Kritik der Nachhaltigkeit

Neue Religion Das Weltbild der Nachhaltigen hält weder einer historischen Nachprüfung stand, noch ist es zur Ableitung von Strategien geeignet.

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Was ist Nachhaltigkeit?

Nachhaltigkeit ist laut der deutschen Wikipedia ein Prinzip der Ressourcen-Nutzung, bei dem die Bewahrung der wesentlichen Eigenschaften, der Stabilität und der natürlichen Regenerationsfähigkeit des jeweiligen Systems im Vordergrund steht. Die Diskussion des entsprechenden englischen Begriffs sustainability in der Wikipedia ist komplexer, aber die deutsche Wikipedia trifft die Perzeption unter Politikern und in der gebildeten Bevölkerung besser.

Eine nachhaltige Ressourcen-Nutzung wäre eine perfekte Anpassung an eine Welt, die sich in einem stationären Zustand befindet. Das Problem ist, dass sich die Welt nie in einem stationären Zustand befunden hat, sich gegenwärtig nicht annähernd in einem solchen befindet und dass die Menschheit nicht im Entferntesten über die technischen Mittel verfügt, die Welt in einen stationären Zustand zu überführen. Selbst wenn sie diese Mittel hätte, so hat sie nicht den Organisationsgrad, diese koordiniert anzuwenden. Schlimmer noch: Es ist gar nicht erstrebenswert, die Welt in einen stationären Zustand zu bringen. Ironischerweise wären gerade die Anhänger der Nachhaltigkeit die ersten, die an einer stationären Welt verzweifeln würden, weil sie zumeist Weltverbesserer sind und eine stationäre Welt definitionsgemäß nicht verbessert werden kann.

Es könnte eingewendet werden, dass die Nachhaltigkeit sich ja auf einzelne Systeme und nicht auf die ganze Welt bezöge. Es ist aber nicht ohne weitere Nachprüfung zu empfehlen, in einer sich stetig verändernden Umgebung ein System stationär zu halten.

Lob des Artensterbens

Wir Menschen sind an einem beispiellosen Artensterben schuld und das ist böse. So geht die Erzählung der Nachhaltigen. Stattdessen sollten wir jede existierende Tier- und Pflanzenart vor dem Aussterben schützen. Wirklich? Viele der Arten, die wir jetzt schützen wollen, haben sich überhaupt nur entwickeln können, nachdem und weil die Dinosaurier ausgestorben waren. Zu diesen Arten gehört mit großer Wahrscheinlichkeit auch der Homo sapiens sapiens. Daraus folgen drei Dinge. Erstens gab es große Artensterben bereits, als der Mensch definitiv nicht daran schuld gewesen sein kann. Zweitens ist es aus unserer Sicht vorteilhaft, dass die Dinosaurier ausgestorben sind. Nicht jedes Artensterben scheint von Nachteil gewesen zu sein. Drittens hat das Ökosystem der Erde langfristig durch das Artensterben nicht gelitten. Vielmehr haben sich Arten herausgebildet, die man mit Fug und Recht als höher entwickelt bezeichnen kann als die Dinosaurier und für die es bei deren Fortleben keine ökologische Nische gegeben hätte.

Ein früheres, weniger bekanntes Artensterben hatte ähnliche Ursachen wie das gegenwärtig vor sich gehende. Anfangs basierte das Leben auf der Erde nach unserem besten Wissen auf Eisen-Schwefel-Quellen auf dem Meeresgrund. Jedenfalls gab es keinen Sauerstoff und die Energiebasis des Lebens war ziemlich begrenzt. Als sich Arten entwickelten, deren Energiebasis die Photosynthese war, verbreiteten sie sich schnell. Diese Blaualgen (genauer: Cyanobakterien) allerdings produzierten ein gefährliches Giftgas: Sauerstoff. Sie selbst hatten zwar zusammen mit der Fähigkeit zu dessen Produktion auch die Fähigkeit erworben, in einer sauerstoffhaltigen Umgebung zu überleben. Die meisten zeitgenössischen Arten hatten diese Fähigkeit jedoch nicht und starben aus. Dieses Artensterben war eine Voraussetzung dafür, dass das Leben auf einer breiteren Energiebasis stehen konnte. Es bildeten sich Arten heraus, welche die mittels Photosynthese gebildete Biomasse und den Sauerstoff zum Leben nutzten. Zu diesen Arten gehört der Mensch.

Es gäbe uns gar nicht, wenn es keine Artensterben gegeben hätte. Ohne die Artensterben wäre auch die Biodiversität viel geringer als sie jetzt ist. Es gibt immer noch Echsen, es gibt auch immer noch anaerobes Leben, also solches, das keinen Sauerstoff braucht und in der Regel auch keinen verträgt. Zusätzlich gibt es viele neue Arten von Lebewesen. Und es gibt keinen Grund für die Annahme, dass es sich nach dem jetzigen Artensterben anders verhalten wird. Uns als Menschen geht nur an, ob unsere Art zu den überlebenden gehört. Eine moralische Verantwortung für das Fortbestehen anderer Arten gibt die Naturgeschichte nicht her. Mit jeder Art, deren Fortbestand wir sichern, halten wir eine ökologische Nische besetzt, durch deren Freiwerden sich langfristig neue, differenziertere Arten entwickeln könnten.

Haltet die Welt an!

Was eigentlich bringt uns dazu, den jetzigen Augenblick der Erdgeschichte durch den Ausruf „Verweile doch, du bist so schön“ zu adeln und diesen Ausruf zu einem moralischen Imperativ zu erheben? Könnte das etwa ein durch und durch egoistischer Impuls sein, mit dem wir den Augenblick adeln, in dem wir leben?

Für das Prinzip der Nachhaltigkeit wird gern angeführt, dass spätere Generationen nicht schlechter leben sollten als wir und dass wir deshalb Ressourcen nur in dem Maße verbrauchen sollten, in dem sie sich erneuern. Keine Generation vor uns hat sich an ein solches Prinzip gehalten. Manche Kulturen haben ihren Lebensraum entwaldet. In diesen Gebieten leben heute Menschen mit höherem Lebensstandard und höherer Lebenserwartung als vor der Entwaldung. Wenn die Urmenschen die Nachhaltigkeit zu einem absoluten Lebensprinzip erhoben hätten, so würde die Menschheit heute wohl ein paar Millionen Individuen mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von etwa 30 Jahren umfassen- falls sie nicht sogar ausgestorben wäre, weil die Umwelt sich eben trotzdem veränderte.

Der Wunsch, die Welt in einen stationären Zustand zu überführen, indem die Menschheit nur erneuerbare Ressourcen verbraucht, wird bei seiner Erfüllung kaum dazu führen, dass zukünftige Generationen genauso gut leben wie wir jetzt. Eine solche Strategie wird aber ziemlich sicher verhindern, dass sie besser und länger leben werden als wir. Die Nachhaltigen argumentieren gern, dass unsere Kinder und Kindeskinder uns dafür verfluchen werden, was wir ihnen hinterlassen. Dieses Argument gebe ich hier gern mit umgekehrtem Vorzeichen zurück. Wenn es nach unserem gegenwärtigen Abrutschen in die Irrationalität eine neue Aufklärung gibt, so werden sie uns dafür verfluchen, dass wir versucht haben, die Weiterentwicklung anzuhalten.

Ist der Klimawandel apokalyptisch?

Aber wir müssen doch schon deshalb nachhaltig werden, weil es sonst zur Klimakatastrophe kommt, sagen die Nachhaltigen. Hinter diesem Satz verbirgt sich wiederum ein „Verweile doch, Du bist so schön.“ Nur so kann man von einem Klimawandel auf eine Klimakatastrophe schließen. Tatsächlich hat gar niemand auf eine Katastrophe geschlossen. Es haben nur viele Angstgefühle, wie sie in der Geistesgeschichte vom Alten über das Neue Testament bis hin zu Hollywood-Filmen immer wieder zum Ausmalen apokalyptischer Szenarien geführt haben.

Freunde, höret: Die im Neuen Testament verheißene Apokalypse ist definitiv nicht eingetreten. Die vor der Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend verheißene auch nicht, genauso wenig wie die vor der Wende vom zweiten zum dritten Jahrtausend versprochene. Die Malthusianische Katastrophe können Sie in der Wikipedia finden- aber es gibt sie nicht. Seit 1980 gibt es keine Kohle mehr, wie 1865 prophezeit wurde. Weder ist das eingetreten, noch wäre es 1980 so relevant gewesen, wie es 1865 erschien. Ich habe noch kein gutes Argument dafür gehört oder gelesen, dass die Prophezeiung einer Klima-Apokalypse die erste zutreffende unter so vielen gescheiterten sein sollte. Apokalypsen-Prophezeiungen sind ein psychologisches Phänomen, keine Wissenschaft.

Nun streite ich weder ab, dass der Klimawandel die Häufigkeit lokaler katastrophaler Wetterereignisse erhöhen kann, noch, dass er lokal Lebensbedingungen von Menschen verschlechtern wird. In einigen Fällen wird er wohl sogar die Migration größerer Menschengruppen erzwingen. Daraus folgt jedoch nicht, dass der Klimawandel um jeden Preis minimiert werden muss. Nahezu jeden Preis würde man nur zahlen, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit bestünde, dass der Klimawandel die Menschheit auslöscht. Zu dieser Annahme besteht kein Anlass.

Moralisierende Nachhaltigkeit verstellt den Blick

Wenn das Überleben der Menschheit nicht auf dem Spiel steht, ist der Klimawandel ein Problem wie andere auch und sollte so behandelt werden. Das rationale Verhalten ist das folgende. Zuerst analysiert man, ob überhaupt ein relevantes Problem vorliegt. Wenn das der Fall ist, so sucht man nach der Reaktion, welche das Kosten-Nutzen-Verhältnis minimiert. Das ist keine unzulässig ökonomisierende Betrachtung, wenn man die Begriffe der Kosten und des Nutzens weit genug fasst. Diese sind hier nicht rein finanziell zu verstehen, sondern zum Beispiel auch in Form verlorener oder gewonnener Lebenserwartung.

Im Fall des Klimawandels liegt nach unserem besten Wissen ein relevantes Problem vor. Alle ernstzunehmenden Klimamodelle sagen einen Temperaturanstieg voraus, der zu schnell ist, um sich daran ohne spezielle Maßnahmen anzupassen. Außerdem legen sie eine Häufung katastrophaler Wetterereignisse nahe. Völlig irrelevant ist die Frage, ob der Klimawandel anthropogen ist, also vom Menschen gemacht. Davon hängt die optimale Reaktion in keiner Weise ab. Die Frage ist nur, ob menschliches Handeln die Geschwindigkeit und das Ausmaß des Temperaturanstiegs sowie die zu erwartende Anzahl katastrophaler Wetterereignisse verringern kann. Sie zerfällt in drei Teilfragen, diejenige der technischen Möglichkeiten, diejenige der Kosten und diejenige der politischen Umsetzbarkeit.

Die Reduktion des Klimawandels durch die Verringerung des Ausstoßes von Treibhausgasen ist eine Vermeidungsstrategie und als solche nur eine mögliche Reaktion auf das Problem. Man kann auch eine Anpassungsstrategie verfolgen, welche zum Beispiel die Kosten lokaler katastrophaler Wetterereignisse verringert und die Kosten notwendiger Migration minimiert, sowie diese Migration organisiert. Ob eine Vermeidungs- oder eine Anpassungsstrategie besser ist, hat wiederum nichts mit moralischen Fragen zu tun. Relevant ist ausschließlich, bei welcher Strategie oder Mischung von Strategien das Kosten-Nutzen-Verhältnis am kleinsten ist. Auch bei Anpassungsstrategien spielen natürlich die technische und politische Realisierbarkeit eine Rolle.

Neben Vermeidung und Anpassung gibt es noch eine dritte mögliche Reaktion auf ein relevantes Problem, nämlich bewusste Ignoranz. Aufgrund der dem Menschen eigenen Angststörungen ist bewusste Ignoranz gegenüber einem Problem psychologisch die hohe Schule, während Verdrängung, also unbewusste Ignoranz, sehr häufig ist. Bewusste Ignoranz kann mitunter die optimale Reaktion sein, dann nämlich, wenn bei jeder Mischung von Vermeidungs- und Anpassungsstrategien die Kosten der Reaktion höher ausfallen als die dadurch ersparten Kosten. Wenn Sie in der Nacht frieren, aber nicht zu erfrieren drohen und Ihre einzige Möglichkeit zu heizen wäre es, teure Möbel zu verbrennen, dann sollten Sie besser akzeptieren, dass Sie in dieser Nacht frieren werden. Es sei denn, sie sind sehr reich. Der Nachsatz ist wichtig. Die optimale Reaktion auf den Klimawandel kann aus der Sicht armer Länder ganz anders aussehen als aus der Sicht reicher Länder. Für erstere sind die Kosten des Klimawandels geringer und der verlorene Entwicklungsgewinn, etwa durch eine Verteuerung der Energie, ist größer.

Beim Klimawandel, wie bei den meisten krisenhaften Problemen, muss noch eine weitere Frage betrachtet werden. Welche Chancen ergeben sich? Mit anderen Worten, welche Gewinne können durch Anpassung an das Problem realisiert werden und zu welchen Kosten? Sehr wahrscheinlich gehen infolge des Klimawandels im Süden und in einigen Küstengebieten landwirtschaftliche Nutzflächen verloren. Ebenso wahrscheinlich werden im Norden Flächen ertragreicher und manche Flächen neu nutzbar. In gemäßigten Zonen werden Flächen mit bisheriger Einfachernte doppelte Ernten ermöglichen und ein erhöhter CO2-Gehalt der Luft führt bei sonst optimaler Düngung bekanntermaßen sowieso zu einer Ertragssteigerung. Ist der potentielle Verlust oder der potentielle Gewinn an Ertrag größer und was würde es kosten, die Ertragssteigerungen zu realisieren und das Neuland zu erschließen? Die Frage ist hochrelevant, weil das gegenwärtige, nicht anhaltbare Wachstum der Erdbevölkerung sicher eine Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion erfordert.

An diesem Punkt stellt sich sogar die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, dem Klimawandel entgegenzuwirken. Je nach Modellannahmen wird die Oberflächentemperatur des Planeten sich nach einem Anstieg um etwa 1,5 bis 4,5°C wieder stabilisieren, wobei angenommen wird, dass der CO2-Ausstoß zu einer dauerhaften Verdopplung der CO2-Konzentration der Atmosphäre führt. Diese Voraussage gab es schon 1979, als sie noch auf sehr groben Annahmen beruhte. Inzwischen ist sie besser abgesichert, aber hat sich nicht wesentlich geändert. Wo liegt, global gesehen, die optimale Oberflächentemperatur für die Nahrungsmittelproduktion? Bei der jetzigen Oberflächentemperatur, darunter, oder darüber? Sehr wahrscheinlich doch darüber, denn große Teile der Erdoberfläche sind wegen Kälte unfruchtbar. Angenommen, die optimale Temperatur läge 3,5°C höher und wir täten alles, um den Anstieg unter 2°C zu halten. Sollte man das dann nicht eine grundfalsche Reaktion nennen? Nahrungsmittelproduktion und Süßwassermenge werden in 50 Jahren vermutlich das größte Menschheitsproblem sein. Auch die Süßwasserströme werden global gesehen stärker, wenn die Oberflächentemperatur ansteigt.

Ich kenne die optimale Oberflächentemperatur nicht. Niemand kennt sie. Sicher ist aber, dass wir ohne eine Abschätzung dieser Temperatur gar nicht sinnvoll über Klimaziele reden können. Die Annahme, dass die Oberflächentemperatur vor der industriellen Revolution die optimale war, ist völlig haltlos. In der Nachhaltigkeitsreligion gilt es aber schon als Ketzerei, die Frage nach einer anderen optimalen Temperatur überhaupt zu stellen und entsprechend wenig wird auf diesem Gebiet geforscht. Die ideologische Verblendung hat weitere Folgen für die wissenschaftliche und technologische Reaktion auf den Klimawandel. Durch den einseitigen Fokus auf Vermeidungsstrategien investieren wir nicht genug in Forschung und Technologieentwicklung für Anpassungsstrategien und zur Realisierung der möglichen Gewinne.

Fazit

Bis weit in die Reihen der Wissenschaft hinein wird bezüglich unserer Reaktion auf den Klimawandel mit Denkmustern argumentiert, die, milde gesagt, voraufklärerisch sind. Statt rationaler Argumente werden moralisierende Behauptungen aufgestellt. Das wird sicher nicht zu einer optimalen Reaktion auf das Problem führen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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