Magische Abnahme von Nicht-Covid-Erkrankungen

Covid-19 In dem Maße, in dem Covid-19 scheinbar zunimmt, nimmt die Zahl anderer Patienten auf Intensivstationen und mit anderen schweren Atemwegsinfektionen ab.

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Auf die hier diskutierten Phänomene bin ich durch einen sehr lesenswerten Beitrag von Christof Kuhbandner aufmerksam geworden. Meine einzigen eigenen Beiträge sind eine (triviale) Datenglättung, die das Phänomen im Datensatz der Intensivbettenbelegung deutlicher sichtbar macht, und ein Vergleich mit Daten zu schweren akuten Atemwegsinfektionen aus den Jahren 2012-2015. Hauptsächlich ist dieser Blogbeitrag daher eine publizistische Unternehmung, gleichzeitig aber eine Überprüfung der Argumentation von Herrn Kuhbandner anhand der Originaldaten.

Woher wissen andere schwere Krankheiten von Covid-19?

Kuhbandner war aufgefallen, dass die Zahl der belegten Intensivbetten in Deutschland in letzter Zeit gar nicht ansteigt oder doch zumindest nicht annähernd so stark wie diejenige der Covid-19-Intensivpatienten. Das wird nicht sichtbar, wenn man die Tagesberichte der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) verfolgt. Die Abbildung in diesem Bericht suggeriert einen Rückgang der Zahl freier Betten. Wie dieser Eindruck erzeugt wird, erkläre ich später. Die tatsächliche Situation kann man ebenfalls auf der Homepage der DIVI anschauen, wenn man im Intensivregister zu „Zeitreihen“ navigiert. Dort kann man auch alle Originaldaten herunterladen. Das habe ich getan. Meine Darstellung ist in Abbildung 1 gezeigt.

Die Intensivstationsbelegung folgt einem Wochenzyklus. Deshalb ist die bei DIVI gezeigte Kurve ziemlich wellig, was es erschwert, Trends zu erkennen. In Abbildung 1 (links) sind diese Originaldaten als blassrote Punkte gezeigt. Trends sind sehr viel besser im gleitenden Wochenmittel (rote Kurve) zu verfolgen. Man sieht, dass es auch im Oktober keinen starken Trend gab, anfangs sogar einen Abfall. Das wäre an sich nicht bemerkenswert. Nur gibt es bei DIVI auf der gleichen Seite auch den Datensatz mit den Zahlen der Covid-19-Patienten in Intensivbetten. Diese Zahlen kann man von der Gesamtbelegung abziehen und erhält die Anzahl der Intensivpatienten, die nicht Covid-19 haben (schwarze Kurve). Jetzt sieht man den starken Anstieg der Covid-19-Patienten – aber als Abfall der Zahl der Intensivpatienten aus anderen Gründen. Diese sind nicht aus Kapazitätsgründen verlegt worden, denn es gibt etwa 9000 freie Intensivbetten (rechts, grüne Kurve). Auch von offizieller Seite wird nicht behauptet, dass es zur Zeit Kapazitätsprobleme gäbe. Daraus folgt, dass andere Krankheiten, die einen Intensivstationsaufenthalt nötig machen, auf magische Weise in dem Maße abnehmen, in dem die Zahl der Covid-19-Intensivpatienten zunimmt.

Kein guter Wissenschaftler kann so einen Befund akzeptieren. Hier liegt offensichtlich ein Fehler vor, liebe Kollegen in der DIVI und am RKI. Dem müsst Ihr nachgehen.

Am Ende der grünen Kurve (Abbildung 1, rechts) sieht man einen sehr viel stärkeren Abfall der Zahl freier Intensivbetten als er der leichten Zunahme der Zahl der Intensivpatienten in den letzten Tagen entspräche (die vertikalen Achsen sind verschieden skaliert). Der Hauptgrund ist in der blauen Kurve in Abbildung 1, rechts zu sehen. Seit Anfang Oktober wird die „Reserve“ auf Kosten der als frei ausgewiesenen Betten erhöht. Man darf das sehr wohl Etikettenschwindel nennen, insbesondere wenn, wie in den Tagesberichten der DIVI, nicht darauf hingewiesen wird.

Einen subtileren weiteren Beitrag erkennt man, wenn man die Zahl der freien Betten, der belegten Betten und der Reserve addiert. Diese Kurve kann ich bei Bedarf in der Diskussion nachreichen. Sie zeigt seit Anfang August einen Abwärtstrend, der sich im Oktober verstärkt hat. Die Gesamtzahl der Intensivbetten verringert sich. Das wird man sicher gern mit Personalmangel erklären. Wenn man allerdings wirklich eine Überlastung erwarten würde, wie die Politik behauptet, würde man die einmal ausgestatteten Intensivbetten nicht abbauen, sondern versuchen, das Personalproblem zu lösen.

Die tatsächlichen Daten der Intensivbettenbelegung stützen die Argumentation einer steigenden Belastung durch Covid-19 nicht. Sie legen vielmehr nahe, dass Fälle falsch zugeordnet werden und dass das massiv und in steigendem Ausmaß geschieht. Leider können diese Daten aber nicht mit Vorjahren verglichen werden, weil das Intensivregister erst im März 2020 gerade wegen Covid-19 eingerichtet wurde. Ein solcher Vergleich ist jedoch mit den Daten der Überwachung schwerer akuter Atemwegsinfektionen (SARI) des RKI möglich. Diese Überwachung wurde bereits 2012 eingerichtet. Vor Covid-19 war das RKI ja durchaus eine hochprofessionelle Institution mit hoher wissenschaftlicher Reputation und international vorbildlichen Programmen.

So wie Covid-19 zunimmt, nehmen andere schwere Atemwegsinfektionen ab

Die aktuellen Daten hat Kuhbandner im Situationsbericht des RKI zu Covid-19 gefunden, wo sie für das Jahr 2020 donnerstags abgebildet werden, zum Beispiel am 29.10.2020 auf Seite 10 in Abbildung 5. Auch dort fällt auf, dass die Gesamtzahl nicht zunimmt. In meiner Darstellung der zugrunde liegenden Daten (Abbildung 2, links) entspricht das der Gesamthöhe der Balken. Sie nahm im Oktober sogar leicht ab. Gleichzeitig nahm, wie wir alle wissen, die Zahl der Covid-19 zugeschriebenen schweren Atemwegsinfektionen zu (rote Balken). Entsprechend nahm diejenige der anderen schweren Atemwegsinfektionen sehr deutlich ab (schwarze Balken). Auch das erwartet man nicht. Das Überwachungssystem ist, nachdem es knapp fünf Jahre lief, in einer offen zugänglichen Publikation beschrieben worden, in der auch Daten für den Zeitraum Januar 2012 bis Mitte 2016 veröffentlicht wurden. Dies Daten habe ich digitalisiert und für die gleichen Kalenderwochen in Abbildung 2, rechts dargestellt. Die aktuelle Gesamtzahl entspricht ziemlich genau derjenigen Ende Oktober 2012-2015 - als Covid-19 nicht im Umlauf war. Der Verlauf ist dieses Jahr etwas untypisch, aber nicht auffällig verglichen mit den Variationen zwischen den Jahren 2012, 2013, 2014 und 2015. Lässt man allerdings die Covid-19-Infektionen weg, die es damals nicht geben konnte, dann ist der Verlauf 2020 auffällig, insbesondere im Oktober.

Warum sieht das Sentinel der Arbeitsgruppe Influenza den Covid-19-Anstieg nicht?

Am 21. Juni hatte Oliver Märtens auf Multipolar berichtet (das darf man hier nicht verlinken), dass die Arbeitsgruppe Influenza (AGI) des RKI seit Kalenderwoche 12 keinen einzigen positiven SARS-Cov2-Test mehr erhalten hatte. In „Ist da was?“ vom 20. August hatte ich bemerkt, dass dem immer noch so war und gezeigt, dass das statistisch unvereinbar mit der Annahme war, dass die Sentinel-Überwachung der AGI und die stark publizierten positiven „Corona-Tests“ sich auf die gleiche Grundgesamtheit beziehen. Insgesamt ist die Diskrepanz inzwischen so weit bekannt, dass das RKI sich bemüßigt fühlt, eine Erklärung dazu abzugeben. So wird im Situationsbericht vom 29. 10. auf Seite 9 diesbezüglich auf die FAQ des RKI zu Covid-19 verwiesen. Man muss bis „Fallzahlen und Meldungen (Stand: 27.10.2020)“ scrollen und die Antwort auf die Frage „Wieso unterscheiden sich die Nachweise mit SARS-CoV-2 aus dem AGI-Sentinel und den Meldedaten nach IfSG?“ aufklappen. Dann findet man, unter Anderem, die bemerkenswerten Sätze zur AGI:

Ziel ist es, die zirkulierenden respiratorischen Viren zu erfassen und daraus Schlussfolgerungen in Bezug auf die Gesamtbevölkerung zu ziehen.“

Mit einer weiteren Verbreitung von SARS-CoV-2 in der Bevölkerung steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass SARS-CoV-2 wieder in einer Patientenprobe aus einer der AGI-Sentinelpraxen nachgewiesen wird.

Nun bin ich in der DDR aufgewachsen und habe gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Was hier, verklausuliert, steht, ist Folgendes: Ein zum Zweck der Früherkennung von in der Gesamtbevölkerung zirkulierenden Viren extra installiertes System wird erst dann Covid-19 bemerken, wenn sich das Virus weiter in der Bevölkerung verbreitet. Bekannt ist zudem, dass das System bis jetzt noch jede Grippeepidemie gesehen hat – und zwar deutlich. Dieser Befund ist ausgesprochen inkongruent mit den offiziellen Verlautbarungen des RKI und der Politik.

Fazit

Deutschland befindet sich in einem Teil-Lockdown. Die zur Begründung angebrachten Argumente sind durch die Datenlage nicht gedeckt.

Nachtrag (5.11.202, 20:53 Uhr)

Die Situation hat sich in den letzten Tagen nicht geändert. Die gemeldete Zahl der belegten Betten ist weiterhin stabil, wie die aktualisierte Abbildung zeigt. Die Daten ergeben keinen Sinn. Die Gesamtzahl deklarierter freier, belegter und Reservebetten sinkt in dem Maße, in dem die Anzahl durch Covid-19-Patienten belegter Betten steigt. Die Gesamtzahl der gemeldeten SARI-Fälle war in Kalenderwoche 43 erhöht. Die gesamte Anzahl von SARI-Fällen, die nicht Covid-19 sind, ist allerdings weiter gesunken. Die Schlussfolgerungen des Beitrags aus den Daten der Vorwoche gelten also auch eine Woche später immer noch.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke