Die zerstörte Brücke

Donbass Eine kleine Meldung wirft ein Schlaglicht auf den Informationskrieg.

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Unter vermischten Meldungen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine meldete FAZ.NET heute, dass die ukrainische Armee im Gebiet Donezk eine Eisenbahnbrücke gesprengt und dabei einen russischen Güterzug getroffen habe. Es handle sich um eine Brücke über den Siwerskyj Donez zwischen den Orten Lyman und Rajhorodok im Osten der Ukraine. Damit sei die Eisenbahnverbindung nach dem Epizentrum der Kämpfe in Lyman zerstört. Anhand dieser Meldung lässt sich erklären, wie im Krieg gelogen wird, warum man Zeitungsmeldungen gegenrecherchieren muss und wo die Grenzen solcher Gegenrecherchen liegen.

Ein kurzer Blick auf die Karte zeigt, dass die Meldung keinen Sinn ergibt. Der Siwerskyj Donez und Rajhorodok liegen westlich von Lyman und nur wenige Kilometer östlich der Stadgrenze von Sloviansk. Wenn die ukrainischen Truppen Sloviansk halten und um Lyman gekämpft wird, ist diese Eisenbahnlinie derzeit eine ukrainische Nachschublinie und keine russische. Gemäß liveuamap.com stehen die russischen Truppen zur Zeit drei Kilometer östlich von Lyman. Die Karte auf militaryland.net verortet die Frontlinie genauso. Irgendetwas stimmt hier nicht, aber was?

FAZ.NET bezieht sich auf die „Ukrajinska Prawda“ und das Online-Portal “Hromadske”. Die Ukrajinska Prawda spricht von ukrainischen Kämpfern, welche die Brücke zerstört hätten und einem russischen Frachtzug, der zerstört wurde und bezieht sich ihrerseits auch auf “Hromadske”. Sie bildet aber auch eine Karte ab, welche die FAZ-Journalisten gesehen haben müssen. Diese Journalisten hätten also eigentlich bemerken müssen, dass dort etwas nicht stimmt. “Hromadske” verlinkt ein Video. Das Video zeigt eine zerstörte Brücke, auf der sich einige Güterwagen befinden. Der Untertitel enthält allerdings etwas weniger Information, als die “Ukrajinska Prawda” und “Hromadske” angeben. Dort heißt es lapidar: “Die Eisenbahnbrücke Lyman-Rajhorodok über den Siwerskyj Donez ist zerstört wurden. Die Brücke wurde zusammen mit Waggons gesprengt. Es ist nun unmöglich geworden, Lyman zu erreichen, das im Epizentrum der Kämpfe im Donbass liegt.” Dieser Untertitel entspricht fast dem, was man auf dem Video sieht. Man muss nur davon absehen, dass das Video aus einem Auto aufgenommen wurde, welches auf der parallelen Straßenbrücke der T0514 aus Richtung Lyman kommend in Richtung Rajhorodok/Sloviansk fuhr. Es ist also nicht unmöglich geworden, Lyman zu erreichen. Es geht nur nicht mehr mit der Bahn. Aus welcher Richtung der zerstörte Zug kam, ist nicht genau zu erkennen. Am Westende des liegengebliebenen Zugs befindet sich allerdings ein Waggon und keine Lok, das Ostende liegt im Wasser. Es erscheint damit wahrscheinlicher, dass der Zug von Westen nach Osten fuhr.

“Hromadske” wiederum bezieht sich auf einen Bericht von “Novosti Donbassa”. Dort findet sich auch ein Link auf das Video und zusätzlich ein Foto, das die Rauchwolke der Explosion zeigt. Schließlich erfährt man dort auch, woher die Information nun wirklich stammt. Das Foto war in sozialen Netzwerken im Umlauf (Telegram). Das Video haben Journalisten der “Novosti Donbassa” auf Telegram gestellt. Sie geben nicht an, wer die Brücke gesprengt hat und wessen Zug das war. Diese Information hat “Hromadske” hinzugefügt. “Hromadske” ist ein Internet-TV-Sender, der laut Wikipedia im November 2013 während der Maidan-Krise gegründet wurde. Nach Eigenangaben stammten die Finanzmittel mehrheitlich von den Botschaften der USA und der Niederlande in der Ukraine und von der George-Soros-Stiftung. 2015 und 2016 beteiligte sich dann auch die deutsche Botschaft in der Ukraine. Der Sender hat die Maidan-Krise befeuert. “Hromadske” schreibt, ukrainische Kämpfer hätten die Brücke gesprengt. Diese Information sei von der OOS-Pressestelle bestätigt worden. Zur Herkunft des Zuges macht “Hromadske” keine Angaben. Die OOS (englisch: Joint Forces Operation) ist die Bezeichnung für die Militäroperation, welche die Ukraine seit 2014 gegen die Donbass-Separatisten führt. Sie hieß ursprünglich ATO (Anti-Terroristische Operation), musste aber umbenannt werden, damit das ukrainische Militär vom Geheimdienst SBU die Federführung übernehmen konnte. Die Information, es sei ein russischer Zug gewesen, taucht erstmals bei der “Ukrajinska Prawda” auf, ohne dass etwas zur Herkunft dieser Information gesagt wird. Die ganze Sache ist ein wenig wie “Stille Post”.

Lässt sich angesichts all dessen herausbekommen, was wirklich geschehen ist? Mit Sicherheit kann man es natürlich nicht sagen, aber ein Szenario ist klar das wahrscheinlichste. Zunächst einmal darf man davon ausgehen, dass tatsächlich diese Brücke zerstört wurde und dass sich währenddessen ein Zug auf der Brücke befand. Die “Novosti Donbassa” konnten kein Video einer anderen Brücke ins Netz stellen, ohne sich bei ihren lokalen Lesern unmöglich zu machen. Einige von ihnen hätten das sofort bemerkt und die sozialen Netzwerke hätten den Rest getan. Aus dem gleichen Grund werden die Waggons nicht ins Video hineingefälscht worden sein. Andere Leute können nachschauen. Es gibt dann nur noch drei Möglichkeiten. Variante 1: Es handelte sich tatsächlich um einen russischen Zug und tatsächlich haben ukrainische Kämpfer die Brücke gesprengt, wie “Hromadske” und die “Ukrajinska Prawda” behaupten. Variante 2: Ukrainische Kämpfer haben die Brücke gesprengt, der Zug war aber ebenfalls ein ukrainischer. Variante 3: Die Brücke und der Zug sind einem russischen Angriff zum Opfer gefallen.

Variante 1 lässt sich mit hoher Sicherheit ausschließen. Ein russischer Zug würde diese Brücke nur passiert haben, wenn wenigstens der Brückenkopf auf der anderen Uferseite, also Rajhorodok in russischer Hand wäre. Dann stünden die russischen Truppen praktisch am Stadtrand von Sloviansk. Das widerspricht nicht nur der militärischen Lage, die der ukrainische Generalstab schildert. Es wäre dann auch unwahrscheinlich, dass die Journalisten der “Novosti Donbassa” ohne Weiteres aus dem Auto auf der parallelen Brücke ein Video der zerstörten Eisenbahnbrücke drehen konnten. Dieses Gebiet wäre dann auf russischer Seite unmittelbar hinter der Frontlinie gelegen. An dieser Stelle können wir bereits feststellen, dass die “Ukrajinska Prawda” gelogen hat. Der Zug war ein ukrainischer.

Variante 2 ist diejenige, in der die “Ukrajinska Prawda” gelogen hat, nicht aber “Hromadske” und der Pressestelle der OOS. Auch das ist unwahrscheinlich. Wenn ein ukrainischer Güterzug diese Brücke passiert hat, handelte es sich um Nachschub für die Frontlinie. Falls die ukrainische Seite aus irgendeinem Grund die Brücke sprengen wollte, hätte sie es nicht gerade zu diesem Zeitpunkt getan. Zudem ergibt es keinen Sinn, vor einem zu erwartenden heftigen Kampf um Lyman die eigene Nachschublinie zu sprengen. Daran würde man höchstens dann denken, wenn man den sehr baldigen Fall von Lyman erwarten würde. Selbst dann würde man nur Sprengladungen an der Brücke anbringen und den Fall der Stadt abwarten. Auch “Hromadske” hat also sehr wahrscheinlich gelogen. Falls sie tatsächlich die Pressestelle der OOS gefragt haben, können wir feststellen, dass auch die Pressestelle der OOS über den Vorfall gelogen hat.

Die wahrscheinlichste Erklärung bietet Variante 3. Die ukrainische Seite hatte angenommen, diese Eisenbahnlinie sei noch sicher und hat einen Zug mit Nachschub darüber geschickt. Das war töricht. Die russischen Truppen befinden sich nach Karten des Frontverlaufs nur 10 Kilometer Luftlinie entfernt von der Brücke. Sie werden die Brücke ins Visier genommen und darauf gewartet haben, dass ein Zug kam. Dann haben sie Brücke und Zug getroffen. In dieser Variante würde folgen, dass die russischen Truppen Schwierigkeiten beim Kampf um Lyman erwarten. Sonst ergäbe es wenig Sinn, eine Eisenbahnbrücke zu zerstören, die man nach der Einnahme von Sloviansk selbst brauchen wird.

Nach der bis heute morgen vorliegenden Karteninformation ist Lyman jetzt tatsächlich vom ukrainischen Bahnnetz abgeschnitten. Die Strecke nach Norden haben die russischen Truppen bereits lange unter Kontrolle, die Strecke nach Osten hatten sie nach den Karten auf militaryland.net zwischen dem 26. und 27. April bei Yampil unterbrochen. Dadurch ist auch die Versorgung von Lysychansk und Sivierodonezk erschwert, obwohl dies Städte weiterhin Eisenbahnverbindung auf einem Umweg haben. Die Karten vom 26. bis zum 28. April sind bei militaryland.net allerdings heute nachträglich so verändert worden, dass es dort nun so erscheint, als sei die Bahnlinie bei Yampil nie von russischen Truppen unterbrochen gewesen. Auf liveuamap.com hingegen ist die Bahnlinie von Lyman nach Osten weiterhin als von russischen Truppen unterbrochen dargestellt. Ich erwarte, dass auch auf liveuamap.com bald neu gezeichnet wird. Diese Geschehnisse zeigen, dass man mit derartigen Karten des Frontverlaufs sehr vorsichtig sein muss. Weder liveuamap.com noch militaryland.net ist eine neutrale Quelle.

Aus einer weiteren Perspektive zeigt dieses Ereignis, warum Regierungen in sozialen Netzwerken eine Gefahr sehen. Diese verbreiten Informationen, wie hier diejenige von der Zerstörung der Eisenbahnbrücke, die man gern verschwiegen hätte und auf die man dann irgendwie reagieren muss. Solche Reaktionen können schief gehen. Wer immer im OOS die Anfrage von “Hromadske” beantwortet hat, war sich der Weiterungen seiner Antwort nicht bewusst. Auch bei “Hromadske” hat niemand tiefer nachgedacht. Regierungen hätten ihre Bürger lieber etwas uninformierter. Wenn schon Wissen nicht unbedingt Macht ist, so ist doch Unwissen immer Machtlosigkeit.

Nachtrag

Am 30. April, 16:23 Uhr Kiewer Zeit hat die "Ukrajinska Pravda" dann ein Richtigstellung veröffentlicht. Ein Presseoffizier der OOS habe einen Fehler gemacht. Die Brücke sei zum Zeitpunkt des Angriffs der Okkupanten mit leeren Güterwagen blockiert gewesen. Bei "Hromadske" erschien die Richtigstellung 15:51 Uhr Kiewer Zeit. Die ursprüngliche Meldungen stammten vom 29. April 20:59 Uhr (Ukrajinska Pravda) und 20:41 Uhr (Hromadske) sowie vom 30. April 5:26 Uhr (FAZ.net). Eine Richtigstellung bei FAZ.net habe ich nicht auffinden können.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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