Der sehr kalte Krieg um die Ukraine

Kiew Die Ukraine steht im nächsten Winter vor einer Knappheit ihrer beiden wichtigsten Energieträger. Nun kommt auch noch der Gasrückfluss aus Polen ins Stocken.

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Nach Angaben der U.S. Energy Information Administration aus dem März diesen Jahres deckte die Ukraine bisher 40% ihres Primärenergieverbrauchs mit Erdgas, 28% mit Kohle und 18% mit Kernkraft. Zur Produktion von Elektroenergie tragen fossile Energieträger mit 46% bei. Am heutigen Tag hat laut Glavcom der Vize-Premier Viktor Groisman, ein Vertrauter von Präsident Poroschenko, das Defizit an Kohle bis zum Jahresende auf mindestens 5 Millionen Tonnen geschätzt. Bei einem Jahresverbrauch 2013 von 37.642 Millionen Tonnen sind das etwa 13%. Die Lage ist aber kritischer, als diese Prozentzahl nahe legt, denn bis zum April war die Ukraine noch ein Kohleexporteur, der etwa 10 Millionen Tonnen pro Jahr ausgeführt hat. In den Wintermonaten Anfang des Jahres war der Bedarf also noch gedeckt. Daraus folgt, dass in den Wintermonaten Ende des Jahres die Deckungslücke bei etwa einem Viertel des Bedarfs liegen dürfte.

Der Grund für den drastischen Einbruch der Kohleproduktion sind die Kämpfe im Donezbecken. Falls der Waffenstillstand hält und sich Kiew und die Separatisten auf einen minimalen modus vivendi einigen können, werden die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk ein Interesse daran haben, die Kohleproduktion so schnell wie möglich wieder in Gang zu bringen, und alles, was über den Eigenbedarf hinausgeht und nicht nach Russland exportiert werden kann, an Kiew verkaufen. Falls nicht, kommt wohl das Wörtchen „mindestens“ in Groismans Verlautbarung zur Geltung und die Deckungslücke nimmt katastrophale Ausmaße an.

Jazenjuk hatte schon zuvor verlautbart, dass die Ukraine mit Südafrika einen Vertrag über die Lieferung von 1 Million Tonnen Kohle für ihre Wärmekraftwerke abgeschlossen hat. Dies sei zwar teuer, aber notwendig. Groisman nannte nun Australien und Neuseeland als weitere mögliche Lieferanten.

Das Ausmaß des Problems kann man daran ermessen, dass 2013 etwa 2,2% der Exporterlöse der Ukraine durch Kohle erwirtschaftet wurden. Hier fallen also nicht unbeträchtliche Einnahmen aus, während Ausgaben in ähnlicher Größe neu dazukommen. Etwa 33% der Exporterlöse entfielen auf Metalle, vor allem Eisen und Mangan, und auch dabei kam der größte Teil aus dem Donezbecken. Insgesamt trugen die Regionen Donezk und Luhansk ein Viertel aller Exporterlöse der Ukraine bei. Kommt es nicht bald zu einer Einigung mit dem Donbass, so muss die Ukraine wohl oder übel ihr Gesamtimportvolumen drastisch einschränken, während sie die Kohleimporte ausweiten muss.

Tatsächlich hat die Ukraine ihr Importvolumen seit dem Frühjahr bereits erheblich eingeschränkt und das hängt mit dem zweiten fossilen Energieträger zusammen. Seit Mitte Juni liefert die russische Gazprom kein Erdgas mehr, nachdem die Ukraine ein letztes Angebot abgelehnt hatte, auf Vorkasse zu 385,5 US$ je 1000 Kubikmeter zu kaufen. Die Schulden der Ukraine bei Gazprom beliefen sich zu diesem Zeitpunkt auf 5,3 Milliarden US$. Im Sommer hat die Ukraine den Gasverbrauch dadurch eingeschränkt, dass bespielsweise in Kiew in den Wohnungen kein warmes Wasser mehr zur Verfügung gestellt wurde.

Das deutsche Unternehmen RWE und der staatliche polnische Gasversorger PGNiG haben seit April Gas in die Ukraine reexportiert, allerdings nur einen Bruchteil der Menge, die zuvor aus Russland beschafft wurde. Über den Preis dieser Lieferungen scheint nichts bekannt zu sein. Seit dem 1. September reexportiert die Slowakei über eine lokale Pipeline Gas in die Ukraine. In diesem Fall ist etwas über den Preis bekannt, er liegt „höher als“ 360 US$ je 1000 Kubikmeter. Die Slowakei verstößt mit diesem Reexport wohl nicht gegen ihre Verträge mit Gazprom. Allerdings kann sie nur etwa 20% des Bedarfs abdecken. Bei RWE lässt sich kaum nachweisen, ob das Unternehmen russisches Gas reexportiert, weil ein großer Teil des RWE-Gases aus Norwegen und anderen westeuropäischen Ländern stammt. Nach einem Vertrag von 2012 könnte RWE bis zu 10 Milliarden Kubikmeter an die Ukraine exportieren, was knapp 27% des Jahresverbrauchs von 2013 wären. Allerdings scheint RWE diese Kapazität bei weitem nicht zu haben. Bereits im Vorjahr hat RWE in die Ukraine exportiert, allerdings nur 1 Milliarde Kubikmeter.

Im Falle von Polen, das nach Zahlen der Financial Post vom März diesen Jahres etwa 54,2% seines Erdgases aus Russland importiert, ist weniger klar, ob Reexporte in die Ukraine gegen Verträge mit Gazprom verstoßen. Jedenfalls hat Polen gestern den Gasrückfluss in die Ukraine gestoppt. Als Grund gab die staatliche polnische Gasgesellschaft PGNiG laut Bloomberg Businessweek an, dass Gazprom die Lieferungen stark gekürzt habe. Gazprom hat das mit einer eher durchsichtigen Antwort dementiert. Man könne aus Kapazitätsgründen dem polnischen Wunsch nach Ausweitung der Lieferungen im September nicht nachkommen, da man derzeit die Untergrundspeicher in Russland auffüllen müsse. Man geht wohl kaum fehl in der Annahme, dass es sich dabei um eine Retourkutsche für die neue Sanktionsrunde der EU gegen Russland handelt.

Um 20:18 Uhr Kiewer Ortszeit meldete Glavcom, dass die polnischen Reexporte vielleicht schon morgen wieder aufgenommen werden, falls Polen von Russland 5 Millionen Kubikmeter pro Tag zusätzlich erhalte. Daran würde gerade gearbeitet. Jazenjuk hat heute Abend den Europarat aufgefordert, doch bitte etwas zu tun. Für die Ukraine sein der Gasrückfluss aus dem Westen eine „Frage der nationalen Sicherheit“. Selbst wenn aber der polnische Reexport wieder in Gang kommt, der slowakische auf voller Kapazität läuft und RWE die Kapazität auf 10 Milliarden Kubikmeter ausweiten kann, muss man von einer Deckungslücke von mindestens einem Drittel des Bedarfs der Ukraine ausgehen, so lange diese nicht wieder bei Russland kaufen kann. Wahrscheinlich ist die Deckungslücke aber wesentlich größer. Selbst Jazenjuk hat am 23. August gesagt, die Ukraine müsse diesen Winter unbedingt 5 Milliarden Kubikmeter Gas in Russland kaufen. Eine Weile kann die Ukraine von ihren Gasreserven zehren, allgemein wird aber angenommen, dass diese bereits im Dezember verbraucht sein werden.

Wahrscheinlich muss man den verzweifelten Versuch der Kiewer Kräfte, unter eigenen hohen Verlusten die Separatisten vor dem Winter zu besiegen, auch vor diesem Hintergrund sehen. Nachdem dieser Versuch durch die Gegenoffensive der Separatisten ab dem 23./24. August endgültig gescheitert ist, lässt sich das Energieproblem für den kommenden Winter nicht mehr lösen, ohne einen Kompromiss mit Russland zu schließen. Der ebenfalls verzweifelte Versuch, die Alternativen zu Russland so weit wie nur irgend möglich auszuschöpfen, ist nötig, damit dieser Kompromiss nicht zu ungünstig für die derzeitigen Machthaber in Kiew ausfällt.

Nicht alle haben verstanden, was die Stunde geschlagen hat, Poroschenko aber schon. Heute ließ der ukrainische Präsident verlauten, etwa 70% der russischen Truppen hätten das Land bereits verlassen. Die Grenztruppen behaupteten im Gegenteil, weitere russische Truppen und Technik seien in die Ukraine eingedrungen. Das war ja auch seit Wochen die offizielle Propagandalinie. Nachdem Glavcom über den Widerspruch berichtet hatte, meldete sich der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat über seinen Sprecher Lyssenko zu Wort und behauptete, die Informationen der Grenztruppen seien „veraltet“. Gleichzeitig sagte Lyssenko, man habe derzeit gar keinen genauen Überblick, wie groß die Bewegungen von Militärtechnik über die Grenze in die eine oder andere Richtung seien. Damit dementierte er nicht nur seine Grenztruppen, sondern auch seinen Präsidenten.

Die Zeichen mehren sich, dass die Führung der Ukraine ihre antirussische Politik wird abbrechen müssen, weil diese ökonomisch nicht tragbar ist. Letzteres hätte man freilich schon im November 2013 nach einem einzigen Blick auf die ukrainische Import-/Exportstatistik schließen können. Tatsächlich hatte der damalige Präsident genau diesen Schluss gezogen. Was nun? Zurück auf Los.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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