des letzten russischen Angebots vom Juni, das die Jazenjuk-Regierung damals abgelehnt hatte. Unter dem Druck der EU, die gedroht hatte, ihre Reexporte russischen Gases an die Ukraine einzustellen, wurde dieses Angebot nun im politischen Schwebezustand von einer Regierung auf Abruf angenommen.

Wegen der knappen und potentiell unsicheren Mehrheit und dem dadurch großen Erpressungspotential radikaler Volksfront-Abgeordneter werden sowohl Jazenjuk als auch Poroschenko versuchen, unabhängige Abgeordnete für die Koalition zu gewinnen. Jazenjuk hat den zusätzlichen Anreiz, dadurch mehr Gewicht in der Koalition bekommen zu können. Dass er allerdings 50 zusätzliche Abgeordnete mehr als Poroschenko auf seine Seite zieht und damit die Mehrheit in einer Zweier-Koalition stellen kann, ist nur mathematisch möglich. Sehr viele der unabhängigen Abgeordneten werden nämlich weder Poroschenko noch Jazenjuk zur Verfügung stehen, weil sie aus der Ostukraine stammen und ganz einfach deshalb gewählt wurden, weil sie Anti-Maidan sind.

Nehmen wir an, dass Poroschenko und Jazenjuk es zusammen zu einer stabilen Mehrheit an Abgeordneten bringen, die einen Koalitionsvertrag tragen, der dem kleinsten gemeinsamen Nenner der beiden Parteien entspricht. Dann können sie eine Regierung bilden. Wird diese Regierung mittelfristig stabil sein? Das würde überraschen. Nach der orangenen Revolution 2004 gab es eine ähnliche Situation und zumindest Jazenjuk ist ein ähnlicher Charakter wie damals Timoschenko. Zum persönlichen Machtanspruch und politischen Ehrgeiz der beiden Führungspersönlichkeiten kommt noch hinzu, dass beide Lager in wichtigen Richtungsfragen nicht übereinstimmen. Sagen wir es klar heraus: sie sind sich in der Frage von Krieg oder Frieden nicht einig. Vor der Wahl ließ sich das irgendwie überbrücken, eben weil es vor der Wahl war. Nun sind die Würfel gefallen, keiner kann ohne den anderen regieren und der Gegensatz besteht weiter. Jazenjuk kann nicht einlenken, denn die Volksfront ist ja gerade um die Kriegsposition herum geschmiedet worden. Vermutlich hat sie sogar deshalb in der West- und Zentralukraine unerwartet viele Stimmen gewonnen. Poroschenko kann auch nicht einlenken, denn diejenigen, die ihn bei dieser Wahl unterstützt haben, haben das genau wegen seiner Friedensposition getan.

Gegen Poroschenko geht gar nichts, nicht nur, weil er Präsident ist. Die radikal antirussischen Kräfte können wohl kaum 212 Sitze erreichen. Sie haben mit dem Block Poroschenko, dem Oppositionsblock und der Starken Ukraine bereits 162 Abgeordnete sicher gegen sich. Sie müssten mindestens 47 der 96 unabhängigen Kandidaten in ihre Koalition einbinden und dann müssten sich erst noch Jazenjuk und Timoschenko einigen können. Dass so etwas zu einer stabilen Regierungsmehrheit führt, ist nicht wahrscheinlich, zumal kaum einer der unabhängigen Kandidaten stark antirussisch eingestellt sein dürfte.

Hat die ukrainische Bevölkerung tatsächlich eine pro-europäische Richtungsentscheidung getroffen?

Die westlichen Medien und die meisten ukrainischen Medien wollen uns das zwar weismachen, es ist aber nicht der Fall. Die Wahlbeteiligung lag bei 51,2%. Bei der Wahl 2012, die Janukowitschs Partei der Regionen gewonnen hatte, waren es noch 57,99%. Bei der Wahl 2007 waren es noch 63,22% gewesen. Auch damals war die Partei der Regionen stärkste Kraft geworden, der pro-europäische Block insgesamt war aber knapp stärker. An der Wahl 2006 hatten sich 67,22% beteiligt. Bedenkt man weiterhin, dass 48,48% der Direktmandate an unabhängige Kandidaten gingen, darf man wohl schlussfolgern, dass eine Mehrheit der wahlberechtigten Ukrainer allen zur Wahl stehenden Parteien misstraut. Obwohl ich kein Anhänger der rational choice Theorie in den Politikwissenschaften bin, finde ich dieses Ergebnis völlig rational. Gleichwohl hätte ich selbst mich überwunden, wenn ich Ukrainer wäre, hätte an der Wahl teilgenommen und sowohl bei der Parteiliste als auch beim Direktkandidaten den Block Poroschenko gewählt. Natürlich misstraue auch ich Poroschenko, aber die Ukraine braucht jetzt vor allem eines, Stabilität, und er wäre noch am Ehesten in der Lage gewesen, diese herzustellen. So wie die Wahl nun ausgegangen ist, wird aber auch Poroschenko das Land nicht stabilisieren können.

In Bezug auf die gespaltene Meinung zwischen der West- und Zentralukraine auf der einen und der Ostukraine auf der anderen Seite, braucht man sich nur die Regionsgrafik zum Wahlergebnis anzusehen. Große Teile der Ostukraine, einschließlich der Oblast Dnjepropetrowsk, aber ohne die Region Vasylkivka, sind an den Oppositionsblock gefallen.

Fazit

Mit der Auflösung des Parlaments und vorgezogenen Neuwahlen hat Poroschenko einen Befreiungsschlag versucht. Dieser Versuch ist missglückt. Im neuen Parlament gibt es keine stabile Mehrheit für eine Regierungsbildung. Gleichwohl sind Poroschenko und Jazenjuk dazu verdammt, zusammen weiter zu machen. Man möchte ungern sagen „wie bisher“, aber genau so ist es. Vermutlich wird Jazenjuk darauf bestehen, wieder Premierminister zu werden und vermutlich wird Poroschenko das sogar akzeptieren müssen. Die wirtschaftlichen und außenpolitischen Probleme der Ukraine werden sich dadurch weiter verschärfen. Für die Pleite, auf die das schließlich hinauslaufen wird, haften finanziell in erster Linie die reicheren EU-Staaten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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