das rabentagebuch (6 und 7)

mein rabe krah. s.o.

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6 wende 1

fünf tage nach seinem verschwinden weckte mich krahs ruf aus dem schlaf. ich stürzte nach draußen und lauschte und rief. aber nichts. keine antwort. kein zeichen von krah. hatte ich etwa nur geträumt?

nach weiteren fünf tagen sagte mir mein nachbar theo, er habe krah gestern und heute gesehen. und zwar auf oder an der straße. ich ging zur straße und, tatsächlich, da saß krah neben der fahrbahn. ein flügel hing. der linke. ich rief: krah! und er antwortete und kam auf mich zu. er lief wie raben laufen. nicht eilig. rabisch schreitend. ans fliegen war offensichtlich kein gedanke mehr.

er hatte nicht mal mehr die kraft, auf meine hand zu hüpfen. ich half ihm etwas nach und trug ihn ins haus. brachte ihn in sein quartier, auf die veranda.

was für einen rabenhunger musste der arme haben nach zehn tagen selbstbeköstigung! ich improvisierte eine mahlzeit, die er freudig annahm.

der verlorene sohn war wieder da. krah war zurück. mein krah. die große wende. aber keine erklärung seinerseits. wortlos war er wieder da. keine antwort auf viele fragen.

sein hängender linker flügel sah nicht gut aus. ob er damit je wieder fliegen könnte, war die frage. mir fiel nach seiner rückkehr gleich auf, dass krah jetzt gegenüber allen unbekannten fremdelte. er hatte angst und flüchtete in die äußerste ecke der veranda. war ein traumatisches erlebnis mit einem unbekannten der grund? oder hatte er einen gewöhnlichen entwicklungsschub erfahren? er sagte mir leider nichts über seine erlebnisse in den letzten zehn tagen.

ich fragte mich, ob es vielleicht einen zusammenhang geben könnte zwischen krahs sturz aus dem nest und seinem ungebremsten sturzflug aus großer höhe. nicht fliegen zu können, ist für einen vogel das größte unglück. wie umgekehrt die volle flugfähigkeit sein größtes glück ist.

das ist zu sehen, wenn kjacks stundenlang mit den verwirbelungen der luft um einen turm spielen oder wenn sie im herbst im großen schwarm mit dem sturm übers land wirbeln und dabei flugkünste am laufenden band sehen lassen. stare machen das auch gern zu tausenden in einer magisch changierenden wolke.

mir fiel das möwenlazarett auf der holländischen insel ein. eine große umzäunte sandfläche abseits der touristenwege. was war aus den eleganten seglern über strand und brandung geworden? sie, die über den dünen mühelos mit dem seewind spielten. jetzt hinkten sie hilflos und flugunfähig durchs gehege. oder hockten auch nur stumm da.

manchen hing ein flügel zu boden. er war natürlich nicht mehr strahlend weiß wie vormals über den schaumkronen der see. was war ihnen zugestoßen? hatte eine gewitterböe ihnen die flügel verdreht oder sie gegen einen baum oder ein auto geschleudert? es waren nicht wenige, die da verloren im sand saßen, in diesem provisorischen gehege aus niedrigen maschendrahtzäunen. würden wenigstens einige wenige der ehemaligen meisterflieger je wieder in die lüfte steigen? wahrscheinlich mussten sie fast alle den rest ihres jämmerlichen lebens am boden bleiben. wenigstens wurden sie versorgt.

das traurige bild der möwennotstation erinnerte mich an das bild, das die alten ägypter von den seelen der toten in der unterwelt hatten: große schwarze vögel, die traurig in staub und dunkelheit hockten.

7 rückblende

das jammerbild aus der erinnerung kippte um in sein gegenteil. ich sah kjack, meine dohle, wie sie von weitem auf mich zu flog. es kam mir so vor, als wenn sie im schnellen flug übermütig wedelte und lachte. sie machte ganz kurze schwenks nach links und rechts, sodass ich ans wedeln dachte. und sie rief ihren fröhlichen kinderruf. dann landete sie auf meinem arm aus hoher geschwindigkeit. das abbremsen war für sie überhaupt kein problem. nur eine schwalbe würde noch flinker und müheloser fliegen und landen.

kjack brauchte keine starthilfe. kein rufen und bitten. sie konnte vom boden genauso geschwind abheben wie von einem baum herabstürzen, um stets sicher auf meiner schulter zu landen.

kjack war auch nicht bange, wenn fremde leute auftauchten auf unseren spaziergängen, oder sollte ich besser sagen: spazierflügen?

einmal war da draußen am see ein mann, der erst unserem spiel zugesehen hatte und dann auch seinen arm hob wie ich, in der hoffnung oder erwartung, kjack würde auch ihn anfliegen. natürlich vergeblich. der mann verstand nichts von raben. wusste nicht, dass sie menschen kennen und wiedererkennen. fremde aber meiden oder sogar fürchten.

jeden abend nach sonnenuntergang wurde kjack unruhig. ich wusste schon, was es damit auf sich hatte. ein instinkt flüsterte ihr ein, sie sollte zum schlafplatz im westen fliegen, wo sich viele kjacks versammelten auf einem großen baum. anfangs hatte kjack in bäumen nah bei der hütte übernachtet. aber bald lockte sie die abendsonne nach westen. wäre gern mitgeflogen, um zu sehen, wo und wie der schlafplatz war. kjack flog zielstrebig und schnell. immer zur gleichen zeit nach sonnenuntergang.

am nächsten morgen war sie wieder da, ganz selbstverständlich. ich musste sie nicht mal rufen.

dass ich damals muschke hatte, die schwarze katze, scherte kjack nicht im mindesten. ich allerdings hatte starke bedenken, wenn die beiden im garten waren und sich manchmal zu nah kamen, wie ich fand, aber muschke wusste, dass sie dem vogel nicht ihre krallen zeigen durfte. sie war schließlich die ältere und wohnte schon jahre bei mir. ich sagte vernehmlich: nein! muschke, nein! und die katze verstand.

kjack durfte sie sogar einmal in den schwanz zwicken. die schlangenartigen bewegungen von muschkes schwanz verrieten ihre angespanntheit, waren aber für kjack eine zu verlockende sache. ehe ich es verhindern konnte, hatte kjack schon einmal zugelangt. nur zur kontrolle, versteht sich.

muschke beherrschte sich und ging weiter, als wenn nichts geschehen wäre. sie war eine katze mit sehr viel verstand. sie, die in kürzester zeit eine maus fing, wenn sie wollte, ließ kjack gegen ihre instinkte unversehrt.

als kjack eines tages nicht mehr, auch nicht verspätet bei mir auftauchte, machte ich mir wenig sorgen, denn mein eichelhäher rätsch hatte mir vor vielen jahren gezeigt, wo die flugfähigen rabenkinder bleiben, wenn sie wegbleiben.

rätsch, das war der mit dem zeitweisen überschuss an milben, machte dank umleitung der schmarotzer nicht schlapp wie die junge schwalbe aus meiner kindheit. rätsch war als kurzflügler nicht ein flugkünstler wie kjack, aber er konnte sich mit seinen schönen flügeln sehen lassen und schwang sich auf ihnen überallhin, wohin er wollte.

rätsch verbrachte die nacht draußen wie kjack, sobald er gut fliegen konnte. ich war schüler. bevor ich morgens zur schule ging, rief ich rätsch, vom fenster im ersten stock aus oder auch vor der haustür unten. meist brauchte ich gar nicht zu rufen. rätsch hatte das haus im blick, in dem ich wohnte. laut rätschend flog er herbei und landete auf meiner hand, um seinen ersten happen zu holen.

an einen morgen erinnere ich mich noch genau. ich stand unten vorm haus und rief. ich hörte rätsch antworten, aber er machte keine anstalten herzukommen. er war oben in der großen platane. das hörte ich.

plötzlich sah ich ihn, nein, nicht ihn allein, ein ganzer schwarm von eichelhähern löste sich hoch oben aus dem blattpalast der platane. vorneweg rätsch. er führte den trupp zielgenau auf einer schiefen bahn herab zu mir. das konnte nicht gutgehen. je näher die schreiende schar von gut zwanzig hähern mir kam, desto lauter wurde das gerätsche. auf den letzten metern vor meiner hoch hingehaltenen hand stob das lärmende völkchen auseinander, teils über mich hinweg, teils in alle richtungen. aus angst vor dem gefährlichen flügellosen da unten. nur rätsch hielt kurs und landete sicher wie immer auf meiner hand.

er demonstrierte zwei dinge: zum einen die furcht seiner artgenossen vor menschen, und das bereits im zarten alter von wenigen wochen. zum zweiten die gruppe junger häher, der er sich angeschlossen hatte.

irgendwann würde der zug der kleinen gesellschaft zu weit wegführen von seiner bekannten umgebung, als dass rätsch noch allein zurückfinden würde oder wollte. die gruppe war sein neues zuhause. sie bot schutz vor feinden, weil vierzig rabenaugen nichts entgeht, was die üblichen, wenn auch scharfen zwei doch mal ausnahmsweise übersehen könnten.

rätsch und später kjack haben den üblichen weg der jungen raben genommen. krah hat es auf grund seiner fliegeschwierigkeiten (noch)nicht bis dahin gebracht. nach seinem absturz, aus welchem grund auch immer, zog es ihn zurück zum flügellosen, der er selbst ja praktisch bis auf weiteres nun auch war. naja, nicht so ganz. krah hat seine flügel ja behalten, wenn auch nicht in einem zustand, dass er damit fliegen konnte.

in der mittelstadt, in der M ihre wohnung hatte und in der ich den noch nicht flüggen kjack gefunden hatte, war ich stets mit mandeln oder nüssen in der tasche unterwegs. für den fall, dass kjacks auf mich zu kämen. die raben mit den hellen durchdringenden stimmen kannten mich. sie landeten direkt vor oder neben mir und warteten auf einen leckerbissen, sprich: eine mandel oder nuss.

in dieser stadt gab es relativ viele kjacks. darum dauerte es gewöhnlich nicht lange, bis sie mich entdeckten und heransegelten oder -ruderten. dabei ließen sie ihren ganz unrabischen hellen ruf hören. in meinen augen ein schöner anblick, in meinen ohren ein schöner anruf. andere kjacks hörten die signale. und von allen seiten und in allen höhen strömten sie herbei und landeten im schwarm, während andere schon mit ihrer beute starteten.

ich habe nie versucht, sie zu zählen, so viele nahmen manchmal teil an der kleinrabenrallye.

manchmal war der zustrom an frohlockenden dohlen so gewaltig, dass die fütterung auf dem zentralen platz zu einem unüberhörbar flügelrauschenden fest wurde. von allen seiten segelten kjacks heran. in allen höhen tönten ihre rufe und überlagerten und vereinigten sich zu einem freiluftchor. vielstimmig hell und durchdringend. außer ihren hellen kjack-rufen ließen sie im anflugchor auch ein lautes und lang anhaltendes kjaaah hören. es war ein jubel in der luft, der über alle dächer hoch neue scharen herbeirief. mein stegreiftheater, meine adhoc-flugschau! und es kostete doch nichts als eine handvoll nüsse.

kjacks können sich freuen wie kinder und ihrer freude überzeugenden ausdruck geben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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