Friedensvertrag oder russische Großoffensive?

Ukraine Trotz Verhandlungsfortschritten ist eine Einigung zwischen der Ukraine und Russland in der gegenwärtigen militärischen Lage noch unwahrscheinlich.

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Stand der Verhandlungen

Der ukrainische Leiter von Friedensverhandlungen mit Russland, David Arakhamia, hat mitgeteilt, dass die Verhandlungen weit genug fortgeschritten seien, um eine Gipfeltreffen der Präsidenten beider Länder in der Türkei ins Auge zu fassen. Einzig die Krimfrage sei noch offen. Das wäre eine faustdicke Überraschung, denn dann müsste entweder die Ukraine der Abspaltung des Donbass zugestimmt haben oder Russland müsste die Wiedereingliederung der „Volksrepubliken“ in die Ukraine akzeptiert haben.

Allerdings fand sich heute früh bei der ukrainischen Nachrichtenagentur UNIAN eine Meldung, nach der der russische Verhandlungsführer, Wladimir Medinski, dem widersprochen hat. UNIAN verlinkt dazu eine etwas ausführlichere Meldung der russischen Agentur Interfax. Medinski sagt, dass man sich in bereits in Istanbul auf die folgenden Punkte geeinigt habe, „den neutralen, blockfreien, nicht-nuklearen Status der Ukraine, das Verbot ausländischer Militärstützpunkte, die Ablehnung der Stationierung ausländischer Truppen und jeglicher offensiver Raketenwaffen, der Entwicklung und Herstellung von Massenvernichtungswaffen, die Abhaltung von Übungen unter Beteiligung ausländischer Truppen nur mit Genehmigung der Garantenstaaten, einschließlich Russlands, sowie die Schaffung eines internationalen Sicherheitsgarantiesystems für die neutrale Ukraine“ (Übersetzung mit DeepL). Die Position Russlands in Bezug auf die Krim und den Donbass sei unverändert. Insofern teile er, Medinski, zu seinem Bedauern den Optimismus Arakhamias in Bezug auf die Fertigstellung eines Vetragsentwurfs für ein Gipfeltreffen nicht. Man arbeite aber weiter daran.

Aus meiner Sicht müssen wir daher davon ausgehen, dass weiterhin parallel Krieg und Verhandlungen geführt werden. Die Ukraine wird sicher in der Donbass-Frage nicht eher nachgeben, als Russland auch alle Gebiete kontrolliert, die es für die „Volksrepubliken“ beansprucht. Was die Oblast Luhansk betrifft, so kontrolliert Russland gemeinsam mit den Separatisten dieses Gebiet inzwischen nahezu vollständig. Bezüglich der Oblast Donezk sieht es freilich ganz anders aus. Die Innenstadt von Mariupol, einem der wichtigsten Industriezentren des Donbass, ist weiterhin in ukrainischer Hand. Das trifft auch auf fast die Hälfte des Gebiets der Oblast Donezk zu, einschließlich der wichtigen und befestigten Städte Kramatorsk und Sloviansk. Sloviansk war im April 2014 der Ausgangspunkt des ukrainischen Bürgerkriegs, in dessen Folge Teile des Donbass sich von der Ukraine lossagten.

Umgekehrt kann Putin nicht ohne katastrophalen Gesichtsverlust von der Anerkennung der Volksrepubliken abrücken. Daraus folgt, dass Russland weitere Gebietsgewinne erzielen muss, ehe es einer Friedenslösung zustimmen kann. Die Alternative wäre, dass Russland eine Niederlage akzeptiert. Angesichts der militärischen und wirtschaftlichen Situation beider Seiten besteht dafür kein Anlass.

Der russische Strategiewechsel

Russland hat seine Truppen aus den auf Kiew gerichteten Stoßkeilen abgezogen. Von der Geschwindigkeit dieser Absetzbewegung war die ukrainische Militärführung einmal mehr überrascht. Ihre Truppen waren nicht darauf vorbereitet, aus der Verteidigung zur Verfolgung der gegnerischen Kontingente überzugehen. Als die Führung die Lage nach Stunden begriff, war es bereits zu spät. Die russischen Truppen wählten zu ihren neuen Einsatzgebieten weiter östlich nicht einmal den nördlichen Umweg über Belarus und Russland, verließen die Region von Kiew also nicht auf den Routen, auf denen sie gekommen waren. Vielmehr sicherten frische Truppen aus Russland Korridore für eine direkte Verlegung nach Osten, wie aus einer gestrigen Meldung auf UNIAN hervorgeht. Die verlegten russischen Truppen sprengten auch Brücken, um Operationen im eigenen Rückraum zu erschweren, wie eine andere UNIAN-Meldung zeigt.

Derweil mussten sich das ukrainische Oberkommando und Präsident Selenskyj bemühen, eine Siegestrunkenheit unter den eigenen Kräften zu verhindern. Das ist der Fluch der vorausgegangenen Propaganda. Nachdem das ukrainische Militär den eigenen Medien einen Monat lang unter ständigen Gebietsverlusten ständig gesiegt hat, musste das Räumen besetzter Gebiete durch russische Truppen wie eine unmittelbar bevorstehende endgültige Niederlage Russlands erscheinen. Die tatsächliche militärische Situation entspricht dem in keiner Weise. Russland gruppiert seine Truppen für eine neue Offensive in der Ostukraine um – das ukrainische Oberkommando und der Präsident werden nicht müde, das auch so zu sagen.

Westliche Medien gehen dagegen immer noch davon aus, dass Russland eine Schlacht um Kiew verloren hat, weil schon die Einkesselung der Stadt nicht erreicht wurde. Dieses Narrativ geht davon aus, dass Putin Kiew überhaupt einkesseln und vermutlich sogar erstürmen wollte. Für diese Annahmen spricht aus meiner Sicht wenig. Russland hat ein sicherheitspolitisches Interesse an der Ukraine als neutralem Pufferstaat, mithin am Fortbestand der Ukraine und ihrer Regierung. Es hat sicher kein Interesse an einer lang andauernden, teuren und kräftezehrenden Besetzung des gesamten Landes oder großer Teile desselben, in denen eine Mehrheit der Bevölkerung gegen Russland eingestellt ist. Russland hatte ein Interesse, Kiew als Wirtschafts-, Handels- und Administrationszentrum der Ukraine zu schwächen und die Ressourcen der Ukraine insgesamt durch eine Flucht erheblicher Teile der gebildeten Bevölkerung zu schwächen. Um Letzteres in Kiew zu erreichen, durfte dort der Belagerungsring gerade nicht geschlossen werden. Die Stoßkeile auf Kiew haben beide Ziele erreicht. Auch die Fluchtbewegung ist noch nicht gestoppt. Die ukrainische Bahn betreibt Flüchtlingszüge in die Slowakei, nach Polen, nach Rumänien und nach Wien sowie innerukrainische Flüchtlingszüge aus Kramatorsk nach Lwiw.

Eine Neubewertung der strategischen Optionen im Verlauf eines Krieges ist übrigens nichts Ungewöhnliches, sondern Usus. Will man die Stärke der Verhandlungspositionen beider Seiten bewerten, so muss man untersuchen, welche Seite dabei die Initiative hat und welche nur reagiert. Es dürfte klar sein, dass nach wie vor die russische Seite bestimmt, wo und auf welche Art gekämpft wird. Allgemein wird, auch vom ukrainischen Oberkommando, ein russischer Versuch erwartet, die ukrainischen Truppen an der Donbass-Front einzukesseln. Darauf komme ich weiter unten zurück. Die Umgruppierung der russischen Truppen zur Vorbereitung einer regelrechten Großoffensive wird vermutlich noch einige Tage in Anspruch nehmen, wobei aber Teile der aus dem Raum Kiew verlegten Kontingente bereits schnelle Gebietsgewinne erzielen werden.

Die Umgruppierung lässt, wie man erwarten musste, vorerst noch keine klare zukünftige Stoßrichtung erkennen. Darüber hinaus hat Russland aber auch die Strategie der Luftangriffe in den nicht unmittelbar umkämpften Gebieten verändert. Die ukrainische Seite spricht von Angriffen auf „kritische Infrastruktur“ und Industrieanlagen in Krementschug gestern und Odessa heute. Inzwischen ist bekannt, dass das Ziel in Krementschug die größte ukrainische Erdölraffinerie war. Da in Odessa eine weitere große Erdölraffinerie steht, wird man kaum fehlgehen, diese als das Ziel der Angriffe vom heutigen Morgen auszumachen, zumal es zu Großbränden kam. Um diese Strategie zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass die Ukraine vor Kriegsbeginn 40% ihres Treibstoffs von einer Raffinerie in Belarus (Mazyr) bezog und weitere 30% aus Russland (Quelle: GlavKom). Beide Lieferanten sind ausgefallen. Nur weitere 10% bezog die Ukraine aus anderen ausländischen Quellen, 20% stellte sie selbst her, hauptsächlich in Krementschug. Erdöllieferungen aus Kasachstan sind unterbrochen, weil ein Terminal im russischen Novorossisk infolge einer „Havarie“ außer Betrieb ist. Aserbaidschan würde liefern, aber die kürzeste Transportroute durch das Schwarze Meer ist durch Russland blockiert. Umwege sind zu teuer. Zugleich greift die russische Luftwaffe systematisch Öl- und Treibstofflager an.

Aus all dem folgt, dass der Westen in den kommenden Wochen die Ukraine mit Treibstoffen beliefern muss, wenn es dort nicht zu Engpässen in der Landwirtschaft bei der Aussaat und schließlich auch beim Militär kommen soll. Polen betreibt eine Reihe von Raffinerien nahe der ukrainischen Grenze bei Lwiw, deren Kapazitäten aber weitgehend gebunden sind. Um die Versorgung Polens sicherzustellen, wenn dieses die Ukraine beliefert, müssen vermutlich Lieferungen aus der Großraffinerie Schwedt nach Polen ausgeweitet werden. Voriges Jahr hatte Shell die 37.5% Aktienteile, die es zuvor hielt, an die russische Ölfirma Rosneft verkauft (Quelle: rbb24). Danach hielt Rosneft per 17. November 2021 91.67% der Aktien des PCK Schwedt. Eine Enteignung ist keine realistische Option, weil die Raffinerie kurz- und mittelfristig nur mit dem russischem Erdöl betrieben werden kann, das dort per Pipeline ankommt. Insofern betrifft die Zerstörung ukrainischer Raffinerien auch Deutschland. Der Brandenburger Ministerpräsident Dietmar Woidke wird sich wohl auch nur ungern an seine Begeisterung ob dieser Übernahme im November 2021 erinnern lassen.

Die kommende Großoffensive

Die Ukraine befindet sich derzeit in ein schwierigen, jedoch noch nicht in einer unhaltbaren Lage. Solange dem so ist, kann die Regierung nicht allen russischen Forderungen nachkommen. Die Frage der militärischen Neutralität scheint soweit geklärt. Eine Anerkennung der Annexion der Krim durch Russland könnte auf einem Gipfeltreffen als Teil eines Referendums in der Ukraine ausgehandelt werden. Die ukrainische Regierung könnte sich aber nicht an der Macht halten, wenn sie auch noch den Donbass aufgäbe, nachdem die Ukraine einen verlustreichen Verteidigungskrieg geführt hat, um nicht auf die russischen Forderungen eingehen zu müssen.

Russland muss also, um zu einem aus seiner Sicht akzeptablen Abschluss zu kommen, die wirtschaftliche oder militärische Lage der Ukraine unhaltbar machen. Das ukrainische Wirtschaftsministerium geht von einem Fall der Wirtschaftsleistung um 16% im 1. Quartal und von 40% für das Jahr 2022 insgesamt aus, wie UNIAN meldet. Veranschlagt man, dass der Krieg am 24. Februar begonnen hat, so entspricht das einer Halbierung der Wirtschaftsleistung seitdem und der Annahme, dass es für den Rest des Jahres bei dieser Halbierung bleibt. Von einer Bevölkerung von etwa 44 Millionen vor dem Krieg sind bisher etwa 4.1 Millionen ins Ausland geflohen. Die verbliebenen reichlich 90% leben unter erheblichen Einschränkungen. Gleichzeitig muss aber die Kriegsanstrengung finanziert werden. Westliche Staaten, deren Politik vor dem 24. Februar zur Entscheidung Putins zu einem Angriffskrieg beigetragen hat, fühlen sich verpflichtet, die Verteidigungsanstrengungen zu unterstützen. Vermutlich können sie der Ukraine auch erhebliche Kredite verschaffen. Auf die Dauer ist diese wirtschaftliche Situation dennoch nicht haltbar. Das gilt auch deshalb, weil die Ukraine hinterher wiederaufgebaut werden muss, wenn ihre Verteidigung Sinn gehabt haben soll.

Der Westen wird daher hinter den Kulissen die Ukraine zum Einlenken drängen. Den Zeithorizont dafür veranschlage ich mit etwa drei Monaten. Während dieser drei Monate muss Putin dem russischen Publikum Erfolge seines Militärs zeigen können. Putin kann diese Zeit verkürzen, wenn diese Erfolge so groß ausfallen, dass die Lage der Ukraine militärisch unhaltbar wird. Die beiden Minsker Abkommen vom 5. September 2014 und 12. Februar 2015 sind jeweils nach schweren militärischen Niederlagen der ukrainischen Seite zustande gekommen.

Die militärische Lage der Ukraine wird unhaltbar, wenn ihre am besten ausgerüsteten und kampferfahrensten militärischen Kräfte an der Donbass-Front eingekesselt werden. Die östlichste Linie, auf der Russland das erreichen könnte, verläuft westlich der befestigten Städte Sloviansk, Kramatorsk und Wuhledar, wie man auf einer Karte bei GlavKom erkennen kann. Noch günstiger wäre es, auch die befestigten Städte Losowa und Barvinkove in den Kessel einzubeziehen. Im Norden stehen die russischen Kräfte etwa auf der Linie Charkiv, Balakliia, Isjum, im Süden etwa auf der Linie Wasyliwka, Polohy, Wolnowacha. Eine westliche Karte sieht die Lage ähnlich.

Ich sehe zwei mögliche Linien für große Angriffskeile. Eine verläuft über Pervomaysky und Pavlohrad und erfordert die Erstürmung von Losowa, einer Stadt mit etwa 54‘000 Einwohnern. Eine andere Linie würde sich die Hauptverbindungsstraßen M18 und M29 zunutze machen, die streckenweise zusammenfallen. Sie verläuft von Charkiw über Dnipro (Dnepropetrowsk) und Saporischschja, wobei die Innenstädte jeweils umgangen werden. Die Nachschubrouten könnten aber nicht als sicher gelten, solange die Ukraine diese Innenstädte noch hält. Sind derart große Offensiven, wie sie für ein Zerschneiden der Ukraine auf einer dieser Linien nötig wären, in der jetzigen Situation denkbar? Die Entfernung von Charkiw bis Dnipro beträgt reichlich 200 Kilometer, diejenige von Dnipro nach Saporischschja knapp 90 km. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Angriffskeile von Süden und Norden dort schnell genug vorgeschoben werden könnten, um einer Umgruppierung der ukrainischen Streitkräfte zuvorzukommen. Das gilt in ähnlicher Weise für die etwas unkompliziertere und deutlich kürzere andere Linie. Wahrscheinlicher erscheint mir daher ein Versuch, das Gebiet zwischen der Donbassfront und der Linie Pervomaysky – Wuhledar in mehrere kleinere Kessel aufzuteilen. Zu erwarten wäre aus meiner Sicht eine erheblich stärkere Luftunterstützung, als das beim weitgehend ungestörten Vortreiben der Keile auf Kiew der Fall war.

Inwiefern betrifft die Aussicht einer solchen Großoffensive Westeuropa? Es ist nicht auszuschließen, dass zu Beginn oder während der Großoffensive die Erdgas- und eventuell Erdöllieferungen nach Westeuropa durch Russland unterbrochen werden. Ein Vorwand ist bereits geschaffen worden. Nachdem die gegenwärtigen Eigentumsverhältnisse von Gazprom Germania („Energie verbindet Menschen“) unklar sind, ist auch unklar, wie der Zugriff auf deren Erdgasspeicher funktionieren würde, die allerdings ohnehin nur sehr wenig gefüllt sind (17% im Januar 2022).

Fazit

Ich teile weder den, vermutlich nur aufgesetzten, Optimismus des ukrainischen Verhandlungsführers David Arakhamia in Bezug auf ein baldiges Gipfeltreffen von Selenskyj und Putin noch die Ansicht einiger westlicher Medien und Politiker, dass dieser Krieg sich über Jahre hinziehen wird. Ein Einfrieren der Front ohne tatsächlichen Friedensvertrag ist freilich denkbar, was dann aber wohl bedeuten würde, dass Cherson in russischer Hand bleibt. Die ukrainische Militärführung steht vor einer schwierigen Entscheidung. Vermutlich werden schon in den nächsten Tagen, spätestens aber Mitte April, Truppenteile an der Donbass-Front in Situationen geraten, wo sie entweder weit zurückgenommen werden müssen, oder aber in große Gefahr geraten, eingekesselt zu werden. An das Trauma der verheerenden Kesselschlacht im Donbass nach dem ukrainischen Unabhängigkeitstag 2014 dürfte sich die ukrainische Militärführung noch erinnern. Sollte sich das in ähnlicher Weise wiederholen, dann wird die Ukraine einen Frieden zu russischen Bedingungen schließen müssen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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