Wie viel Immigration ist zu viel?

Demokratie Am Ende entscheidet die Mehrheit. Wer helfen will, muss sich diese erhalten.

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Vorteile der Immigration

Von fast allem kann man zu wenig haben und von allem zu viel. Zu wenig Immigration führt leicht zur Stagnation, wie Japan 1853-1854 erkennen musste, als dort überlegene Kriegsschiffe der USA auftauchten. Das Land hatte eine homogene Hochkultur mit einem ausgeklügelten Wertesystem entwickelt, die Gesellschaft war nahezu perfekt organisiert, die Kriegerkaste der Samurai war hervorragend ausgebildet und folgte einer in der Religion verankerten Ethik. Und doch musste man erkennen, dass man im Falle einer Auseinandersetzung den USA, den Europäern und Russland nicht viel würde entgegenzusetzen haben. Die USA waren in der Lage, Japan einen Handelsvertrag aufzupressen.

In den Folgejahren gewannen Reformkräfte die Oberhand. Nach der Reinstallation des Kaisers als oberstem Herrscher 1868 holte Japan Ausländer ins Land, um die Streitkräfte zu modernisieren, die Bildung zu reformieren und eine Industrie aufzubauen. Die japanische Gesellschaft übernahm viele westliche Ideen, ohne sich selbst zu verlieren. Etwa 50 Jahre nach dem Auftauchen der „schwarzen Schiffe“ hatte Japan den Anschluss an die moderne Welt geschafft. Man geht wohl kaum fehl in der Annahme, dass diese Entwicklung unmöglich gewesen wäre, ohne ausländische Fachkräfte ins Land zu holen.

In der moderneren Geschichte ist Immigration häufig nicht das Resultat von Einladungen des aufnehmenden Landes gewesen, sondern eher die Akzeptanz von Menschen aus ärmeren Ländern, die sich ein besseres Leben erhofften. Im Falle der Gastarbeiter in der Bundesrepublik Deutschland 1955-1973 spielten beide Motivationen eine Rolle. Man geht sicher auch nicht fehl in der Annahme, dass das Wirtschaftswachstum in dieser Zeit in der BRD geringer ausgefallen wäre, wenn es keine Arbeitsmigranten gegeben hätte.

Die positiven Wirkungen auf die Gesellschaft gingen weit über reine Wirtschaftskennzahlen hinaus. Die Restaurantszene und in der Folge die Küche wurden vielfältiger, die Qualität des Angebots an Obst und Gemüse stieg, neue kulturelle Angebote kamen auf und vor allem verlor die deutsche Gesellschaft ihre tief verwurzelte Provinzialität und ihren Hang zur Nabelschau, weil die Mehrheit die Erfahrung machte, dass man die Welt auch anders sehen könne, als sie selbst das gewohnt waren. Oft ist der „Italiener an der Ecke“ oder der türkischstämmige Friseur besser in die deutsche Gesellschaft integriert als es ihre deutschen Gegenstücke sind. In den 1990 hinzugekommenen Bundesländern spürt man außerhalb Berlins bis heute, was Deutschland fehlen würde, wenn die Immigration auf so niedrigem Niveau geblieben wäre wie in der DDR und so restriktiv gehandhabt worden wäre wie dort.

Diese Vorteile sind entstanden, obwohl der Bildungsgrad der meisten Immigranten deutlich unter dem durchschnittlichen Bildungsgrad in Deutschland lag. Aus der zweiten und dritten Generation der Eingewanderten sind einige Vertreter bis in die Eliten im Sport, in der Politik und, sehr viel seltener, in der Wirtschaft oder Wissenschaft vorgedrungen.

Dennoch unterschlägt man etwas, wenn man die Arbeitsimmigration 1955-1973 nur im positiven Licht darstellt. Der durchschnittliche Bildungsgrad ist auch in der zweiten und dritten Generation niedriger, vergleichsweise wenige Söhne und Töchter der Immigranten finden den Weg an die Universitäten. Zudem ist dieser Anteil je nach Immigrantengruppe unterschiedlich. Die zum Islam rückgewandten Einwanderer sind im Straßenbild der Großstädte sehr auffällig, besonders die Frauen mit Kopftuch. Ihre Töchter wären das im Hörsaal einer Universität auch. Aber man trifft sie dort fast nicht an. Die Söhne auch nicht.

Ich denke nicht, dass jeder an der Hochschule studieren muss, der überdurchschnittlich intelligent ist. Wenn aber eine ganze gesellschaftliche Gruppe fast gar nicht an Bildungsabschlüssen teilhat, die in Deutschland die Eintrittskarte zu Schlüsselpositionen sind, dann ist sie nicht gut in die Mehrheitsgesellschaft integriert.

Dazu ist es gekommen, obwohl die Arbeitsmigranten der Jahre 1955-1973 unter ausgesprochen günstigen Bedingungen aufgenommen wurden. Es herrschte Vollbeschäftigung, sie waren über den Arbeitsprozess von Anfang an in gewissem Maß in die aufnehmende Gesellschaft eingebunden und es herrschte durch das starke Wirtschaftswachstum und den steigenden Wohlstand gesellschaftlicher Optimismus. Als die Ölkrise diese Zustände beendete, sah die Bundesrepublik keine Vorteile mehr in der Arbeitsmigration und stoppte die Anwerbung.

Schon in den fetten Jahren waren aber Nachteile wahrgenommen worden. Der Zustrom von Arbeitskräften, für die auch ein in Deutschland als schlecht wahrgenommener Lohn attraktiv war, verringerte die sonst möglichen Lohnsteigerungen für einheimische Arbeiter. Die Gastarbeiter wurden, nicht zu Unrecht, als Billigkonkurrenz wahrgenommen. Als sich der Arbeitsmarkt Anfang der 1980er Jahre deutlich verschlechtert hatte, versuchte die Regierung der BRD aktiv die Rückkehr der Gastarbeiter in ihre Heimatländer zu betreiben, indem sie ein Gesetz dazu schuf und anfangs Rückkehrern sogar finanzielle Unterstützung anbot.

Als es zu Jahresbeginn 1990 Vorhersagen gab, es könne zu einer Migration von Millionen aus der DDR in die BRD innerhalb von Monaten kommen, wurde dieses Szenario als so bedrohlich angesehen, dass man eine überstürzte Wiedervereinigung und eine noch stärker überstürzte Währungsunion zu unrealistischen Bedingungen vorzog. Zu diesem Schluss kam man damals, obwohl die Zuwanderer die gleiche Sprache gesprochen hätten und ihre kulturelle Integration problemlos gewesen wäre. Ihr durchschnittlicher Bildungsstand wäre in den Fremdsprachen und in der Selbstdarstellung geringer, dafür aber in Mathematik, Naturwissenschaften und Technik höher gewesen als derjenige der westdeutschen Bevölkerung.

Zu einer Migrationswelle kam es dann natürlich doch noch, weil die Alternative zu einem schnellen und starken Anstieg der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern führte. Die Welle war aber kleiner als ohne schnelle Wiedervereinigung und Währungsunion und vor allem konnte sie durch die Alimentierung der Arbeitslosen in den neuen Bundesländern auf eine reine Arbeitsmigration beschränkt werden.

Diese reine Arbeitsmigration war für die alten Bundesländer insgesamt vorteilhaft, einerseits wegen der schon erwähnten Ergänzung der Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt und andererseits weil fast nur Leute im produktivsten Alter kamen, deren Motivation hoch war, weil sie den Wohlstand noch nicht hatten, den der jüngere Teil der einheimischen Gesellschaft auch ohne viel eigenen Einsatz erben konnte.

Bis etwa 1992 hatte die Bundesrepublik durch Immigration vor allem profitiert. Bei den weiteren Migrationswellen, die sich infolge des Zerfalls des realsozialistischen Systems ergaben, ist der Befund weniger klar. Ob es zur Umsiedlung der Russlanddeutschen genauere Untersuchungen gibt, ist mir nicht bekannt. Aus der öffentlichen Diskussion kann man aber schließen, dass sie im Wesentlichen unproblematisch verlief. Die Bildungsbeteiligung dieser Gruppe ist durchschnittlich oder sogar eher überdurchschnittlich. Wie wir in den letzten Wochen bemerkt haben, ist allerdings die Integration unvollständig.

Die erste als problematisch angesehene Migrationswelle ist diejenige infolge des kriegerischen Zerfalls Jugoslawiens. Deutschland, das den Prozess befördert hatte, hat sich allerdings im Gegensatz zur Schweiz damals als Aufnahmeland nicht besonders hervorgetan. Dennoch kann man an diesem Fall den Aspekt von Migration diskutieren, der zu den stärksten Ressentiments der Bevölkerung führt.

Nachteile der Immigration

Sofern Migration keine reine Arbeitsmigration ist, führt sie zu einem Anstieg der Kriminalität. Diese Feststellung ist rassismusfrei, weil sie unabhängig davon ist, aus welcher Ethnie oder welchem Kulturkreis die Migranten kommen. Es genügt, dass eine größere Gruppe von Menschen ins Land strömt, die keine adäquate Beschäftigung findet und sich am unteren Rand der Gesellschaft eingeordnet sieht. Von den beschäftigungslosen Einheimischen unterscheidet die Einwanderer, dass sie eben keine Auslese motivationsschwacher Leute sind, die sich aufgrund ausreichender Alimentation mit ihrer prekären Lage abgefunden haben. Die Migranten haben im Durchschnitt mehr Initiative, mehr Bauernschläue und weniger Skrupel, schon weil sie unter raueren Bedingungen aufgewachsen sind. Das sind durchaus Eigenschaften, die der aufnehmenden Gesellschaft von Nutzen sein können, wenn für diese Leute legale Beschäftigungsmöglichkeiten gefunden werden können. Insofern das aber nicht gelingt, hat man eine Gruppe von Leuten, die wenig zu verlieren und viel zu gewinnen hat, falls sie sich für eine kriminelle Karriere entscheidet. Das gilt umso mehr als das Rechtssystem des aufnehmenden Staats auf eine andere durchschnittliche Täterpsychologie und Tatmotivation abgestimmt ist.

Der Zusammenhang zwischen Kleinkriminalität (Einbrüche, organisierter Diebstahl) und Migration ist in der Bevölkerung bekannt, auch wenn sich Politik und Medien bemüht haben, ihn so weit wie möglich aus der veröffentlichten Meinung zu verbannen. Diese Versuche haben eher dazu geführt, dass das Risiko für den Einzelnen überschätzt wird. Wenn die offizielle Meinung etwas unterschlägt, so erscheint es im Buschfunk in seiner mehrfachen Größe. Mit der Verbreitung des Internets ist der Buschfunk zum politischen Faktor geworden, weil eine wesentliche Funktion der gesteuerten veröffentlichten Meinung obsolet geworden ist. Vor dem Internet konnte niemand wissen, wie viele Leute so dachten wie er und ob ein Einzelfall tatsächlich nur ein Einzelfall war oder einer von vielen gleichgelagerten Fällen. Der Erfolg der Propaganda beruhte auf einer Asymmetrie in der Beherrschung der Kommunikationskanäle, die es inzwischen nicht mehr gibt.

Hier steckt ein viel allgemeineres Problem als dasjenige der Migrationskrise. Einer der Väter der modernen Propaganda, Edward Bernays, identifizierte bereits 1928 die Propaganda als notwendig zur Ordnung des Chaos, das sonst in einer demokratischen Massengesellschaft unweigerlich ausbrechen müsse (Edward Bernays, Propaganda – Die Kunst der Public Relations, orange press): „Die herrschende Minderheit hat ein mächtiges Instrument entdeckt, mit dem sie die Mehrheit beeinflussen kann. Die Meinung der Massen ist offensichtlich formbar, sodass ihre neu gewonnene Kraft in die gewünschte Richtung gelenkt werden kann. Unsere heutige Gesellschaftsstruktur würde ohne diese Praxis nicht funktionieren.“ (Hervorhebung von mir).

Die Verbreitung des Internets und die Blogosphäre haben das Instrument stumpf gemacht und die etablierte Politik hat bisher keinen Ersatz finden können. Vielmehr versucht sie sich weiter in der Art von Propaganda, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die damalige Kommunikationsstruktur entwickelt wurde. Ich fürchte, dass Edward Bernays sehr weitsichtig war: Unsere heutige Gesellschaftsstruktur funktioniert nicht mehr, seitdem diese Praxis unwirksam geworden ist.

Danke für die Geduld mit meinen Abschweifungen. Kommen wir zurück zum eigentlich diskutierten Problem. Kriminalität führt zu Angst, Angst erzeugt von ganz allein Ressentiments und Hass. Es ist ein Leichtes, diese Ressentiments weiter zu schüren und dabei noch die Position dessen zu behaupten, der endlich sagt, was mal gesagt werden muss und was die herrschenden Eliten verschweigen. Das funktioniert in den USA, in Frankreich, in den Niederlanden, in Ungarn, in Polen und es wird auch in Deutschland funktionieren. Steigende Kriminalität ist ein objektiver Nachteil von Migration, die keine reine Arbeitsmigration ist. Wenn man der Bevölkerung nicht erklären kann, welche Vorteile dem gegenüber stehen, hat man genau zwei Möglichkeiten. Man kann entweder die Migration drastisch einschränken oder man muss die Demokratie drastisch einschränken. Denn in einer Demokratie wird die Bevölkerung auf die Dauer keine offen erkennbaren Nachteile hinnehmen, nur um den Eliten einen Schlaf mit ruhigem Gewissen zu ermöglichen.

Der zweite Nachteil tritt auf, wenn das Verhältnis von alimentierter Migration zu Arbeitsmigration zu hoch wird. Arbeitsmigration hat wirtschaftliche Vorteile, die in gewissem Grade der gesamten Bevölkerung zugutekommen, sodass ein Nettovorteil auch dann noch bestehen kann, wenn es einen bestimmten Anteil von alimentierter Migration gibt. An einem bestimmten Punkt ist aber der durch die arbeitenden Migranten erzeugte Mehrwert für die Alimentierung der nicht arbeitenden aufgebraucht. Wächst der Anteil der letzteren darüber hinaus, so muss die einheimische Bevölkerung für die Alimentierung aufkommen. Wenn dieser Zustand zeitlich begrenzt ist und die Altersstruktur der Migranten im Vergleich zu derjenigen der aufnehmenden Gesellschaft günstig, kann es durchaus eine sinnvolle Investition in die Zukunft sein, die Ankömmlinge eine Zeit lang „durchzufüttern“. Die Propaganda hat zudem auch unter heutigen Bedingungen noch gewisse Chancen, die Bevölkerung eine gewisse Zeit darüber zu täuschen, wie das Verhältnis zwischen wirtschaftlichem Vorteil und notwendiger Alimentierung ist. Wenn das Missverhältnis allerdings zu groß wird, so wird derartige Propaganda unglaubhaft. Wieder gilt: Kann man dem Nachteil keine hinreichend großen Vorteile gegenüberstellen, so wird man entweder die Migration oder die Demokratie einschränken müssen. Im schlimmsten Fall wird beides geschehen.

Der dritte Nachteil ist ein Verlust an öffentlichem Raum, der dann auftritt, wenn hinreichend große Migrantengruppen einen Teil dieses Raumes nur für sich beanspruchen. Im Zusammenhang mit den Ereignissen der Silvesternacht in Köln hat sich die Frage gestellt, ob durch die gegenwärtige Migrationswelle ein Teil des öffentlichen Raums zunächst für Frauen verlorengehen könnte. Die Frage ist nicht hypothetisch, denn genau das ist in Frankreich geschehen. Inzwischen sind bestimmte Vorstädte (Banlieu) und in einige Großstädten gewisse Stadtteile in den Nachtstunden für Leute verloren, die nicht aus den diese Stadtteile beherrschenden Migrantengruppen stammen. Auch außerhalb dieser Zeiten ist eine Anpassung der Angehörigen der eigentlichen Mehrheitsgesellschaft an die kulturellen Erwartungen der Migrantengesellschaft erforderlich. Auch das erzeugt bereits ohne politische Instrumentalisierung Ressentiments. Die These, dass es eine zumindest punktuelle Islamisierung westeuropäischer Staaten gibt, wird nicht dadurch falsch, dass sie von den falschen Leuten, wie etwa Lutz Bachmann, vertreten wird. Keine noch so starke Propaganda wird es schaffen, die Mehrheitsbevölkerung über Prozesse zu täuschen, die sie mit eigenen Augen beobachten kann.

Das Verhältnis von Nachteilen zu Vorteilen als Funktion der Immigrantenzahl

Die Vorteile der Immigration- kulturelle Impulse, neue Ideen, Beseitigung von Angebotsengpässen auf dem Arbeitsmarkt, neue Restaurants etc.- wachsen weniger stark als die Zahl der Immigranten, weil es für all diese Dinge eine natürliche Obergrenze gibt. Das Verhältnis von Arbeitsmigration zu alimentierter Migration wird mit steigender Immigrantenzahl ungünstiger, weil der Arbeitsmarkt nicht unbegrenzt aufnahmefähig ist und schon gar nicht über einen kurzen Zeitraum. Die Kriminalität wächst in einem gewissen Bereich überproportional zur Immigrantenzahl, nämlich in dem Bereich, in dem sich das Verhältnis von Arbeitsmigration zu alimentierter Migration stark ändert. Die bisher nicht diskutierte Erhöhung der Terrorgefahr wächst zunächst proportional zur Immigrantenzahl. Wenn sich große Migrantengruppen radikalisieren, kann sie aber auch stärker wachsen. Zu einem Verlust öffentlichen Raums kommt es bei geringen Immigrantenzahlen zunächst nicht. Wenn die Zahlen aber so groß werden, dass sich die Immigranten konzentriert ansiedeln und Parallelgesellschaften bilden, wird er bei großen kulturellen Differenzen unvermeidlich.

Aus all dem folgt, dass ab einer gewissen Immigrantenzahl für die einheimische Bevölkerung die Nachteile gegenüber den Vorteilen überwiegen. Diese Zahl exakt zu errechnen, dürfte schwierig bis aussichtslos sein. Andererseits kann es aber als sicher gelten, dass sie bei einem Zustrom von 1 Million Immigranten pro Jahr nach Deutschland überschritten ist, wenn diese Migranten aus einer ganz anderen Kultur kommen und im Durchschnitt eine deutlich schlechtere Bildung haben, als sie auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt wird.

Zudem muss man berücksichtigen, dass die Bevölkerung starken Veränderungen zunächst einmal immer mit Ängsten begegnet. Wer solche Veränderungen propagiert, bei dem liegt die Beweislast. Wenn also jemand behauptet, wir könnten es ohne große Nachteile für die Ansässigen schaffen, 1 Millionen Immigranten pro Jahr aufzunehmen und zu integrieren, dann muss sie gute Argumente haben, warum und wie das möglich ist. Sie macht sich unglaubwürdig, wenn sie fünf Monate lang wiederholt, dass es geht, ohne auch nur ein einziges Mal auf das „Wie“ einzugehen.

Die Wohlmeinenden, die Hassenden und die Medien

Die veröffentlichte Meinung wird von den Wohlmeinenden beherrscht. Das gilt besonders für die Medien, welche die FAZ mit dem Pejorativ Staatsfunk belegt hat (das ich persönlich als ehrverletzender ansehe als „Gutmensch“), aber es gilt auch für die „unabhängige“ Presse. Man kann das daran ablesen, dass es eine öffentliche Diskussion über Vor- und Nachteile der Immigration im Sinne eines Abwägens dazwischen fast nicht gibt. Vor allem aber sieht man es daran, dass es in den Medien fast durchgängig als unhöflich und bisweilen als rechtsextrem gilt, die Immigrationsfrage überhaupt danach entscheiden zu wollen, welche Vor- und Nachteile der aufnehmenden Gesellschaft entstehen.

Der Blickwinkel der Medien ist ganz überwiegend der Blickwinkel der Flüchtlinge (bzw. Migranten) und derjenigen, die ihnen helfen wollen. Genau das ist der Blickwinkel der Wohlmeinenden. Er entstammt durchaus einer altruistischen Grundhaltung: Wir sind so reich, dass wir großzügig teilen können.

Abgesehen davon, dass dadurch die Fragen der Kriminalität und des Verlusts an öffentlichem Raum nicht beantwortet werden, ist das keine Mehrheitsposition und es wird nie eine sein. Fast jeder Mensch neigt in gewissem Grade zu Altruismus, aber erstens nicht gegenüber jedem anderen Menschen und zweitens fast nie, wenn er eigene Kerninteressen berührt sieht. Es fühlt sich edel an zu helfen, aber wenn Hilfe bedeutet, dass in der Schulklasse des eigenen Kindes auf einmal viele neue Schüler sitzen, welche die deutsche Sprache ungenügend verstehen und wenig Vorbildung mitbringen, stellt sich die Frage, ob Edelmut diesen Kindern gegenüber nicht ein Raub von Zukunftschancen am eigenen Kind ist. Wenn man eine große Zahl von Menschen vor dieses moralischen Dilemma stellt, dürfte wohl klar sein, wie sich die überwältigende Mehrheit entscheiden wird.

Der Blickwinkel der Hassenden, derjenigen mit den starken Ressentiments, kommt in den Medien seltener vor. Ab und zu darf einer von ihnen einen Satz in die Kamera sagen. Solche Aufnahmen sind immer von Erklärungen umrahmt, wie schlimm diese ganze Bewegung ist und die Journalisten gehen nie auf die Sachargumente ein, die tatsächlich zuweilen von Pegidisten oder AfD-Anhängern kommen. Die Strategie lautet Ausgrenzung, den Hassenden gegenüber wie auch der AfD insgesamt gegenüber. Frau Maischberger ist in einer Talkshow das Kunststück gelungen, in meinen Augen Frau Petry im direkten Vergleich als sachlicher, vernünftiger und weniger hasserfüllt erscheinen zu lassen (und ich mochte Frau Maischberger früher wirklich mal). Solche Sendungen und entsprechende Zeitungsartikel sind kontraproduktiv, wie auch die Weigerung etablierter Politiker, sich einer offenen Diskussion mit AfD-Politikern vor Wahlen zu stellen, kontraproduktiv ist. Wer sich überhaupt für Politik interessiert, wird daraus schließen, dass die etablierten Politiker keine Argumente haben. Da sie auch sonst keine nachvollziehbaren Argumente vorbringen, trifft dieser Schluss wohl auch zu.

Die schweigende Mehrheit

Die öffentliche Diskussion, ob in den Mainstream-Medien oder in der Blogosphäre, ist nur in begrenztem Maße ein Indikator dafür, wie sich Deutschland in den nächsten Monaten und Jahren politisch verändern wird. In beiden Sphären diskutieren kleine Minderheiten von Aktivisten, die meisten von ihnen entweder auf der Seite der Wohlmeinenden oder auf der Seite der Hassenden. Diese Aktivisten sind nicht wahlentscheidend.

Die Mehrheit schweigt, nicht untereinander natürlich, aber in der Öffentlichkeit. Was die Öffentlichkeit glaubt, über diese Mehrheit zu wissen, stammt aus Meinungsumfragen. Zwei Umfragen aus der vergangenen Woche illustrieren die Verlässlichkeit solchen Wissens. In den ARD-Tagesthemen wurde am Montag eine Umfrage präsentiert, nach der über 90% der Deutschen Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten aufnehmen wollten. In der gleichen Umfrage hatten Frau Merkel und die CDU/CSU deutlich an Beliebtheit verloren und mehr als 10% gaben an, sie wollten AfD wählen.

Diese Inkonsistenz verblasst, wenn ich eine Umfrage zitiere, von der gestern die FAZ in Zusammenhang mit der Meinung des Erzbischofs Marx berichtete, man müsse die Zuwanderung begrenzen. Danach würden 29% der Befragten an der Grenze auf Flüchtlinge schießen lassen, 57% würden es nicht tun und 14% wollten sich zu dieser Frage nicht äußern. Nimmt man nun an, dass beide Umfragen nach den handwerklichen Grundsätzen der Meinungsforscher repräsentativ waren – was sagt dann eine repräsentative Umfrage über die Meinungen in der Bevölkerung zur Flüchtlingskrise aus?

Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die 14%, die sich in der zweiten Umfrage nicht äußern wollten. Wir können ziemlich sicher ausschließen, dass sie eher dazu neigten nicht schießen zu lassen, denn warum hätten sie das verschweigen sollen? Ich denke, man kann auch ziemlich sicher ausschließen, dass sie keine Meinung zu einer so extremen Frage hatten. Das lässt im Wesentlichen zwei Interpretationsmöglichkeiten offen. Die noblere ist, dass diese Leute meinen, wenn‘s halt gar nicht anders geht, müsse man eben doch schießen, aber sie haben wenigstens noch Skrupel. Die weniger noble ist, dass es sich um diejenigen handelt, die die Faust nur in der Tasche ballen, bis es opportun sein wird, sie offen zu zeigen.

In einer parlamentarischen Demokratie mit geheimen Wahlen gibt es einen Ort, an dem man die Faust nicht mehr in der Tasche ballen muss. Dieser Ort ist die Wahlkabine.

Deshalb werden wir über das Meinungsbild der schweigenden Mehrheit auch nichts Genaueres wissen, bis am 13. März gewählt worden ist. Ich möchte es nicht hoffen, aber es könnte ein böses Erwachen geben.

Die zweite Regel der ersten Hilfe

Was, wenn man nun Wohlmeinender ist und auf dem Standpunkt steht: Zum Teufel mit den Interessen der Einheimischen, Menschen in Not muss geholfen werden. Dann hat man die erste Regel der ersten Hilfe auf seiner Seite: Unbedingt helfen. Nichts spricht dagegen. Wenn wirklich Hilfe benötigt wird, so ist es sogar eine moralische Pflicht, zu helfen.

Die zweite Regel ist jedoch nicht weniger wichtig: Eigene Sicherheit beachten. Es hilft keinem, wenn sich der Helfer in Gefahr bringt, und das gilt im übertragenen Sinne auch für einen Staat. Sloterdijk hat diese Regel in eine auch für Philosophen verständliche Form gebracht: Es gibt keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung. In der Tat nicht.

Die beiden Regeln reichen aus, um ein moralisches Dilemma zu erzeugen, wenn nämlich die Not ein Ausmaß angenommen hat, in dem Hilfe für jeden Notleidenden Selbstzerstörung bedeuten würde. Ein moralisches Dilemma ist immer schwierig aufzulösen, die Grundtechnik ist aber Abwägen. In der philosophischen Erörterung ist das Dilemma besonders interessant, wenn die beiden Seiten so gut ausbalanciert sind, dass man wie Buridans Esel vor zwei gleich großen Heuhaufen steht. In der Praxis allerdings kommen solche Fälle eher selten vor.

Die Wohlmeinenden müssen sich schon die Frage stellen lassen, ob die Lage als Flüchtling in der Türkei oder als Afghane im eigenen Land so verzweifelt und unsicher ist, dass sie es notwendig macht, diese Leute unterschiedslos aufzunehmen und unterschiedslos in Deutschland. Die Türkei unterhält vorbildliche Flüchtlingslager, in denen sich Syrer mit einem Taschengeld selbst versorgen können und in denen syrische Lehrer in arabischer Sprache syrische Kinder unterrichten. Nicht alle syrischen Flüchtlinge sind in solchen Lagern untergekommen, aber nachdem die Türkei offensichtlich weiß, wie man es richtig macht, ist es eine Frage des Geldes, die Leute dort zu versorgen, wo sie ihrer Heimat nahe bleiben und von wo sie zurückkehren werden, wenn das Land befriedet werden kann. Das wäre, nebenbei bemerkt, für die Zukunft Syriens auch besser, als Millionen hierher zu holen, die in der Folge sicher nicht zurückkehren werden.

Sollen wir nun gar niemanden mehr aufnehmen?

Gar niemanden mehr aufzunehmen hat nicht einmal die CSU vorgeschlagen. Der AfD würde man das zwar zutrauen, aber die hat mindestens bis zum Herbst 2017 nicht das Sagen. Wenn die Sache sehr schlecht läuft, danach schon.

Man muss sich also fragen, wie viele man aufnehmen kann und sollte, ohne dass die Sache sehr schlecht läuft. Wenn man früh genug umsteuert, kann das politische System vielleicht stabilisiert werden, obwohl man der Bevölkerung kurzfristig mäßige Nachteile zumutet. Das wäre kein Verrat an den Interessen der eigenen Staatsbürger, sofern man überzeugend argumentieren kann, dass dem langfristige Vorteile gegenüber stehen, man also eine Investition in die Zukunft tätigt.

Gelingen kann diese Argumentation angesichts des bereits verspielten Vertrauens nur, wenn das auch wirklich klar erkennbar ist. Falls es gelingt, die Zuwanderungszahlen erst einmal drastisch zu senken, etwa auf die von Seehofer genannten 200‘000 pro Jahr oder auch 300‘000 pro Jahr, hat man wieder ein Grundvertrauen hergestellt (allerdings sind wir 2016 schon jetzt bei über 90‘000). Der Rest hängt davon ab, wie man die Zuwanderung und Integration gestaltet.

Zunächst einmal muss man begreifen, dass das Problem viel Geld kostet (einige Milliarden), ganz gleich wie man ihm begegnet. Verschiedene Lösungen mögen verschiedene Preisschilder haben, aber zuerst einmal ist es eher die Frage, wofür man das Geld ausgeben will, als ob man das tun will und wie viel. Das kann man der Bevölkerung auch erklären, denn die ist ja nicht dumm. Sie fühlt sich derzeit nur für dumm verkauft.

Das wichtigste Element ist eine Kontrolle über die Zuwanderungszahlen, wenn möglich ohne Aufgabe des Schengen-Raums. Das kann nur gelingen, indem man das Prinzip aufgibt, dass jedem, der sich auf EU-Territorium befindet, ein Verfahren zusteht. Dieses Prinzip kann man aufgeben, ohne zugleich die Genfer Flüchtlingskonvention aufzugeben. Wer aus einem sicheren Drittland, wie etwa der Türkei, kommt, kann ohne weitere Untersuchung wieder dorthin zurückgeschafft werden. Dagegen spricht gar nichts, außer einer mangelndem Bereitschaft der Türkei, die Flüchtlinge zurückzunehmen.

Für diese mangelnde Bereitschaft muss man ein gewisses Verständnis aufbringen. Die Türkei bildet einen Puffer zwischen Syrien und der EU und ihr entstehen Kosten, wenn sie ein illegales Weiterziehen der Flüchtlinge als Migranten verhindert. Dafür muss sie angemessen entschädigt werden. Diese Lösung ist allemal billiger, als die Migranten hierzulande zu deutschen Standards zu versorgen, wo man zum Beispiel den Schulunterricht auch nicht auf Arabisch durch syrische Lehrer abhalten lassen kann, weil das eine Integration verhindert, an der der Türkei nicht gelegen sein muss, uns aber schon.

Es ist auch nicht von vornherein klar, ob die Türkei abgesehen von der Kostenfrage ein Interesse daran hat, die Anzahl syrischer Flüchtlinge auf ihrem Staatsgebiet zu begrenzen. Aus türkischer Sicht gibt es Argumente, die für und Argumente, die gegen einen „Weiterexport“ der Flüchtlinge sprechen, die ja aus einem Nachbarland kommen und potentiell Millionen der Türkei wohlgesinnte Botschafter in einem zukünftigen Syrien sind.

Angenommen, die Türkei möchte, dass die EU ihr einen Teil der Flüchtlinge abnimmt, so muss man ausloten, inwieweit es Interesse an verschiedenen Flüchtlingsgruppen gibt. So kann es durchaus sein, dass die Türkei keinen Wert darauf legt, begabte junge Syrer in der Türkei studieren zu lassen oder intelligenten und hinreichend gebildeten jungen Syrern eine Berufsausbildung zu geben. Deutschland hingegen könnte ein solches Interesse durchaus haben und es ließe sich eine Art „Greencard“-System etablieren, das auf in der Türkei durchgeführten Auswahlverfahren deutscher Universitäten, Industriebetriebe und der Deutschen Handwerkskammer beruht. Ferner könnte man einen Teil der „Greencards“ verlosen und für die Teilnahme an der Verlosung nur geringe Mindestanforderungen stellen. Bis zu einem gewissen Grad kann der Arbeitsmarkt auch schlecht gebildete, aber hinreichend motivierte Syrer aufnehmen. Als humanitäre Geste könnte man auch Familien aufnehmen, die besonders stark traumatisiert sind und ja, warum nicht, bevorzugt Christen (ich bin keiner, aber es liegt auf der Hand, dass sich diese leichter integrieren lassen und selbst nach einer Beruhigung in Syrien schlechtere Bedingungen haben werden als Moslems).

Vieles ist möglich, wenn man sein eigenes humanistisches Gewissen beruhigen will. Vorausgesetzt allerdings, dass man sich eine politische Handlungsfähigkeit bewahrt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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