Das Fanal zur Französischen Aufklärung:

Jean Meslier, Teil 2 hierzulande hat man keinen oder einen falschen begriff von der "Aufklärung". darum ist distanz noch die harmloseste variante. der muff von 1000 jahren regieret.

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Meslier bedient sich einer Figur. Er hält Distanz zum Wunsch des Namenlosen. Zugleich aber hebt er die Urteilskraft und den Scharfsinn des Anonymus hervor.

Das ist Mesliers eigene Urteilskraft, sein Scharfsinn, womit er wie kein anderer das Grundproblem der „zivilisierten“ Gesellschaft erkannt und der „Aufklärung“ entschieden Richtung und Ziel bestimmt hat.

Die geringe Distanz zum Wunsch des unbekannten Mannes zeigt sich in Mesliers anschließender Äußerung. Er wünschte sich „die Gewalt eines Herkules, um alle gekrönten Ungeheuer und ihre Lakaien zu erschlagen“.

Das war kein frommer Wunsch, aber verständlich in Anbetracht der Umstände. Glücklicherweise besaß Meslier mehr Verstand als Kraft. Den benutzte er aber nicht wie die berühmten Physiker und Rechner seiner Zeit, um der steinigen Natur die Fallgesetze und Ähnliches abzuluchsen, sondern wie Montaigne und Marana, die er oft zitiert, konzentrierte er sich ganz auf die Natur der „zivilisierten“ Gesellschaft, speziell auf ihren bestialischen Kern im Zeichen von Wahn & Gewalt.

Statt auf herkulische Kraft baute Meslier auf eine List. Wohl wissend, dass er nichts anderes hatte, um sein Ziel zu erreichen, als das aufklärende Wort oder das „Zeugnis der Wahrheit“, folgt der Abbé einem subversiven Plan. Er vervielfältigt sein Manuskript eigenhändig, wartet bis kurz vor seinem Tod und hinterlegt erst dann je eine Abschrift in mehreren Pfarrämtern. Zeitbomben, die nach der umsichtigen und gründlichen Vorarbeit pünktlich zünden.

Schon bald kursierten Kopien seiner Schrift in Paris, natürlich nur unter der Hand. Für ein vollständiges Manuskript zahlten liquide Interessenten ein kleines Vermögen. An die Drucklegung aber wagte sich niemand. Das Buch wäre auch sofort beschlagnahmt und verbrannt worden.

Für Leute mit Spürsinn und Geld war es dennoch nicht allzu schwierig, sich die heiße Ware zu beschaffen. Der Mann, der gemeinhin als die Verkörperung der „Aufklärung“ gilt, Voltaire, war reich und findig genug, ein komplettes Manuskript aufzutreiben. Es spricht für Voltaire, dass er mit dem Pfunde wucherte. Er ließ das „Zeugnis der Wahrheit“ unter den lumières kursieren.

Dem großen Publikum gegenüber zeigte sich Voltaire weniger generös. Er gab eine stark gekürzte Fassung unter dem Titel „Das Testament des Abbé Meslier“ heraus. Eher eine Entstellung als ein kongeniales Werk. Der Herausgeber war so frei, den Urtext der französischen „Aufklärung“ zu einer Waffe für seinen Kampf gegen die Kirche umzuschmieden. Durch die gezielte Auswahl verfälschte er Mesliers Kritik an den Regierenden. Wer so mit einem Werk umspringt, schätzt es nicht wirklich.

Keine Frage, die beiden Männer dachten und empfanden so verschieden, dass man die Gemeinsamkeiten suchen muss. Wo der Geistliche alle Gottheit als Lüge und Wahn demaskiert, verteidigt der Weltmann den Deismus und stellt neben sein Landschloss in Ferney eine Kapelle. Wo der arme Abbé die erlebte Ungleichheit durch Besitz und Befehlsgewalt als unmenschlich anklagt, erklärt der verwöhnte Höfling achselzuckend, in der „zivilisierten“ Welt gebe es nun mal unabänderlich zwei Klassen, die Reichen und die Armen.

Die Beziehungen des Herrn Voltaire zum Adel waren so ausgezeichnet wie sein Verhältnis zum Geld. Er dachte überhaupt nicht daran, die bestehende Gesellschaft in Frage zu stellen. Revolution war seine Sache nicht. Als erfolgreicher Schriftsteller von europäischem Rang kritisierte er, was ihm nicht gefiel, auf gefällige Weise.

Zum Beispiel verabscheute Voltaire außer der Kirche auch den Krieg. Eindrucksvoll beschwor er die ganze Grausamkeit und Aberwitzigkeit des größtmöglichen Verbrechens. Aber nach den Ursachen zu fragen, fiel ihm nicht ein.

Meslier dagegen wurde nicht durch Gedanken an den Beifall des Publikums daran gehindert, im Krieg den wahren Ausdruck der bestehenden Wahn & Gewalt-Verhältnisse zu erkennen. Er hatte den Krieg der Herrschenden gegen ihre Untertanen täglich vor Augen. Darum war „Aufklärung“ für Meslier Vorbereitung auf die Revolution. Ihre Vorwegnahme im Gedanken.

Meslier setzt in seinem Untergrundbuch nicht auf Wissen, erst recht nicht auf Vielwisserei. Sein „Zeugnis der Wahrheit“ zielt auf die Frage, was die Ursache des Unglücks der Menschen ist. Seine Antwort heißt treffsicher: Wahn & Gewalt oder geistige und physische Unterdrückung und Ausbeutung durch Kirche und Staat.

Sein Laboratorium ist seine dörfliche Umwelt, sein Instrumentarium sein Gewissen und das Wort.

Das sind Voraussetzungen, die nichts kosten und über die laut Artikel 1 der Erklärung der Menschenrechte jeder Mensch verfügt. Was sein Untersuchungsergebnis von anderen Textproduktionen unterscheidet, ist, mal abgesehen vom Stil, über den Voltaire spöttelt, die Präzision seines Gewissens. Seine Arbeit ist kein Kunstwerk, sondern eine Bestands-, nein, Gesellschaftsaufnahme und zugleich ein Rezept zur Veränderung und Überwindung der alten Gesellschaft.

Sein Zeitgenosse Newton brauchte für seine Arbeit über die „Optik“ überhaupt kein Gewissen. Seine Präzision war die der Mathematik und der photographischen Beobachtung. Der Master of the Mint, Präsident der Royal Society, Leiter der königlichen Sternwarte Greenwich und für seine Verdienste zum Ritter Geschlagene war eine Stütze des Staates und der anglikanischen Hochkirche.

Dass Voltaire den Briten trotzdem wie einen Aufklärer feierte, sagt einiges über Voltaire, aber herzlich wenig über Newton und die „Aufklärung“.

Immerhin war der berühmteste Schriftsteller Europas so vorurteilsfrei, dass er auch ganz anderen Briten und Inselinstitutionen mit Sympathie begegnete. Zum Beispiel lobte er die Society of Friends. Doch seine Begeisterung über sie blieb im Rahmen; ihnen widmete er kein Buch.

George Fox und seine Leute haben durch ihr Wirken eine gern unterschlagene Komponente der „Aufklärung“ manifestiert. Dem allzu oft ausgeblendeten Teil der „Aufklärung“ verdankt die Menschheit den wenn auch gebremsten Fortschritt in den Menschenrechten, etwa in der Gleichberechtigung der Frau, der Abschaffung der Sklaverei, in den Rechten der Kinder, der Gefangenen, der Tiere usw.

Das „inner light“ des George Fox und seiner Leute bewies in den Innovationen der Friends welthistorische Bedeutung. Bemerkenswert in diesem Kontext ist, dass Voltaires Ruhm als Aufklärer großenteils seinem öffentlich wirksamen Eintreten für die Rechte von Justizopfern zuzuschreiben ist.

Es ist die Frage, wer Diderots Distanz-Bedingung (als Autor für die Encyclopédie) besser erfüllte: der arme Landpfarrer Jean Meslier mit seinem Doppelleben oder aber der arbeitslose Weberssohn George Fox, der sich berufen fühlte, sein Dorf „wie ein Fremder“ zu verlassen.

Der Anspruch des Gewissens ist in beiden unüberhörbar. Jeder auf seine Weise steht dem Naturwissenschaftler Newton gegenüber als die unabdingbare Ergänzung im Begriff der „Aufklärung“.

Was der eine Grundlegendes für das neue Weltbild geleistet hat, haben die anderen ebenso epochal für das neue Menschenbild getan

vgl. Teil 1

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Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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