Diogenes aus der Tonne.

Alex in der Sonne. die politischen koordinaten geraten ins rutschen. griechenland, die eurozone, der crash, die parlamentswahlen in italien, die spanischen arbeitslosen, arabische unruhen.

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Die

land- und seeverbindungen zwischen ost- und west-eurasien waren vor 2500 jahren noch nicht so gut, dass der transkontinentale gedankenaustausch die ursache für den geistigen aufbruch auch in europa gewesen sein kann. vielmehr war hier wie dort der "fortschritt der zivilisation" der wahre grund ähnlicher reaktionen bei einem teil der bevölkerung. besonders die durch den westlichen traditionsfilter bevorzugten ereignisse in griechenland, wo die gegeneinander kämpfenden poleis in selbstmörderischer macht-, ruhm- und geldgeilheit wie die "streitenden reiche" in china und die kriegerischen kleinstaaten in nord-indien den weg ebneten für ein großreich, galten lange im westen als klassisch.

Diogenes

von sinope ist im abendland allgemein bekannt, freilich nicht als held, denker oder künstler, sondern eher als witzfigur. bezeichnend für die westliche rezeption der diogenes-legende ist bertrand russells behandlung der kynischen schule in seiner History of Western Philosophy: "... es war ganz gewiss keine lehre, die darauf abzielte, kunst, wissenschaft und politische theorie und praxis zu fördern oder zu irgendeiner nützlichen betätigung außer dem protest gegen die macht des bösen anzuregen."

Wer

wie russell den mangel an staatstragender haltung bemerkt, hätte mit jacob burckhardt den protest der kyniker als gegen die "an sich böse macht" gerichtet auffassen können. doch der englische lord lässt antisthenes und diogenes lieber gegen die windmühlenflügel einer abstrakten "macht des bösen" ankämpfen. den ausdruck "macht des bösen" setzt er nicht einmal zwischen distanzierende anführungsstriche, ganz so, als lebte er als regierungsberater von bush junior in washington.

Russells

urteil über die kyniker deckt sich wie gesagt weitgehend mit dem im westen gängigen: "aristoteles ist der letzte griechische philosoph, der die welt heiter ansieht; alles spätere ist in dieser oder jener form eine philosophie der weltflucht." das negative etikett "weltflucht" an der schublade für unverstandenes. wo das verständnis schwerfällt, wird die verlegenheit gern durch gelächter zugedeckt. diogenes war ja aber auch ein komischer vogel: "er war der sohn eines verrufenen geldwechslers, der wegen münzfälschung ins gefängnis gekommen war."

Zu

deutsch: ein schmuddelkind. kein wunder, dass "er beschloss, wie ein hund zu leben. ... wie ein indischer fakir lebte er vom betteln. er erklärte sich für den bruder nicht nur aller menschen, sondern auch der tiere." very strange für einen europäer von adel. immerhin hat russell der kynischen schule gut zwei seiten in seiner philosophiegeschichte eingeräumt und in die amüsiert-distanzierte darstellung ein paar interessante details eingestreut. so erwähnt er ähnlichkeiten der altgriechischen randfiguren mit den daoisten in china und den indischen fakiren, ohne freilich den ähnlichkeiten weiter nachzugehen. auch erwähnt er, dass antisthenes wie platon ein schüler des sokrates war, ohne aber deren diametrale positionen zu vergleichen und zu erklären. stattdessen psychologisiert er: "antisthenes war ein bemerkenswerter charakter; in mancher beziehung hat er ähnlichkeit mit tolstoj.

Doch

freundlicherweise verschweigt russell nicht, was der lehrer des diogenes "unter freiem himmel predigte": "er glaubte an die rückkehr zur natur und ging in diesem glauben sehr weit. es sollte keine regierung, kein privateigentum, keine ehe und keine festgelegte religion geben." welthistorisch ein klarer befund. aber nach diesem zitat fortzufahren: "seine nachfolger, wenn nicht er selbst, verurteilten die sklaverei.", verrät das ganze unverständnis des "zivilisierten". für ihn ist es anscheinend nicht selbstverständlich, dass die absage an die "zivilisation" die verurteilung der sklaverei per se einschließt.

Wenn

schon "einer der aufklärerischsten Geister des 20. Jahrhunderts" (duden) so verächtlich und nachlässig über die griechischen kyniker informiert, erübrigt sich ein hinweis auf das urteil der gewöhnlichen kompendienschreiber. aber auch noch im zerrspiegel westlicher philosophiegeschichte ist die griechische parallele zur chinesischen und indischen fundamentalkritik an der "zivilisation" erkennbar. die behauptung, indische vorbilder oder einflüsse hätten die kynische schule hervorgerufen, hängt in der luft ohne die historisch autochthone basis des peleponnesischen krieges.

Dass

kanzlerkandidat steinbrück den italienischen anti-politiker grillo einen clown nennt, liegt auf der linie der westlichen tradition. es ist das unverständnis des staatstragenden "zivilisierten", der sich von grillos grillen in frage gestellt sieht und das unverstandene angreifen muss.

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Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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