geht so.

floskeln. im französischen und deutschen fragt man bekannte, die man trifft, nach der funktionsfähigkeit der beine, stellvertretend für die gesamtbefindlichkeit.

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das französische "Comment allez vous?" (wörtlich: wie gehen Sie?) bleibt noch konkreter bei den unteren extremitäten bzw. beim gehen, während das deutsche "wie geht's?" schon aufs ganze zielt, aufs gesundliche befinden.

die beweglichkeit der beine, pars pro toto für die gesundheit, ist anthropologisch begründet. die beine tragen nicht nur den ganzen körper, sie machen auch einen großen teil desselben aus. mensch ist biologisch ein läufer, erwanderte alle erdteile von afrika aus. und wenn es ihm besonders gut geht, wird er zum tänzer.

daran denkt kein mensch, wenn er einen anderen trifft und "wie geht's?" sagt. die floskel ist teil des begrüßungsrituals geworden.

so kam es wiederholt vor, dass bekannte die patientin im rollstuhl mit "wie geht's?" begrüßten. das wäre wörtlich genommen so, wie wenn ein boxer, der seinen gegner im ring gerade k.o. geschlagen hat, sich zu dem am boden liegenden hinunterbeugt und "wie geht's?" fragt.

die patientin im rollstuhl antwortete in der situation stets ebenso stereotyp: "geht so."

eine sparsame, aber angemessene antwort. dem "wie" der frage entspricht das "so" der antwort. das wörtchen "so" ist zugleich ein klarer hinweis auf die position der angesprochenen im rollstuhl.

es klingt aber gar nicht vorwurfsvoll im sinn von "bist du besoffen?", dass du mich sowas fragst; nein, mit der elliptischen antwort deutet die patientin lediglich an, dass es ihr nicht besonders gut geht, sie will aber nicht klagen, und gibt zu verstehen, dass es ihr leidlich gehe. damit sagt sie zum trost der anwesenden, es sei erträglich, ihre lage sei aber auch nicht wirklich gut.

das war natürlich eine untertreibung. denn wenn uns die beine nicht mehr tragen, sind wir verdammt arm dran. sie wollte kein wehklagen, keine mitleidsbekundung, das wollte sie sich und den umstehenden ersparen.

andernfalls hätte sie sagen müssen, wie hart es sie getroffen hat. der schlaganfall schränkte nicht nur die beweglichkeit der beine ein, besonders linksseitig, sondern auch ihre geistige beweglichkeit. das kurzzeitgedächtnis war total ausgefallen. spätestens nach zwei stunden war alles gelöscht.

und das waren nur die offensichtlichen defizite. was die relativ geringfügige hirnblutung darüber hinaus bewirkte, wussten auch die ärzte nicht.

"geht so." war also tatsächlich ein unüberhörbarer hilferuf, freilich viel zu leise, zu schwach, ausdruck der resignation: mir ist nicht mehr zu helfen.

"ich gehe."

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Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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