Illusionen und Realitäten vor dem EU-Gipfel

Brüssel Nicht moralische Desiderata, sondern die Interessen der Akteure und die Praktikabilität möglicher Aktionen werden beim EU-Gipfel zur Flüchtlingskrise entscheidend sein.

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Alles hat Grenzen

Ein selbstorganisierendes System kann nur stabil bleiben, wenn es sich gegen seine Umwelt abgrenzt und den Austausch über die Systemgrenze kontrollieren kann. Das gilt für jeden einzelligen Organismus und es gilt genauso für einen Staat. Der Grund ist, dass in einem hinreichend komplexen System bestimmte Parameter sich nicht zu weit von ihren Gleichgewichtswerten entfernen dürfen, ohne dass das ganze System aus den Fugen gerät und möglicherweise sogar zusammenbricht. In einem Staat ist ein solcher Parameter etwa das Verhältnis von Arbeitskräften zu Arbeitsplätzen.

Schließen sich mehrere selbstorganisierende Systeme zu einem Gesamtsystem zusammen, so kann der Austausch über die inneren Grenzen erheblich laxer gehandhabt werden, solange das Gesamtsystem eine intakte Außengrenze hat. Das ist bei vielzelligen Organismen so und auch bei Staatenbünden wie der EU. Wenn die Außengrenze „ein Loch hat“, dann kann ein robustes System das über einen gewissen Zeitraum ausgleichen. Wie lang dieser Zeitraum ist, hängt von der Größe des Loches ab.

Am 4. September 2015 öffnete die deutsche Bundeskanzlerin nach einer Absprache mit Österreich die deutsche Grenze für Flüchtlinge und Migranten. Der Zeitraum, über den das System die offene Grenze tolerieren konnte, betrug 9 Tage. Am späten Nachmittag des 13. September schloss Deutschland einseitig seine Grenze für den Zugverkehr aus Österreich, in den Folgetagen wurde ein Kontrollsystem für den Zug- und Straßenverkehr etabliert. Ab diesem Zeitpunkt wies Deutschland bei den Kontrollen auch einen Teil der Ankömmlinge ab. Die Abgewiesenen strandeten in Österreich, das sie nicht in ihre Herkunftsländer abschieben konnte, weil diese sie nicht aufnahmen. Das deutsche Verhalten seit dem 13. September 2015 kann man nur als Vertrauensbruch Österreich gegenüber bezeichnen.

Seit dem 13. September 2015 ist die deutsche Grenze also nicht mehr offen. Wenn Sie, lieber Leser, etwas anderes glauben, so sagt das etwas über die deutschen Medien aus, aber es ändert nichts an der Realität. Auf dem Bahnhof Salzburg sind die Warteräume auf den Bahnsteigen von den Sicherheitskräften requiriert worden (Stand meiner Kenntnis: 13. Februar 2016). Nicht mehr ganz frische Aushänge informieren, das sei wegen vorübergehender Grenzkontrollen durch die deutsche Bundespolizei der Fall. Man fragt sich unwillkürlich, wann das vorübergeht und ob überhaupt.

Ursachen der Krise

Die eigentliche Ursache des Stroms an Flüchtlingen und Migranten ist die große Zahl perspektivloser junger Männer in einigen arabischen und afrikanischen Ländern, sowie in Afghanistan und Pakistan. Mittelbar gilt das sogar für die Kriegsflüchtlinge aus Syrien und dem Irak, denn die dortigen Bürgerkriege können weitgehend auch auf diese Ursache zurückgeführt werden. Dass der Krieg in Syrien durch ausländische Einmischung eskalierte und der Krieg im Irak durch westliches Eingreifen ausgelöst wurde, ist ein wichtiger Begleitumstand, aber in Bezug auf die Größe und den Beweggrund des Migrantenstroms doch ein nebensächlicher.

Selbst die Kriegsflüchtlinge sind nämlich zu Migranten geworden, wenn sie die EU-Außengrenze erreichen. Sie waren in den Nachbarländern Syriens und des Irak oder in nicht umkämpften Gebieten dieser Länder bereits in Sicherheit, nur eben perspektivlos. In der Regel waren sie nicht einmal im Elend, obwohl es zweifellos Elend unter den Bürgerkriegsflüchtlingen gibt. Die es betrifft haben aber nicht die Mittel, um sich auf die Balkanroute zu begeben.

Völkerrechtliche und moralische Pflichten der EU

Die EU hat keine völkerrechtliche Pflicht, die Ankömmlinge aufzunehmen, denn diese kommen aus sicheren Drittstaaten und fallen daher nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention. In der Zukunft könnte sich das für Libyer ändern, die auf Lampedusa ankommen. Mit diesem Problem wird sich der kommende EU-Gipfel aber nicht beschäftigen. Wenn UNO-Generalsekretär Ban behauptet, Europa habe die Pflicht, seine Außengrenze und seine inneren Grenzen offen zu halten, so offenbart er nur eine erschreckende Unkenntnis des Völkerrechts und der praktischen Politik. In der gegenwärtigen Situation liefe sein Argument darauf hinaus, dass jeder Mensch der Welt, der in einen EU-Staat will und die finanziellen Mittel aufbringen kann, dorthin zu gelangen, nicht daran gehindert werden dürfte. Eine derartige Politik würde die europäischen Staaten in absehbarer Zeit zum Zerfall bringen.

Die EU hat eine moralische Pflicht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Flüchtlingselend zu lindern, sofern es Bürgerkriegen oder verbrecherischen Regierungen zuzuschreiben ist, insbesondere natürlich dann, wenn EU-Staaten an der Entzündung oder Eskalation der Bürgerkriege beteiligt waren oder die verbrecherischen Regierungen strategische Verbündete der EU sind.

Was die Linderung des Elends betrifft, so muss sich die EU dazu mit den Nachbarstaaten der Bürgerkriegsländern oder deren Regierungen ins Benehmen setzen. In der Regel werden finanzielle Hilfen an diese Länder oder an dort tätige internationale Organisationen viel mehr Elend lindern als die Aufnahme eines kleinen Anteils der Flüchtlinge in den EU-Ländern. Der erste Weg ist daher moralischer. Vor allem ist es um Vieles moralischer, als die Auswahl der aufgenommenen Flüchtlinge durch ein für diese kostspieliges und lebensgefährliches Ausscheidungsrennen vorzunehmen.

Die Aufnahme gewisser Flüchtlinge in der EU aus humanitären Gründen ist gleichwohl sinnvoll. Es handelt sich um solche Menschen, die tatsächlich schwer traumatisiert sind und professionelle Hilfe brauchen, die ihnen in den Nachbarländern der Bürgerkriegsländer nicht zuteilwerden kann.

Aus pragmatischen Gründen kann es sogar sinnvoll sein, einen Teil der Armutsmigranten aufzunehmen. Einerseits kann man so bei entsprechender Auswahl die fähigsten Organisatoren aus der Masse der Perspektivlosen herausholen, die sonst militante Aktionen organisieren würden. Andererseits können einzelne EU-Länder, wie etwa Deutschland, einen gewissen Zustrom von Einwanderern durchaus verkraften und vielleicht sogar gebrauchen, nämlich diejenigen, die Arbeit finden können oder durch Ausbildung auf diesen Stand gebracht werden können und zwar in der Zahl, in der das möglich ist.

Warum wir nicht jeden nehmen können

Die Armutsmigranten kommen nicht nur aus Perspektivlosigkeit. Die Erfahrung zeigt, dass einzelne sogar wieder zurück wollen, wenn sie die Realität in Deutschland erkennen. Diese Menschen kommen auch deshalb, weil sie durch die Medien und Legenden ein völlig falsches Bild von dieser Realität bekommen haben. Ich kenne diese Situation aus der DDR, wo viele durch das „Westfernsehen“ ein völlig falsches Bild von der BRD hatten, was nach der Wende zu großer Frustration führte. Das und die tatsächliche Benachteiligung von Menschen mit DDR-Biographie im vereinigten Deutschland, sofern sie heute älter als etwa 55 Jahre sind, führte zu gesellschaftlichen Problemen, die wir heute gerade im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise spüren. Dazu kam es, obwohl die neuen Bundesländer tatsächlich großzügig alimentiert wurden.

Bei den Armutsmigranten wird die Frustration erheblich größer sein und sie wird sich bei den jungen Männern viel gewalttätiger Bahn brechen. Diese Leute sind gekommen, um hier ein Vielfaches dessen zu verdienen, das sie zu Hause verdienen könnten und oft, um einen Teil dieses Geldes an die zurückgebliebenen Familien schicken zu können. Die Realität ist aber, dass es für den größten Teil keine geeigneten offenen Stellen gibt und für den Rest keine, die den hochgeschraubten Erwartungen entsprechen würden. An dieser Realität kann niemand etwas ändern, egal wie viel Geld und Mühe man in die Integration und Ausbildung steckt. Die meisten sind nicht zu dem Grad ausbildungsfähig, auf dem sie das verdienen könnten, was sie erwarten. Die Medien zeigen uns immer wieder leuchtende Einzelbeispiele. Diese Art der Berichterstattung kenne ich aus der Aktuellen Kamera der DDR. Die leuchtenden Beispiele waren auch damals in aller Regel nicht gelogen. Sie waren nur in keiner Weise repräsentativ. Genauso ist das heute.

Was also zu tun wäre

Der Zustrom in die EU müsste erheblich gedrosselt werden, etwa um einen Faktor 5 bis 10. Auf die Frage der Verteilung der dann etwa 120‘000 bis 250‘000 Einwanderer pro Jahr komme ich später zu sprechen. Der Zustrom müsste organisiert werden. Ein kleiner Teil der Ankömmlinge würden nach wie vor Flüchtlinge sein, die man aus humanitären Gründen aufnimmt. Von den Wirtschaftsmigranten wäre die Mehrheit nach Qualifikation auszuwählen, ein kleiner Teil von Einwanderungserlaubnissen könnte verlost werden. Das wäre die ideale Lösung, welche auch die einheimischen Bevölkerungen weitgehend beruhigen würde. Weiter unten werde ich erläutern, warum es zu dieser Lösung nicht kommen wird.

Wie immer muss es einen Plan B geben (den Plan B für Frau Merkel hat Österreich umgesetzt, mit oder ohne ihr geheimes Einverständnis). Danach wird der Zustrom so weit gedrosselt, wie eben möglich, ohne dass es zu einer totalen Selbstaufgabe der Türkei gegenüber kommt, und soweit, wie unbedingt nötig, damit die EU und ihre Mitgliedsstaaten leidlich stabil bleiben. Zwischen diesen beiden Bedingungen könnte es leider zu einer Diskrepanz kommen, wenn der Migrationsdruck noch wächst und das gegenwärtige Niveau der Abschreckung nicht genügt.

Da die Bedingung der inneren Stabilität unbedingt erfüllt werden muss, werden wir je nach Entwicklung der Situation schreckliche Bilder zu sehen bekommen, falls die Medien sie dann noch senden. Es läuft nämlich darauf hinaus, dass man die Abschreckung so weit eskalieren wird- eskalieren muss- bis der Zustrom kontrollierbar wird. Was immer Sie mir dieses Satzes wegen vorwerfen wollen, merken Sie sich Ihre Argumente und bringen Sie diese im Herbst vor, falls Ihnen dann noch danach sein sollte.

Die Interessenlage in den EU-Staaten

Teile der deutschen Wirtschaftseliten glauben, oder glaubten zumindest vor dem 4. September 2015, dass ein Zustrom mehrerer hunderttausend Syrer den punktuellen Fachkräftemangel verringern würde und zur Aushebelung des Mindestlohnes benutzt werden könnte. Die Wohlmeinenden unter den Grünen, in der Linkspartei und in der SPD glaubten, Deutschland habe die moralische Pflicht, die Welt zu retten. In Wirklichkeit hat die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland kein Interesse an einem substantiellen Zustrom von Migranten, auch trotz der demographischen Lage nicht. Warum ein großer Anteil jüngerer Leute mit anderem kulturellem Hintergrund, die sich in Deutschland unter harten Bedingungen etablieren mussten, bereit sein sollte, in der Zukunft die im Vergleich zu den eigenen Eltern unglaublich reichen deutschen Rentner zu alimentieren, erschliesst sich mir nicht. Wenn es so viele auf so gut bezahlten Stellen sind, dass es wirklich etwas ausmachen würde, werden sie zu verhindern wissen, dass es dazu kommt. Deutschland hat einen Bedarf an vielleicht 50‘000 bis 100‘000 mittelmäßig bis gut gebildeten Einwanderern. Dieser Bedarf wäre viel leichter und viel passender aus der Ukraine zu decken als aus dem gegenwärtigen Migrantenstrom.

Die gleiche Argumentation gilt für andere EU-Länder, die sich in einer ähnlichen wirtschaftlichen Situation befinden wie Deutschland. Davon gibt es nicht viele, vermutlich am Ehesten die Niederlande und Österreich. Diese Länder und Frankreich aus Nationalstolz könnten den Rest derjenigen aufnehmen, die aufgenommen werden müssen.

Der Rest der EU-Länder hat keinerlei Interesse, irgendwelche Wirtschaftsmigranten aufzunehmen. Sie erzeugen selbst welche oder heißen Großbritannien, Belgien oder Luxemburg. Zwei davon haben allerdings keine Wahl und daher ein Interesse an einer Verteilung. Das sind Griechenland, mit einem aktuellen Problem und Italien, dessen Problem proportional dazu wachsen würde, wie Griechenlands Problem abnähme, falls Letzteres erreichbar wäre.

Die Interessenlage der Türkei

Falls es nur um die Interessen der Türkei in der Flüchtlingsfrage ginge, wäre das Problem mit Geld lösbar. Nähme die Türkei alle Migranten zurück, die es von dort auf griechische Inseln oder über die türkisch-griechische Grenze schaffen, würde der Migrantenstrom bald abebben, denn die Türkei ist bestenfalls mäßig attraktiv für Wirtschaftsmigranten. Übrig bliebe der Strom echter Bürgerkriegsflüchtlinge und deren Beherbergung und Versorgung wäre bei entsprechender finanzieller Kompensation attraktiver als ein anhaltendes Problem in der Ägäis, das auch die Türkei beschäftigt.

Der türkische Präsident und die türkische Regierung haben aber erkannt, in einer was für vorteilhaften Verhandlungsposition sie sich derzeit befinden. Die EU steht mit dem Rücken an der Wand und ist erpressbar. Die Türkei wird versuchen, die EU nach Strich und Faden zu erpressen. Die führenden EU-Politiker und besonders die Medien werden empört sein, aber das sind die gleichen Leute, die vor kurzem Griechenland nach Strich und Faden erpresst haben oder die Erpressung unterstützt haben und dieses Land eigentlich immer noch erpressen.

Die türkische Regierung wird also versuchen, so viel wie möglich von ihren anderen Interessen der EU gegenüber durchzusetzen. Wer glaubt, dass die Eliminierung der redaktionellen Linie der auflagenstärksten türkischen Zeitung kurz vor dem EU-Türkei-Gipfel ein Zufall ist, braucht einen Nachhilfekurs in praktischer Politik.

Was ist realistisch?

Eine Quotenregelung zur Verteilung der Migranten in der EU wird nicht kommen. Es gibt schlicht keine Mehrheit in der EU dafür. Die Länder, deren Interessen sie zuwiderliefe, stehen nicht unter Druck. Die Migranten wollen ja ohnehin nach Deutschland, Schweden oder Großbritannien und von diesen Ländern haben Großbritannien und Schweden die Möglichkeit, sich sogar bei offenen EU-Außengrenzen praktisch völlig abzuschotten.

Das Argument, Deutschland als Nettozahler der EU könne diese Länder durch finanziellen Druck zum Einlenken bewegen, ist unsinnig. Dafür würde ja ebenfalls eine Mehrheit innerhalb der EU benötigt, die es in dieser Frage nicht gibt. Deutschland könnte also bestenfalls einseitig seine Zahlungen verringern, womit es selbst gegen EU-Recht verstieße und die EU destabilisieren würde.

Von der Türkei wird man keine endgültige Zusicherung erhalten, dass sie alle illegal nach Griechenland gelangten Migranten zurücknimmt. Die Türkei wird einige Zugeständnisse der EU gegen partielle eigene Zugeständnisse einhandeln. Wenn es anders ausgehen sollte, ist eine der Seiten verhandlungsunfähig. Die EU kann unmöglich allen Forderungen nachkommen, welche die Türkei stellen wird, denn erstens werden diese unmäßig sein und zweitens führt widerstandsloses Eingehen auf Erpressung zu weiterer Erpressung. Die Türkei wird das Erpressungspotential nicht völlig verlieren wollen, wenn sie nicht alles bekommt, was sie will.

Dem Vernehmen nach will die Türkei Flüchtlinge zurücknehmen, die nicht aus Syrien kommen, das aber vollständig erst ab Juni. Das erhält das Erpressungspotential mindestens bis Juni aufrecht und ist geeignet, den Sturm auf Griechenland kurzfristig und je nach den Modalitäten bis Juni anzuheizen. Damit würde diese Vereinbarung das aktuelle Problem nicht lösen. Die Kanzlerin wird beten, dass das nicht schon vor dem nächsten Sonntag für alle offensichtlich wird. Selbst um wenigstens diese Vereinbarung zu erreichen, wird die EU die Kröten schlucken müssen, die von der Türkei gerade serviert werden.

Nach dem EU-Gipfel zur Flüchtlingskrise wird vor dem EU-Gipfel zur Flüchtlingskrise sein.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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