Hat der Westen eine Nahost-Strategie?

Paris Die Stärke des IS ist eine Konsequenz der Schwäche des Westens

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Was bisher geschah

Der Westen im politischen Sinne hat sich 1917 in der Folge des Eintritts der USA in den 1. Weltkrieg herausgebildet, mit der noch heute üblichen Formel des Kampfes friedliebender Demokratien gegen militärisch-aggressive Autokratien. Mit dem Ende des 2. Weltkrieges weitete er sich auf Deutschland und dann auch Japan aus und er erhielt mit den USA seine unumstrittene Führungsmacht. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres Satellitenstaatensystems erreichte er in den 1990er Jahren seine größte Machtenfaltung. Seit dem Beginn des neuen Jahrtausends ist er in der Defensive, geostrategisch durch das Erstarken Chinas und die Renaissance Russlands als eurasische Regionalmacht, wirtschaftlich durch die weitgehende Verlagerung der Industrieproduktion nach Asien und ideologisch durch die wachsende Attraktivität illiberaler Wertesysteme und Lebensweisen sowohl im islamisch geprägten Raum als auch in den Ländern des Westens selbst. In den letzten Jahren muss man angesichts der Uneinigkeit zwischen den Ländern des Westens und innerhalb dieser Länder sowie angesichts des Vertrauensverlusts der Bevölkerung in ihre Institutionen von einem regelrechten Niedergang sprechen.

Wie haben sich diese Zäsuren auf den Nahen Osten ausgewirkt? Ein großer Teil des Nahen Ostens war zu Beginn des 1. Weltkrieges noch unter der Kontrolle des Osmanischen Reiches, einschließlich der Gebiete des heutigen Israel, Palästina, Libanon, Jordanien, Syrien und Irak sowie Teile der heutigen Staatsgebiete von Saudi-Arabien und des Jemen. Ägypten, das zuvor ein Vizekönigreich im Osmanischen Reich gewesen war und der Sudan waren bereits unter britischen Einfluss gekommen. Im Norden hatte das Osmanische Reich während der vorhergehenden Jahrzehnte mehrere muslimisch geprägte Gebiete an das Russische Reich verloren. Kuweit, Katar und andere Teile des Jemen und Saudi-Arabiens gehörten zum britischen Imperium. Noch ein anderer Teil von Saudi-Arabien war ein unabhängiger Vasallenstaat de Osmanischen Reichs.

Das britische Imperium verfolgte im 1. Weltkrieg gegenüber dem Osmanischen Reich die Strategie, die Araber gegen die Türken aufzuhetzen. Diese Strategie war erfolgreich und führte zu einer Spaltung der muslimischen Kräfte in der Region. Die Briten entwarfen sogar die Fahne dieser Revolte, die über Jahrzehnte die Grundlage der Fahnen einiger arabisch geprägter Länder werden sollte. Bereits im Winter 1915/1916 handelten das britische Imperium und Frankreich die Aufteilung des Nahen Ostens unter sich aus. Die ursprünglich geheime Sykes-Picot-Vereinbarung vom 16. Mai 1916 wurde 1917 von der bolschewistischen Regierung des Russischen Reichs an die Öffentlichkeit gebracht. Darin wurden der größte Teil des heutigen Irak, Jordanien und ein Teil des heutigen Israel um Haifa den Briten zuerkannt, das heutige Libanon, Syrien, der Nordirak und die Südost-Türkei Frankreich. Palästina sollte unter ein internationales Mandat gestellt werden. Russland erhielt durch eine spätere Erweiterung Kenntnis, in der dem Russischen Reich das christlich geprägte Armenien zugesprochen wurde. Das Abkommen widersprach dem Hussein-McMahon Briefwechsel von 1915/1916, in dem die Briten den Arabern für die Unterstützung gegen das Osmanische Reich eine Anerkennung ihrer Unabhängigkeit versprochen hatten.

Nach dem 1. Weltkrieg wurde das Sykes-Picot-Abkommen durch Völkerbundsmandate an Großbritannien und Frankreich umgesetzt. Das Mandat für Palästina erhielt Großbritannien. Die britische Regierung erlaubte eine begrenzte Ansiedlung zionistisch gesinnter Juden in Palästina, das seit 1187 arabisches Gebiet gewesen war. Gegen die Ansiedlung begannen sich die Araber zur Wehr zu setzen, gegen ihre Begrenzung die zionistisch gesonnenen Juden. Als Weltkriegsverlierer verloren Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland, die auch versucht hatten, im Nahen Osten Einfluss zu erlangen, ihre Möglichkeit, Macht dorthin zu projizieren. Innerhalb der britischen und französischen Mandatsgebiete wurden willkürliche Grenzen zwischen Verwaltungsgebieten gezogen.

Der wirtschaftlich unbedeutende und islamistisch geprägte Norden des Jemen wurde nach dem 1. Weltkrieg unabhängig. Der strategisch und wirtschaftlich interessantere Süden blieb unter britischer Kontrolle.

Im 2. Weltkrieg konzentrierten sich die Auseinandersetzungen zwischen den Achsenmächten Deutschland und Italien auf der einen Seite und Großbritannien auf der anderen Seite auf Nordafrika, Äthiopien und Eritrea und einen deutschen Vorstoß gegen Ägypten, der nach der deutschen Niederlage in der zweiten Schlacht von El-Alamein abgebrochen werden musste. Ein möglicherweise ins Auge gefasster weiträumiger Umfassungsangriff der Wehrmacht durch den Nahen Osten gegen die Südflanke der Sowjetunion war damit unmöglich geworden, zumal nach der Niederlage von Stalingrad an offensive Großoperationen in Afrika oder dem Nahen Osten nicht mehr zu denken war.

Großbritannien griff im Nahen Osten das aus dem Krieg gegen die Achsenmächte ausgeschiedene Vichy-Frankreich an. In der Folge erklärte 1943 der Libanon seine Unabhängigkeit von Frankreich. Frankreich wurde mit Bezug auf die Kolonialtruppen des Freien Frankreich unter de Gaulle zum Weltkriegssieger erklärt, war aber wirtschaftlich und moralisch entscheidend geschwächt. 1946 musste es Syrien in die Unabhängigkeit entlassen. Das britische Mandat für Palästina und Jordanien lief 1948 aus. Für das zionistisch-arabische Problem wurde keine praktikable Lösung gefunden. Nach dem Holocaust galten die Sympathien des Westens einseitig der zionistischen Bewegung, die auch den Krieg gewann, in ihrem Sinne aber nicht vollständig. Einerseits sicherte sie sich ein zusammenhängendes und wirtschaftlich lebensfähiges Gebiet, auf dem der Staat Israel gegründet werden kann, andererseits konnte sie nicht das gesamte Gebiet unter ihre Kontrolle bringen, dass die zionistische Bewegung für Israel beanspruchte. Jordanien erlangte die Kontrolle über das Westjordanland und annektierte dieses 1950. Erst der 1967 von Israel nach einer Mobilisierung in Ägypten begonnene Sechs-Tage-Krieg brachte das Westjordanland unter israelische Kontrolle. Israel konnte dieses aber nicht annektieren, weil dadurch die dort befindlichen Palästinenser israelische Staatsbürger geworden wären und die Mehrheitsverhältnisse bei Wahlen verändert hätten. Dieses Problem ist bis heute ungelöst und wegen der inzwischen angelegten jüdischen Siedlungen im Westjordanland auch nicht durch Verhandlungen lösbar.

Dem Irak hatte Großbritannien schon 1932 die Unabhängigkeit gewährt und dort einen von den Franzosen aus Syrien vertriebenen Araberführer als Marionettenkönig eingesetzt. Sie behielten Militärbasen und Durchmarschrechte. Als der Marionettenkönig 1941 nach einem Putsch die Macht verlor, besetzten die Briten dieses Land wieder bis zum 26. Oktober 1947. Ihre Militärbasen behielten sie bis 1954. Saudi-Arabien wurde ebenfalls 1932 unabhängig und war zunächst wirtschaftlich wie auch strategisch völlig unbedeutend. Das änderte sich, nachdem dort 1938 Erdöllagerstätten entdeckt worden waren.

Kuweit erlangte die Unabhängigkeit von Großbritannien 1961, Katar erst 1971. Im Südjemen setzten sich 1967 Linksnationalisten und Kommunisten durch, die zuvor von Saudi-Arabien und Großbritannien in einem gegen Nassers Ägypten gerichteten Stellvertreterkrieg aus dem Nordjemen vertrieben worden waren.

Ägypten wurde formell 1936 selbständig und 1946 verließen die britischen Truppen das Land. 1956 griffen Israel, Großbritannien und Frankreich nach der Verstaatlichung der Suezkanal-Gesellschaft Ägypten an. Die Offensive war militärisch erfolgreich. Der Angriffsplan war sogar vor den USA geheim gehalten worden. Die USA und die Sowjetunion intervenierten gemeinsam vor der UNO. Die Sowjetunion drohte ein militärisches Eingreifen an, die USA drohten, das britische Finanzsystem zu schädigen. Hier liegt im Nahen Osten der Wendepunkt der Geschichte, an dem die USA ihre absolute Dominanz über den Westen durchsetzten. In der Folge befanden sich Großbritannien und Frankreich in dieser Region in der Defensive und sahen sich weltweit einer starken Einschränkung ihrer militärischen Handlungsfähigkeit ausgesetzt. Erst im Libyen-Krieg 2011 versuchten diese beiden Länder wieder, aus eigener Initiative ihre Interessen durch eine militärische Offensive gegen eine international anerkannte Regierung durchzusetzen, wobei es ihnen gelang die „Falkenfraktion“ in Sicherheitsapparat und Militär der USA gegen ihr zunächst unwilliges Außenministerium auszuspielen.

In allen Nahost-Staaten, die von Großbritannien und Frankreich unabhängig geworden waren, gab es starke anti-westliche Strömungen. Unter diesen setzte sich der Baathismus durch, dessen Kennzeichen eine Trennung von Staat und Religion, ein panarabischer Nationalismus und gewisse sozialistische Vorstellungen waren. Die Sowjetunion nutzte dementsprechend den Baathismus aus, um in dieser Region Einfluss zu erlangen, indem sie baathistische Regierungen in Ägypten (Abdel Nasser), Syrien (Hafiz al Assad) und dem Irak (Saddam Hussein) unterstützte.

Die USA machten ihren Einfluss in der Region erstmals 1953 geltend, als die CIA in Zusammenarbeit mit dem britischen Geheimdienst MI6 die Operation Ajax zum Sturz des Premierministers Mossadegh durch Orchestrierung lokaler Gegner Mossadeghs durchführten. Dieses prinzipielle Regimewechselschema ist seitdem wiederholt und in verschiedenen Weltgegenden zum Einsatz gekommen, in Syrien ist es gegen Bashar al Assad vorerst gescheitert. Im Laufe der Jahrzehnte wurden die Nebenwirkungen der entsprechenden Operationen immer katastrophaler. Im Iran ermöglichte der Sturz Mossadeghs und die Rückkehr des Schah die Wahrung der wirtschaftlichen Interessen westlicher Ölfirmen. Zudem trieb der Schah eine Entwicklung des Iran zu einer säkularisierten modernen Industriegesellschaft nach westlichem Vorbild voran.

Im Jahr 1979 erlitt die Nahostpolitik der USA ihren ersten herben Rückschlag, nachdem Frankreich, Großbritannien, die USA und Deutschland überein gekommen waren, den Schah nicht länger zu unterstützen. Ein am 1. Februar 1979 aus dem französischen Exil zurück gekehrter Führer fundamentalistisch-religiöser Kräfte, Ayatollah Khomenei, kam in der Folge einer Revolution im Iran an die Macht. Im April 1979 wurde der Iran nach einem Volksentscheid zur islamischen Republik erklärt und gab damit die Trennung von Staat und Religion auf. Im Dezember wurde die entsprechende Verfassung in einem weiteren Volksentscheid bestätigt. Dazwischen verlangte der Iran von den USA die Auslieferung des Schahs, der vor Gericht gestellt werden sollte. Als die USA das verweigerten, stürmten Revolutionsgarden am 4. November 1979 die US-Botschaft in Teheran und nahmen Geiseln. Ein hastig und dilettantisch organisierter Befreiungsversuch scheiterte. Die USA mussten in der Übereinkunft von Algier erhebliche Zugeständnisse an den Iran machen, um die Geiseln freizubekommen. Der bisher letzte US-Präsident, der es mit einer Abkehr von der Hegemonialpolitik versuchen wollte, Jimmy Carter, wurde nicht wiedergewählt. An seiner Stelle kam eine nicht sonderlich intelligente Marionette der Falken, Ronald Reagan, ins Amt, als eine Art Vorgriff auf George W. Bush.

Am 22. September 1980 griff Saddam Husseins Irak den Iran an. Zunächst erhielt er Waffenhilfe der Sowjetunion, die wegen ihrer eigenen muslimisch geprägten Republiken und ihrer eigenen Trennung von Staat und Religion über die politische Entwicklung im Iran besorgt war. Saddam Hussein war zu keinem Zeitpunkt seiner Karriere ein fähiger Militär. Die irakische Offensive kam schnell zum Stehen, am 28. November zerstörte der Iran 80% der irakischen Kriegsmarine und aller Radarinstallationen in der Südhälfte des Landes. Am 7. Dezember musste Hussein die Einstellung der Offensivoperationen bekanntgeben. Im Juni 1982 bot Hussein einen Waffenstillstand und den Rückzug seiner Truppen von noch besetzen iranischen Gebieten an. Der Iran benannte danach sein Kriegsziel als einen Regimewechsel und die Etablierung einer islamischen Republik im Irak.

Daraufhin begann der Westen auf eine Unterstützung Saddam Husseins hinzuarbeiten. Finanziell wurde er von Saudi-Arabien, Kuwait, den Vereinigten Arabischen Emiraten (fast 50 Mrd. US-Dollar) und westlichen Staaten (zwischen 30 und 40 Mrd. US-Dollar Kredit) unterstützt. Gleichzeitig lieferten die USA über die CIA Waffen an den Iran, um mit den Erlösen kontrarevolutionäre Kräfte in Nikaragua zu unterstützen. Frankreich verkaufte dem Irak Waffen im Wert von 5 Mrd. US-Dollar. Der Westen verkaufte dem Irak Technologie zur chemischen und biologischen Kriegsführung und die USA und Großbritannien behinderten UN-Resolution wegen der Giftgaseinsätze Husseins gegen Kurden und iranische Streitkräfte.

In den Folgejahren wurde die materielle und waffentechnische Überlegenheit des Irak immer stärker, ohne dass es vor 1988 zu wesentlichen irakischen militärischen Erfolgen kam. Nachdem irakische Offensiven 1988 begrenzt erfolgreich waren und die USA ein iranische Verkehrsmaschine abgeschossen hatten, akzeptierten der Iran und der Irak Resolution 598 des UN-Sicherheitsrats, die nach einem für beide Seiten verlustreichen und wirtschaftlich verheerenden Krieg die Vorkriegsgrenzen wiederherstellte.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres Systems von Satellitenstaaten 1990 sahen sich die USA etwas unerwartet und daher unvorbereitet in der Rolle der einzigen Supermacht. Der rasante Aufstieg Chinas war noch nicht vorhersehbar. Deng Xiaoping hatte 1982 als Ziel für 1990 die Behebung von Nahrungs- und Bekleidungsproblemen formuliert, bis 2000 einen bescheidenen Wohlstand und bis 2050 einen Anschluss Chinas an die gemäßigt entwickelten Länder. In den USA bildeten sich zwei Interpretationen der neuen Situation aus. Diejenige vom Ende der Geschichte (Buchtitel von Francis Fukuyama 1992) ging von einem endgültigen Sieg des westlichen Systems, seiner Lebensweise, Wirtschaftsordnung und Wertvorstellungen aus. Mit ihrer Akzeptanz wären der Einfluss des Sicherheitsapparats und der Geheimdienste und deren Budget drastisch gesunken. Die These vom Ende der Geschichte war von einer erschreckenden Naivität, Geschichtslosigkeit und Unkenntnis der Welt außerhalb der USA inspiriert. Ihre breite Diskussion und breite Anhängerschaft in den USA warfen bereits damals ein schlechtes Licht auf die Strategiefähigkeit der Eliten der Führungsmacht des Westens.

Der Gegenentwurf vom Kampf der Zivilisationen von Samuel Huntington benötigte etwas länger, obwohl er die Idee erstmals 1993 in Foreign Affairs wohl als Reaktion auf das Ende der Geschichte veröffentlicht hatte. Sie war wesentlich einflussreicher als die Idee vom Ende der Geschichte und bestimmt bis heute die öffentliche Diskussion, insbesondere in den Leitmedien westlicher Länder, ohne dass den meisten Journalisten und Politikern bewusst wäre, woher ihr Interpretationsmuster stammt. Huntington sah die neuen Kampflinien zwischen verschiedenen Kulturkreisen verlaufen. Für den Sicherheitsapparat und die Geheimdienste war diese These viel attraktiver, einfach deshalb, weil es überhaupt Kampflinien gab. Ihre Proponenten vereinfachten Huntingtons für eine komplexe Welt ohnehin schon zu simple Idee weiter, indem sie eine Hauptkampflinie zwischen der westlichen und der islamischen Welt konstruierten. Diese vereinfachte These ist inzwischen zu einer Prophezeiung geworden, die sich selbst erfüllt hat und wunschgemäß zu einem wachsenden Einfluss des Sicherheitsapparats und der Geheimdienste geführt hat. Jeder neue Anschlag trägt zu diesem Wachstum bei, während ein Ausbleiben von Anschlägen einen Druck auf die Beschränkung ihres Budgets und ihrer Machtmittel erzeugt. Man kann daher konstatieren, dass die Leute in den Führungspositionen des Sicherheitsapparats und der Geheimdienste ein objektives Interesse daran haben, dass solche Anschläge geschehen. Ob sie deshalb in einigen Fällen Anschläge haben geschehen lassen oder sogar den Vorbereitungen dazu Vorschub gegeben haben, wissen wir freilich in keinem der Fälle mit Sicherheit. Ausschließen kann man es auch nicht, denn diese Führungspositionen werden nicht mit Leuten besetzt, die zu Skrupeln neigen. Zudem ist über die Zeit des Kalten Krieges zwischen dem Westen und der Sowjetunion bekannt, dass im Rahmen der Strategie der Spannung derartige Taktiken angewandt wurden.

Gleichwohl muss man feststellen, dass islamistische Eiferer die Anschläge vom 11. September 2001 sicher begangen hätten, wenn das in dieser Art möglich gewesen wäre, und dass die Anschläge vom 13. September 2015 von islamistischen Selbstmordattentätern ausgeführt wurden. In diesem Punkt sind die offiziellen Versionen der Geschichten unabhängig vom konkreten Tathergang stimmig. Die Verlautbarungen von Islamisten, die unter dem Markennamen Al-Qaida oder IS verbreitet wurden, und das Vorgehen des IS in den von ihm beherrschten Gebieten stützen zudem die These von einer Hauptkampflinie zwischen einer fundamentalistischen Auslegung des Islam und den Wert- und Lebensvorstellungen des politischen Westens. Anders als von Huntington behauptet, handelt es sich aber nicht um einen bloßen kulturellen Unterschied, sondern wie bereits im Kalten Krieg um ein Aufeinandertreffen zweier unversöhnlicher Ideologien.

Der Laizismus in der Defensive

Die westliche Ideologie stützt sich auf drei Pfeiler, die allesamt Kinder der Aufklärung sind und die allesamt bröckeln. Es handelt sich um die Trennung von Staat und Religion (Laizismus), den Glauben an eine segensreiche freie Marktwirtschaft und die Gewaltenteilung, die Machtmissbrauch wirkungsvoll eindämmt. Unsere Lebensweise steht und fällt mit dem Laizismus, aber zunächst müssen die anderen beiden Pfeiler kurz diskutiert werden.

Die Verluste an Qualität der Gewaltenteilung nach jedem der Anschläge der letzten anderthalb Jahrzehnte kann man nur schwer übersehen, möglicherweise nicht einmal überschauen. Die parlamentarische Kontrolle über die Geheimdienste ist trotz tapferer Versuche vieler Abgeordneter völlig verloren gegangen. Die Untersuchungsorgane, der Polizeiapparat und das Militär sind teilweise von den eigenen Geheimdiensten durchsetzt und berufen sich zudem gegenüber der Legislative auf ähnliche Geheimhaltungsnotwendigkeiten. Die Regierungen selbst bügeln unangenehme parlamentarische Anfragen auf den verschiedensten Gebieten, nicht nur in der Sicherheitspolitik, mit Geheimhaltungsargumenten ab. Die Exekutive liegt weitgehend außerhalb der parlamentarischen Kontrolle. In Frankreich erleben wir gerade, dass auch die Kontrolle der Judikative über die Exekutive ausgehebelt wird, zunächst für drei Monate, voraussichtlich bei bestimmten Delikten aber endgültig. Öffentlich wird bereits über die Aufgabe der Unschuldsvermutung und eine Beweislastumkehr zu Ungunsten der Angeklagten geredet. In den USA sind außergerichtliche Tötungen ausländischer Staatsbürger längst akzeptiert und es hat solche Tötungen eigener Staatsbürger auf fremdem Staatsgebiet gegeben, die ungestraft blieben. Konzeptionell ist die Gewaltenteilung bereits kassiert, es ist dem Bürger nur noch nicht aufgefallen. Nach jedem Anschlag klatscht er der Erosion seiner eigenen Rechte Beifall, eine Beobachtung, die denjenigen nicht entgangen sein kann, denen diese Rechte unangenehm sind.

Das Prinzip der freien Marktwirtschaft lässt sich am Einfachsten mit Worten ausdrücken, die Adam Smith zugeschrieben werden. Die unsichtbare Hand des Marktes sorgt dafür, dass sich die Egoismen der einzelnen Menschen, insbesondere ihr Gewinnstreben, zu einem gesamtgesellschaftlichen Guten wenden. Smith gilt als Moralphilosoph. Kaum eine andere Idee allerdings hat je zu einer solchen moralischen Erosion geführt, für die das Verhalten von Investmentbankern vor der Finanzkrise, abenteuerliche Steuervermeidungsmodelle und der VW-Abgasskandal nur einige wenige Beispiele aus den letzten Jahren sind. Zudem ist die Idee zutiefst antireligiös, indem sie dem Menschen einen universellen Ablassschein für die Hauptlaster der Habgier und Selbstsucht erteilt, die in keiner Religion als akzeptabel gelten. Die Idee hat sich unter den meisten Ökonomen durchgesetzt und wird von kaum einem denkenden Menschen akzeptiert, der im Leben mehr als das Streben nach Besitz und in der Welt mehr als ein ökonomisches System sieht. Gleichwohl war sie über lange Zeit als Leitidee für ein Wirtschaftssystem sehr erfolgreich, wenn sie auch nie als reine Lehre umgesetzt wurde. Völlig freie Märkte versagen, weshalb jeder Staat sie durch Gesetze beschränkt.

Die Apologeten der freien Marktwirtschaft beherrschen weitgehend die öffentliche Diskussion und dominieren die Wirtschaftswissenschaft in einem Maße, das den Entwurf von Gegenmodellen nahezu verunmöglicht. Seit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus haben sie die Rahmenbedingungen der Wirtschaft immer weiter in ihrem Sinne umgestalten können. Das Ergebnis sind eine Überschuldung fast aller westlichen Staaten, eine inhärente Instabilität des Finanzsystems und ein weitgehender Vertrauensverlust der Bevölkerung der meisten westlichen Staaten in dieses Wirtschaftssystem. Das Finanzsystem ist so komplex und aufgebläht, dass es in jedem Wortsinne unberechenbar geworden ist. Weil die Geldmenge inzwischen die Größe der Realwirtschaft um ein Vielfaches übersteigt und Aktienkäufe und –verkäufe nicht mehr auf längerfristig angelegten Analysen der Wirtschaftskraft eines Unternehmens beruhen, ist die Steuerungskraft des Marktes weitgehend außer Kraft gesetzt. Wer in dieser Situation glaubt, dass unser System dem kombinierten Marktsystem der Chinesen mit einer strategischen Steuerung bestimmter Aspekte überlegen ist, lügt sich in die Tasche. In dem Maße, in dem unser System neue Krisen produziert, wird trotz aller Medienpropaganda die zugrunde liegende Ideologie diskreditiert.

Die Grundidee des Laizismus („Jeder soll nach seiner Façon selig werden“) war eine der Grundlagen des Aufstiegs Preußens und damit bereits Bestandteil eines aufgeklärten Absolutismus. Die strikte Kodifizierung ging von Frankreich aus, obwohl zum Zeitpunkt der gesetzlichen Festschreibung 1905 bereits viele Staaten, selbst das Osmanische Reich, gewisse Schritte in diese Richtung unternommen hatten. Im allgemeinen Denken galt damals zumindest eine zu enge Verbindung von Staat und Religion als rückständig und als Hindernis für nötige Reformen der Gesellschaft, um wirtschaftlich und militärisch konkurrenzfähig zu bleiben. Die konsequenteste Form des Laizismus fand allerdings der Marxismus: Wenn eine gemeinsame Religion für eine Gesellschaft nicht nötig war, so musste Religion überflüssig sein („Opium für das Volk.“). In der Tat ist es inkonsequent, Religion zur Privatsache zu erklären. Spiritualität ist privat, Religion ist ein soziales Konstrukt. Indem Religion andere Verhaltensregeln vorgibt als der Staat, sofern sie eben nicht Staatsreligion ist, schwächt sie den Staat. Indem religiöse Menschen fundamentalistisch sind, also die eigene Religion für die einzig richtige halten, und indem die erfolgreichsten Religionen missionieren, ist das Nebeneinanderbestehen verschiedener Religionen in einem Staat eine Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, während eine Staatsreligion diesen Zusammenhalt stärkt. Das ist einer der Gründe, warum der wirtschaftlich und militärisch deutlich schwächere Iran den Krieg gegen den Irak eben doch nicht verloren hat.

Gleichwohl war der Laizismus in einer Periode sehr erfolgreich, als Staaten sich reformieren mussten, um in der Moderne anzulangen und er war auch im Nahen Osten weit verbreitet. Die Konsolidierung der Türkei nach dem 1. Weltkrieg unter der Führung Mustafa Kemal (Atatürks) war ein laizistisches Projekt. Der Baathismus war ein laizistisches Projekt. Überhaupt sind der Irak und Syrien in ihren vormaligen Grenzen (von heutigen Grenzen kann man bei diesen beiden Ländern nicht reden) nur als laizistische Nationalstaaten denkbar. Gleiches gilt für den Libanon in seinen heutigen Grenzen.

Es ist den Vordenkern des Westens entgangen, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion eine tödliche Krankheit des Laizismus in Gang setzen musste, letztlich sogar eine tödliche Krankheit der Idee der Aufklärung. Der Marxismus war die Idee der Aufklärung zu Ende gedacht – sofern er scheiterte, musste diese Idee als gescheitert gelten. Wenn die Unmündigkeit des Menschen selbst verschuldet war und die Welt in all ihren wesentlichen Zügen erkennbar, dann musste die Welt auch aufgrund rationaler Überlegungen veränderbar sein. Das Experiment schlug fehl, die Idee war diskreditiert. Obgleich die Situation nicht rational analysiert wurde, dämmerte es den meisten Leuten selbst in den westlichen Staaten, in denen Religion weitgehend nur noch Folklore war, dass wichtige Aspekte der Welt eben nicht erkennbar sind - dazu ist die Welt zu komplex. Seitdem ist die Komplexität der Gesellschaften, der Wirtschaft und des täglichen Lebens noch gestiegen und die große Mehrheit der westlichen Bürger hat keinen blassen Schimmer, was in der Welt vor sich geht und worauf eigentlich ihr vergleichsweise hoher Wohlstand beruht (Tipp: Härtere Arbeit ist es gewiss nicht).

In den muslimisch geprägten Regionen führte der Ausfall des sozialistischen Ideals zu einer Rückwendung zum Islam. Anfangs unterstützten die USA solche Bewegungen dort, wo sie zu einer Schwächung der Sowjetunion (Afghanistan) oder später zu ihrem Zerfall und zum Einflussverlust Russlands auf seine Nachbarstaaten führten. Im Irak nutzen die USA religiöse Differenzen in ihrem Kampf gegen Saddam Hussein und bei der nachfolgenden Eliminierung aller Baathisten aus Machtpositionen. Bei der gemeinsam von Frankreich, Großbritannien, den USA, Deutschland und den Golfstaaten betriebenen Destabilisierung Syriens als eines Verbündeten des Iran und Russlands nutzten die Golfstaaten und wohl teilweise auch die USA über die CIA islamistische Gruppierungen. Die Türkei schließlich wurde zum ersten Staat, in dem eine Abwendung vom Laizismus mit einer erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung zusammenfiel. Im Nahen Osten ist die Idee des Laizismus tot, mit Ausnahme der Gebiete, auf die Bashar al Assad noch Einfluss hat. Fällt er, so fällt als nächstes Land der Libanon an die Islamisten.

In den USA gewinnen evangelikal-fundamentalistische Positionen in der Republikanischen Partei immer mehr an Boden, wie man auch anhand der Debatten und Umfragen zu den Vorwahlen für die nächste Präsidentschaftswahl erkennen kann. Aus den Vorwahlumfragen wird dabei deutlich, dass solche Positionen im politisch interessierten Teil der Bevölkerung an Boden gewinnen. Nun bedeutet das nicht, dass die USA in den nächsten Monaten oder Jahren die Trennung von Staat und Religion aufgeben wird. Das müsste in diesem religiös extrem heterogenen Land zu inneren Unruhen führen. Die Evangelikalen fordern das auch nicht. Sie fordern „nur“, dass Gesetze erlassen werden, die ihren religiösen Vorstellungen entsprechen, was nicht unbedingt zu Unruhen führen muss, weil einige dieser Vorstellungen von anderen Religiösen geteilt werden. Es bedeutet aber, dass in einer der beiden großen Parteien die Ideen der Aufklärung nicht mehr gelten und zwar in derjenigen, die gegenwärtig die Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus stellt. Zwar sind die Fundamentalistisch-Evangelikalen unter den republikanischen Abgeordneten noch immer eine Minderheit, aber eine derart einflussreiche, dass die Partei trotz ihrer Mehrheit weitgehend politikunfähig geworden ist. Der Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus, Boehner, hat aufgegeben, ein anderer respektierter Politiker hat es abgelehnt, für diesen Posten zu kandidieren. Unter den Evangelikalen und in der US-Bevölkerung insgesamt gibt es eine starke Strömung, die dem Staat so stark misstraut, dass sie ihn auf wenige Grundfunktionen beschränken will. Wenn sie sich durchsetzt, wir die Führungsmacht des Westens paralysiert sein. Einen Vorgeschmack dieser Lähmung gab es, als Sicherheitskreise im August 2013 eine Politik der Luftangriffe gegen Syrien so weit vorbereitet hatten, dass Präsident und Außenminister sich dafür einsetzten und Umfragen der Washington Post unter Abgeordneten zeigen, dass Obama weder im Repräsentantenhaus noch im Senat mit einer Mehrheit für diese Politik rechnen konnte. Russlands Außenminister Lawrow und Putin konnten damals Kerry und Obama öffentlich vorführen.

Was Frankreich betrifft, so kommt die scharfsinnigste Analyse zum Niedergang des Laizismus nicht zufällig von dort. Sie stammt nicht aus einem Sachbuch. Die meisten Sachbücher sind heute auf niedrigem intellektuellen Niveau oder legen fixe Ideen ihrer Verfasser dar, die keinem Abgleich mit der komplexen Realität standhalten. Die Analyse findet sich in dem Roman Unterwerfung von Michel Houllebecq. Houellebecq galt vor diesem Roman als Anti-Muslim, was einem typischen Anfängerfehler in der Literaturinterpretation zuzurechnen war, der Verwechslung der Persona von Ich-Erzählern mit der Person des Autors. In diesem Roman setzt sich eine französische Muslimbruderschaft in Wahlen durch und schleift anschließend das laizistische System Frankreichs. Houllebecq gelingt es, dieses Szenario plausibel werden zu lassen, unter Anderem deshalb, weil der Islam einfache Antworten auf die komplexen Probleme der Gegenwart bietet, derer die Bürger müde sind. Dieses Verzweifeln an der Komplexität der Gegenwart findet sich unabhängig von der politischen Ausrichtung durchweg in westlichen Gesellschaften. Wo der Komplexität Rechnung getragen werden muss, nämlich beim Regieren, herrscht zunehmend Ratlosigkeit. Auch in Deutschland nimmt die Politikunfähigkeit der Parteien zu, wie man gut am Verhältnis zwischen CDU und CSU in Detailfragen (Maut) und wichtigen Fragen (Flüchtlingsproblematik) beobachten kann. Die westlichen Gesellschaften sind orientierungslos. Sie haben gar keine Strategie mehr, geschweige denn eine für ein so kompliziertes Problem wie den Nahen Osten.

Von hier an blind

Die Europawahl am 25. Mai 2014 stand noch unter dem Zeichen einer Vertiefung und möglichen Erweiterung der Europäischen Union. Unmittelbar nach der Wahl wurde klar, dass eine solche Strategie zum Ausscheiden Großbritanniens führen würde. Inzwischen kann man das Projekt einer immer engeren Union als endgültig gescheitert ansehen. David Cameron hat nur gefordert, was die meisten anderen nationalen Regierungen nicht aussprechen konnten, ohne das Gesicht zu verlieren, was sie ihm aber nur zu gern zugestehen werden, weil allerorten große Bevölkerungsmehrheiten gegen eine engere Union sind.

Das europäische Projekt hat aber nicht nur an Vorwärtsdrang verloren, im Herbst 2015 hat sich offenbar die Richtung umgekehrt. Angesichts der allgemeinen Stimmung dürfte diese Umkehr unumkehrbar sein. Warum ist das in diesem Zusammenhang wichtig? Das europäische Projekt war bisher die politische Leitlinie der Regierungen Frankreichs und Deutschlands. Die Regierungen können nicht als einfache Verwalter der Tagesprobleme auftreten, sie müssen ihr Handeln durch irgendeine übergeordnete Idee rechtfertigen. Anderenfalls werden Bewegungen auftreten und an Zulauf gewinnen, die so eine Idee haben und sei es diejenige der Verteidigung des Abendlandes gegen die Islamisierung. Das gilt umso mehr, wenn die Regierung bei der Verwaltung der Tagesprobleme als erfolglos wahrgenommen wird, wie das in Frankreich der Fall war. Wenn nun einmal die Angst vor einer Islamisierung erhebliche Teile der Bevölkerung erfasst hat, was in Frankreich sicher der Fall ist, wie die Erfolge Marine Le Pens zeigen, so ist es politisch schlau, wenn auch nicht klug, sich an die Spitze dieser Bewegung zu setzen. Eben das tut François Hollande. Es ist Taktik und zwar innenpolitisch angelegte. Eine Strategie ist es nicht.

Die Politikunfähigkeit der USA kam schon weiter oben zur Sprache. Sie resultiert aus einer Kette von Misserfolgen, in Afghanistan, im Irak, in Libyen, in Syrien und zuletzt auch in der Ukraine, mit der sich auch die EU verspekuliert hat. Die US-Bürger sind darüber nur schlecht informiert, aber dass die Dinge im Nahen Osten und in Libyen nicht so gelaufen sind, wie ihnen versprochen wurde, haben sie schon gemerkt. Insbesondere mögen sie für so eine Außenpolitik keinen Cent ausgeben und das setzt die Abgeordneten und Senatoren unter Druck. Einerseits muss Obama etwas tun, weil alle Gegner der USA diese Schwäche erkannt haben und sie, wie Putin in Syrien, gnadenlos ausnutzen. Falls Saudi-Arabien und die Türkei zu dem Schluss kommen, die USA seien in der Region militärisch handlungsunfähig, wird sich in der Folge die geostrategische Position der USA im Nahen Osten in Wohlgefallen auflösen,.Das wiederum würde die Verbündeten der USA in Ostasien zu einem Überdenken ihrer Strategie gegenüber der USA und China anregen. Wenn Obama allerdings etwas tut, sieht er sich Widerständen sowohl in der eigenen Partei als auch bei den Republikanern gegenüber, die mit dem Näherrücken des Präsidentschaftswahltermins nur zunehmen werden. In dieser Situation sind die Sicherheitskreise der USA darauf angewiesen, dass ein Verbündeter sie in der Region militärisch unterstützt. Auch das ist keine Strategie. Es ist Taktik in der Hoffnung, nach der Präsidentschaftswahl wieder irgendwie handlungsfähig zu werden und die Situation bis dahin einigermaßen stabilisieren zu können. Ich würde weder auf das eine noch auf das andere eine hohe Wette abschließen.

Ist der IS besiegbar?

Der IS ist von keinem Staat der Welt anerkannt. Er hat all seine Nachbarn zu Feinden erklärt und darüber hinaus die einzige Supermacht der Welt, die führenden europäischen Staaten und Russland. Die Supermacht in spe, China, hat selbst ein Problem mit islamistischen Strömungen und keinerlei Interesse, den IS zu unterstützen. Man ist versucht, diese politische Haltung des IS als irre zu bezeichnen. Sie widerspricht scheinbar jeglichem strategischen Kalkül. Zudem verfügt der IS über keine Luftwaffe und keine Produktion oder Bezugsquelle irgendwelcher modernen Waffen, ausgenommen deren Erbeutung vom Gegner. Man sollte annehmen, er werde innerhalb weniger Wochen zusammenbrechen.

Allerdings ist der IS nach einem Jahr von Luftangriffen der USA und trotz der Unterstützung seiner lokalen Gegner durch den Westen seit einem Jahr nicht zusammengebrochen. In dieser Zeit hat er militärische Niederlagen erlitten aber auch militärische Erfolge gefeiert. Er betreibt Außenhandel mit Erdöl und Kunstschätzen und kann Finanztransaktionen ohne Überwachung durch Geheimdienste über das traditionelle muslimische Halal-System durchführen. Er nimmt in den von ihm kontrollierten Gebieten Steuern ein und garantiert im Gegenzug Sicherheit und Recht, sein Recht. Er rekrutiert erfolgreich Kämpfer, lokal und im Westen selbst, im Westen nicht nur unter muslimischen Einwanderern der ersten und zweiten Generation, sondern auch unter Konvertiten, deren Elternhaus und Erziehung völlig von westlichen Wertvorstellungen geprägt war.

Die Stärke des IS ist nicht materieller Art, sie ist ideeller Art, genau wie die Stärke des Iran im Krieg mit dem Irak nicht materieller Art war, sondern ideeller Art. Stalins Diktum versagt. Der Papst hatte keine Divisionen, die Sowjetunion schon. Gleichwohl existiert die katholische Kirche noch immer, die Sowjetunion hingegen nicht. Der Westen will die ideelle Stärke des IS nicht wahr haben, weil diese Ideen uns so barbarisch und antizivilisatorisch erscheinen. In der Tat sind sie radikal gegen unsere Zivilisation gerichtet und zwar so radikal, dass alle Staaten betroffen sind, die auch nur Teile unserer zivilisatorischen Ideen übernommen haben. Die Ideologie des IS ist so stark, weil sie konsequent zu Ende gedacht ist. Sie richtet sich trotz des zu unserer Zivilisation antagonistischen saudi-arabischen Wahabismus auch gegen die Führung dieses Landes, insofern als diese Kompromisse mit aufklärerischen Ideen gemacht hat. Wenn ich eine Position an der König-Saud-Universität in Riad hätte, würde ich jetzt eine schlechter bezahlte und ausgestattete Position an einer Universität irgendwo außerhalb des nahen Ostens akzeptieren, irgendwo, notfalls auch einen Job außerhalb der Wissenschaft.

Die Konsequenz und Stärke der Ideologie des IS bedeutet nicht automatisch, dass dieser seinen Kampf gegen die westliche Welt gewinnen wird. Das ist auch der kommunistischen Bewegung nicht gelungen, wobei man allerdings zugeben muss, dass damals die westliche Welt noch eine Ideologie hatte, die großen Teilen seiner Bevölkerung einleuchtend und attraktiv erschien. Die Einsicht, dass die Stärke des IS nicht materiell, sondern ideell begründet ist, klärt aber sofort, welche Strategien Erfolg versprechen könnten und welche nicht.

Der IS ist militärisch bestenfalls als Markenname besiegbar und schon das würde eine große Zahl an Bodentruppen erfordern. Wenn es westliche Bodentruppen wären, wozu derzeit kein westliches Land bereit wäre, so würde ihr Einsatz dem IS bei der Rekrutierung weiterer Kämpfer helfen. Dieses Experiment wurde bereits durchgeführt und ist genau so ausgegangen. Was lokale Truppen betrifft, so muss man einfach feststellen, dass für große Teile der ortsansässigen Bevölkerung der IS die attraktivere Idee vertritt, abgesehen davon, dass die Gegensätze unter den Gegnern des IS derzeit unüberbrückbar erscheinen. Sofern Sie, lieber Leser, nicht glauben, dass sich die „gemäßigte Opposition“ gegen Assad und Assad auf ein gemeinsames Vorgehen gegen den IS einigen können, sollten Sie auch nicht glauben, dass der IS auf absehbare Zeit militärisch besiegbar ist.

Selbst wenn es gelänge, was wäre gewonnen? Die Anhänger der Idee würden eine neue Organisationsform finden. Sie sind doch durch eine militärische Niederlage nicht zu überzeugen. Das Problem ist nicht militärisch lösbar. Die Zahl unserer Divisionen entscheidet nichts. Die Informationslage unserer Geheimdienste entscheidet nichts. Unsere wirtschaftliche Stärke entscheidet nichts.

Alles ist eine Frage der inneren Stärke unserer Gesellschaft und der Frage, ob die Ideen der Aufklärung für die kommenden Generationen im Westen noch attraktiv erscheinen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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