das rabentagebuch (22).

mein rabe krah. s. o.

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22 der herbst fing nicht gut an

es war bereits einer der letzten septembertage, als mir etwas unverzeihliches passierte. ich stand noch an der tür innen auf der veranda, als ich mit der linken sandale krahs rechte zehe traf. ich spürte es. zu spät. er aber reagierte gar nicht, als wenn nichts geschehen wäre.

das war die schockbetäubung. denn schon nach kurzer zeit sah ich, was ich angerichtet hatte. krah war außer sich. er rannte und wälzte sich am boden, wobei er in rückenlage mit dem schnabel die getroffene zehe anfasste. und weiter wälzte er sich flatternd im gras. rr zeigte seinen schmerz, ohne einen laut von sich zu geben. und ich konnte ihm nur ruhig zureden und ihn schließlich auf den arm nehmen, auf meine schulter. da schonte er den lädierten fuß, indem er sich auf den bauch sinken ließ.

ich zweifelte an meiner fähigkeit, ein tier zu halten, ohne ihm zu schaden. hatte ich nicht in einem blog die these vertreten, dass jede tierhaltung tierquälerei bedeutet? „tierhaltung = tierquälerei“.

die frage stellte sich: sind mensch und rabe doch zu unterschiedlich, um auf dauer harmonisch zusammenzuleben?

gerade jetzt, als krahs flügel wuchsen und versprachen, dass er bald wieder fliegen könnte, musste mir dieses missgeschick passieren, das krahs zukunft erneut in frage stellte. zweifel und fragen grundsätzlicher art überfielen mich auch, weil ich eine schlimme parallele im leben mit kjack sah.

auch mit kjack ist etwas geschehen, das mich unglücklich machte und mir ein ganz schlechtes gewissen eintrug. kjack war wesentlich beweglicher und flinker als krah, aber wie krah folgte sie mir bei allem, was ich tat. so auch als ich mit der gartenschere das gestrüpp nahe der hütte zurückschnitt. wie krah mir bei der aussaat und ernte der kartoffeln helfen wollte, so auch kjack beim einsatz im garten. sein platz war möglichst nah am geschehen auf meiner schulter oder auf dem arm.

in dem moment, in dem meine hand die schere zusammendrückte, war kjack schon neugierig vorgeprescht bis auf meine hand, hatte seinen schnabel schon an den zweig gesetzt, den ich abschnitt und seine schnabelspitze mit.

ich wollte nicht wahrhaben, was ich sah. ein tropfen blut rann aus dem verkürzten schnabel, der nun vorn offen war. ich konnte meine handbewegung nicht rückgängig machen. das geschehene war geschehen. wahnsinn.

in meiner verzweiflung suchte ich im telefonbuch tierärzte und rief eine tierärztin an. die sagte, wenn der vogel noch jung sei, würde der schnabel wieder zur normalen größe nachwachsen.

nicht zu fassen, was für lösungen die natur bereithält. nach dem entsetzen das erlösende wort der tierärztin. das werde ich nie vergessen. es war zu schön, um wahr zu sein. doch sie behielt recht. der schnabel ergänzte sich von selbst vollkommen. und zwar binnen kurzer zeit.

auch krahs zeh musste nicht amputiert werden. am nächsten morgen sah ich mit erleichterung, dass er auf zwei beinen an seinem schlafplatz stand. ja, er lief auch ganz so, als wäre nichts gewesen.

als ich den fuß inspizierte, fand ich den winzigen ballen der rechten kralle verletzt. das heißt, gequetscht. das bällchen vor der kralle sah empfindlich weh aus. krah bewegte sich trotzdem im garten ganz normal, und er planschte sogar in seiner wanne.

als wäre das des guten nicht schon genug gewesen, hörte ich zum ersten mal, als er von meiner schulter hinunterflog, seinen flügelschlag als sanften fallschirm. kein wildes geflatter mehr, stattdessen maßvolle tragende flügelschläge.

nach dem scheußlichen schrecken sah ich nun jeden tag bestätigt, dass krah ein schöner rabe war und jeden tag rabenrank und -schlank und schwarz die gestalt annahm, die ihm gehörte. täglich sah ich unwillkürlich und bewusst nach den flügelspitzen, die sich über den schwanzfedern kreuzen wollten. natürlich konnte ich nicht übersehen, dass die spitze des linken flügels weiterhin noch ein wenig im rückstand blieb. doch das war eine kleinigkeit, wenn ich an den armen winterraben dachte, an die beginnende und fortschreitende mauser.

selbst die winzigen kopffedern und die noch winzigeren um die augen herum verstrubbelten in unordentlicher auflösung und erneuerung. überall auf der veranda flogen kleine verlorene federchen herum. noch jetzt finde ich manchmal eine.

für den fall, dass mein krah wieder ein ganzer vogel würde, der nicht mehr nur in garten und hütte bliebe, sondern frei und hoch über garten und hütte sich erheben würde kraft seiner erneuerten flügel, gewöhnte ich es mir an, mit krah auf dem arm auf die hohe leiter am gartenturm zu steigen, damit er sich an die vogelperspektive beizeiten wieder gewöhnte und sein revier demnächst beim überflug sofort wiedererkennen würde. so geschehen unter anderem am zweiten oktober.

beim steigen von sprosse zu sprosse, da sich nach und nach der horizont weitete, war krah wie bei den vorherigen aufstiegen gespannter, so als wenn wir ein neues terrain beträten. seine augen konnten gar nicht alles fassen, was sich an gärten und hütten, bäumen und heckenwegen unter uns auftat und ausbreitete. und es zuckte und ruckte in seinen flügeln, als wenn es ihn reizte, gleich loszufliegen. soviel raum und luft war sicher eine spannende herausforderung für ihn.

als wir am oberen ende der leiter angelangt waren und ich ihm den ausblick noch ein wenig erklärte, ließ sich krah plötzlich in die luft fallen. ja, er ließ sich in die luft fallen, um zu erleben, wie das ist. nein, er wagte noch keinen richtigen flug. er ließ sich in einer spirale von der luft unter seinen flügeln sanft hinuntertragen. er landete unter dem turm im garten.

schnell stieg ich von der leiter und lobte krah für seine sachte fallschirmlandung.

vor ein paar tagen hatte ich zuerst bemerkt, dass krah beim absprung von meiner schulter nicht mehr hilflos flatterte wie ein fluguntaugliches huhn, sondern mit ruhigeren flügelschlägen genug luftpolster sammelte, um glatt zu landen. und jetzt wieder der beweis aus größerer höhe. mir war klar, dass krah auf dem richtigen weg nach oben war.

am nächsten tag stiegen wir wieder auf die leiter am turm. und wieder gab mir krah zu verstehen, dass das ganz nach seinem geschmack war. dieses mal ruckte und zuckte es auch wieder in den flügeln, doch statt noch einmal abzufliegen, wenn auch nur nach unten, rief er seinen namen triumphierend in die welt hinaus. in die luft, die ihm lachte. nachdem wir den ausblick genossen hatten, stiegen wir die leiter wieder hinab.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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