Geschichten aus dem Tollhaus

Der ewige Brexit Das Mutterland der parlamentarischen Demokratie führt dieselbe ad absurdum.

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So habe ich in Valencia einen schlecht getroffenen Stier sterben sehen. Zwei Degen und ein abgebrochener staken ihm schon im Rücken, aber immer noch stand er mit zitternden Beinen an der Schranke, unsäglich allein, auf nichts mehr achtend, und hustete schwallweise Blut; hustete wie ein Mensch. Die Arena zitterte buchstäblich von Pfiffen. Nochmals versuchte einer aus der verlegenen Gruppe der Stierkämpfer sein Glück, tastete lange mit der Degenspitze zwischen den Wirbeln des Tiers und ließ den Arm schnellen. Da stak der vierte Degen, aber der Stier legte sich nicht.

Adolf Musch, in anderem Zusammenhang, in Der Sommer des Hasen

Dem britischen Unterhaus ist es gelungen, die Presse des Landes zu einigen, von links bis rechts, die Presse zu einigen in der Verdammung dieses Parlaments als Narrenhaus. Einige deutsche Journalisten sehen das anders, zum Beispiel Herr Frankenberger von der F.A.Z. Angesichts der offen liegenden Tatsachen sagt das ja auch etwas aus, wenn auch nicht über das britische Unterhaus.

Die ganze Brexit-Saga wird als eine unwahrscheinliche Serie politischer Fehleinschätzungen in die Geschichte eingehen. Es fing mit Cameron an, der die Stellung des Vereinigten Königreichs zur EU endlich klären wollte. Vor allem wollte er aber wohl die Gefahr einer Spaltung oder Lähmung der britischen Konservativen wegen dieser Frage abwenden. Dafür wählte er die Form eines Referendums, wohl glaubend, er als Remainer und Premierminister werde es sicher gewinnen. Über die Unwägbarkeiten und über die Konsequenzen eines anderen Ausgangs scheint er wenig nachgedacht zu haben.

Es ist auch nicht sehr wahrscheinlich, dass er bei einem Sieg der Remainer die Tories geeinigt hätte. Schon die Vorbereitung des Referendums hatte zu einer Polarisierung geführt, nach der niemand mehr kompromissfähig war und die heute klar als erster Degen im Rücken des Stiers zu erkennen ist. Dabei betrachte ich die britische Demokratie ausnahmsweise einmal nicht als Löwe oder Einhorn, sondern als Stier.

An dieser Stelle sollte ich vielleicht sagen, wie ich als Brite abgestimmt hätte: Schweren Herzens für Remain. Schweren Herzens deshalb, weil die EU ja tatsächlich erhebliche Demokratiedefizite aufweist und EU-Brüssel diese Defizite mit Nachdruck in die Mitgliedsländer exportiert. Weil eben dieses EU-Brüssel von Technokraten und Bürokraten geführt wird, die kaum Beziehungen zur Lebenswirklichkeit der meisten EU-Bürger haben, dafür aber hervorragende Beziehungen zu zahlreichen Lobbyverbänden. Dennoch – die EU ist in der Summe ein Gewinn für ihre Mitgliedsländer. Churchill paraphrasierend könnte man sagen, dass sie das schlechteste Sicherheits- und Wirtschaftssystem für Europa ist, mit Ausnahme aller anderen, die in der Geschichte bereits ausprobiert wurden.

Nachdem die maßgeblich von Boris Johnson geführte Brexit-Seite gewonnen hatte, wurde innerhalb der Tories durch ein klassische Intrige verhindert, dass er sofort Premierminister wurde und damit Verantwortung für das übernahm, was er angerichtet hatte. Stattdessen setzte man mit May auf eine Remainerin. Das geschah vermutlich auch aus der durchaus nachvollziehbaren Überlegung, dass so am Ehesten ein Kompromiss zu erreichen sei, der die Wunden in der britischen Gesellschaft heilen würde, die das Rerefendum aufgerissen hatte.

May machte ihre Sache anfangs auch sehr gut. Sie akzeptierte das Votum und setzte, da sie in einer schwachen Verhandlungsposition war, auf eine harte Verhandlungslinie. Das war strategisch richtig. In der Folge machte sie zwei Fehler. Der erste war katastrophal, der zweite angesichts der bereits bestehenden Situation tödlich. Ihr erster Fehler war es, in einer volatilen Situation auf Neuwahlen zu setzen, um ihre Parlamentsmehrheit auszubauen, was ihre Verhandlungsposition gestärkt und die Annahme des verhandelten Abkommens durch das Parlament erheblich wahrscheinlicher gemacht hätte. Sie verspekulierte sich genauso, wie sich Cameron verspekuliert hatte. Da sie nun keine eigene Mehrheit mehr hatte, setzte sie auf eine nordirische Splitterpartei, was die Verhandlungen und die Annahme des Abkommens schwieriger machen musste. Hier war der katastrophale Fehler vollendet und es steckte der zweite Degen im Stierrücken.

Statt die neue Situation zu analysieren und von vornherein eine Verhandlungsposition zu suchen, für die sie eine Parlamentsmehrheit organisieren konnte, hielt May nach der verlorenen Wahl an ihrer Verhandlungstaktik und ihren Verhandlungszielen fest. Das war der tödliche Fehler für sie als Premierministerin und für die Remainer unter den Tories. Sie ging davon aus, dass ihre eigene Partei sie nicht fallenlassen würde und dass es selbst bei Problemen mit den Nordiren genug Abgeordnete anderer Parteien geben würde, die in so einer wichtigen nationalen Frage die Regierung stützen würden. Das wäre früher in Großbritannien auch ganz sicher so gewesen. Es war also kein dummer Fehler, aber ein tödlicher Fehler war es doch.

May verhandelte im Prinzip erfolgreich. Sie bekam das, was das Vereinigte Königreich in der EU nicht hätte bekommen können, was aber eigentlich im besten Interesse des Landes lag: Weiter de facto zum Wirtschaftssystem der EU zu gehören, ohne die Freizügigkeit der Arbeitskräfte akzeptieren zu müssen, ohne vollständig an die EU-Gesetzgebung gebunden zu sein und ohne auf längere Sicht finanzielle Beiträge an die EU leisten zu müssen. Diese Lösung räumte die Probleme aus, derentwegen die meisten Brexit-Anhänger im Referendum so gestimmt hatten, wie sie gestimmt hatten. Sie hätte auch für die Remainer akzeptabel sein müssen.

Es gab aber zwei Probleme. Die Remainer gedachten nicht, sich an die demokratischen Spielregeln zu halten und die Abstimmungsniederlage im Referendum als solche zu akzeptieren. Sie hofften, wider alle Vernunft, den Brexit noch verhindern zu können. Unter den Brexiteers hingegen gab es viele, die eine ganz andere Agenda verfolgten, als aus ihren Argumenten vor dem Referendum folgte. Sie wollten unbedingt eine sehr weit reichende außenwirtschaftliche Handlungsfähigkeit Großbritanniens, die mit einer wie auch immer gearteten Bindung an den EU-Binnenmarkt nicht kompatibel war. Angesichts des Verlusts der Industriekapazität Großbritanniens in den letzten Jahrzehnten ist dieser Wunsch nicht ganz unverständlich. Es lässt sich aber nicht argumentieren, dass der Ausgang des Referendums ein Mandat dafür ist. Remainer und Brexiteers wollten jeweils auf der ganzen Linie gewinnen, statt einen Kompromiss zu finden, mit dem alle einigermaßen leben konnten. So kann parlamentarische Demokratie nicht funktionieren.

Es kam unerwartet, aber im Nachhinein betrachtet (with hindsight) wohl doch so, wie es kommen musste. Die Brexiteers unter den Tories argwöhnten, May habe einen Brexit verhandelt, der so nahe wie eben möglich an einem Remain war. Das stimmt sogar, war aber angesichts des knappen Ausgangs des Referendums auch die vernünftigste Lösung. Sie verweigerten ihrer Premierministerin die Gefolgschaft – dreimal, ehe der Hahn krähte. May ging, Johnson kam. Der dritte Degen steckte im Rücken des Stiers und es war ein abgebrochener, den man nicht wieder hinausziehen konnte.

Entgegen der landläufigen Meinung hat Boris Johnson bisher keinen weiteren strategischen Fehler begangen. Er hat seine Parlamentsmehrheit verloren, er hat ein Verfahren über Verfahrensfragen verloren und er hat eine ganze Reihe von Parlamentsabstimmungen verloren. Nichts davon ist tödlich, weder für ihn als Politiker, noch für seine gewünschte Brexit-Linie. Hinter Johnsons “Get Brexit done”-Linie steht zwar keine Parlamentsmehrheit mehr, wohl aber eine Bevölkerungsmehrheit. Johnson hat so geschickt verhandelt, erst mit Irland und dann mit der EU, und so brillant die politische Situation erfasst, dass er entgegen allen vorherigen Beteuerungen auf EU-Seite eine Bewegung der EU-Verhandlungslinie zugunsten des Vereinigten Königreichs erreicht hat.

Den Hauptgrund dafür findet man nicht in deutschen Medien, auch nicht in britischen. Die EU hat ein erhebliches Interesse daran, dass Großbritannien baldmöglichst ausscheidet und ein ebenfalls erhebliches Interesse daran, dass es mit einem Vertrag ausscheidet. Beides konnte Johnson anbieten. Auf der EU-Seite gibt es auch keine Remain-Illusionen und inzwischen nur noch wenige Remain-Interessenten. Frankreich hat aus machtstrategischen Erwägungen ein großes Interesse an einem Brexit. Und die EU-Seite würde durch eine weitere Verzögerung des Brexit auch eine Verzögerung ihrer Planungen für die nächste Legislatur- und Budgetierungsperiode erleiden. Das neue Parlament und die neue Kommission wären in den Monaten paralysiert, in denen man eigentlich die Neuausrichtung auf den Weg bringen müsste und würden gleich am Anfang den Schwung verlieren. Hinter dem Brexiteer Johnson steht nun also auch – die EU.

Die EU-Seite hatte gehofft, dass Johnson am Samstag den Vertrag durch das Unterhaus bringt. Mehrere einflussreiche EU-Vertreter hatten das, mehr oder weniger deutlich, öffentlich gesagt. Wenn auch nur ein Funke Vernunft vorhanden gewesen wäre, hätte es geschehen müssen. Nun steckt stattdessen ein vierter Degen in dem Stier, der bei mir die britische parlamentarische Demokratie symbolisiert. Ein Brite, der immer noch an dieses System in seiner jetzigen Form glaubt, ist selbst so ein Narr wie die Abgeordneten, die am Samstag für eine weitere Verzögerung gestimmt haben.

Was wird geschehen? Die EU wird einen Teufel tun, eine Verlängerung zuzusagen, bevor es einige weitere Abstimmungen im Unterhaus gegeben hat. Ihr Interesse ist, wie gesagt, Johnson für die Annahme des Vertrags den Rücken zu stärken und den Brexit am 31. Oktober zu vollziehen. Jetzt ist es die EU, die gegen das Unterhaus die Drohung eines ungeregelten Brexits einsetzen wird. Wahrscheinlich ist, dass das Unterhaus unter diesem Druck, demjenigen der Presse und angesichts der vermutlich bald auftauchenden Umfragen über die Meinung der Wähler den Vertrag doch noch rechtzeitig ratifizieren wird.

Wenn aber nicht? Die EU muss dennoch nicht unbedingt einer Fristverlängerung zustimmen und schon gar nicht um drei Monate. Der eleganteste Ausweg wäre dieser: Einen wirklich ungeregelten Brexit kann es nicht geben, weil das für beide Seiten zu verlustreich wäre. Der wird nur in den Medien als Drohkulisse herumgereicht. Es muss geheime Parallelverhandlungen gegeben haben, welche Übergangsregelungen man in Kraft setzt, wenn es zu einem Brexit ohne ratifizierten Vertrag kommt. Bei aller Komplexität des Brexit ist diese Frage einfach zu beantworten. Die EU hat ja eine Übereinkunft mit der britischen Regierung, deren Umsetzung ab dem 1. November gerade vorbereitet wird. Um eine Notlage abzuwenden, hat die britische Regierung auch die Vollmacht, erst einmal genau nach dieser Übereinkunft zu verfahren. Die EU kann das Gleiche tun, denn es ist allemal besser als die Alternativen, gerade für Irland. Die EU kann sogar, wenn sie sich intern einigen kann, die Hand ausgestreckt lassen. Liebe Briten, der Brexit ist vollzogen, ein Vertrag noch nicht ratifiziert. Da der Brexit bereits vollzogen ist, kann es auch keine weiteren Verhandlungen geben. Ihr könnt aber den vorliegenden Vertrag immer noch ratifizieren, dann tun wir es auch.

Ein solches Vorhaben würde man nicht notwendigerweise vorher kommunizieren. Um Druck auf das britische Unterhaus auszuüben und eine Ratifizierung vor dem 31. Oktober zu erreichen, ist es durchaus sinnvoll, schlechtere Szenarien als Drohkulisse zunächst stehen zu lassen.

Bei Muschg bricht der Stier schließlich zusammen, woraufhin ihm jemand “mit schamvoller Hast” die Halsschlagader öffnet. Ich würde die britische parlamentarische Demokratie aber noch nicht abschreiben. Aus Fehlern kann man auch lernen. Offensichtlich funktioniert das bisherige System mit seinen ungeschriebenen Regeln nicht mehr, weil die Parlamentarier aller Seiten nicht mehr vornehm genug sind, sich an ungeschriebene Regeln zu halten. Sie besitzen auch nicht mehr den Sportsgeist früherer Generationen, eine Niederlage zu akzeptieren (das ist eine allgemeine Malaise in westlichen Gesellschaften).

Man wird deshalb, nach Neuwahlen, die Regeln kodifizieren müssen. Wenn führende britische Politiker in der Lage sind, einen Schritt zurückzutreten, nachzudenken und das zu begreifen, ist das britische parlamentarische System noch zu retten. Wenn nicht, wird die parlamentarische Demokratie in Großritannien einstürzen wie der Stier bei Muschg.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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