Hauptsachen (5)

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

die weltgeschichte der stadt ist die weltgeschichte der herrschaft ist eine hauptsache, eine sache der konzentration, der ballung und bündelung aller kräfte, aller mittel, ist eine erfolgsstory, ist ein dickes buch von mindestens 6000 seiten, wo jede seite für ein jahr steht.
mumford vergleicht die stadt mit einem behälter. ein speicher, könnte man auch sagen, ein speicher aus steinen, der vieles für sich behält und manches lange aufbewahrt.
aber die stadt ist vor allem programm. und das programm heißt wachstum, wachstum um jeden preis, nicht bloß wie zuvor im kult beschworenes, dem puren lebenserhalt geschuldetes, sondern mit allen mitteln der zitadelle aggressiv vorangetriebenes und gesteuertes wachstum.
wozu das geführt hat, ist am beispiel der megalopolis zu besichtigen. und zwar auf allen bewohnten kontinenten. von mexico city über kairo und mumbai bis shanghai und tokyo. jedenfalls, wenn man die stadt als geografisches gebilde betrachtet.
aber die stadt war der anfang des staats, stadtstaat eben, der bis heute wiederholt explodierte und expandierte zum imperium. die spinne aber im netz, die die fäden in der hand hielt, war die stadt, war rom oder babylon oder london, war weiterhin die hauptsache oder hauptstadt.

und was verkünden unsere herrschaften heute, 6000 jahre nach dem start des erfolgsprogramms? die legitimen erben der könige von eridu und uruk in den hauptstädten der welt wollen wachstum, wachstum über alles. auch über leichen.
wenn das stagniert oder gar ins minuswachstum sich verkehrt wie eben jetzt, erhöhen die akteure in den hauptstadttheatern den schuldenberg und feiern feste in der hoffnung auf bessere zeiten. wenn die aber nicht bald um die ecke kommen, haben die staatsschauspieler der hauptstadttheater ein problem. mit dem murrenden publikum zum beispiel, wenn die ersten tomaten und eier fliegen.

etymologisch sind die hauptstädter stark verkopft oder auch schlicht kapitalisten. im englischen, aber nicht nur im englischen, praktisch im gesamten westen steht ein und dasselbe wort für die hauptstadt und das kapital. das ist kein zufall. denn auch der tresor, die kasse, die bank sind ja behälter oder speicher.
der wortgeschichtliche verweis auf den kopf klingt irgendwie paradox. es ist doch ausgesprochen kopflos, über 'die grenzen des wachstums' hinaus wachstum zu erwarten.

pjotr kropotkin hat das alles schon vor mehr als einem jahrhundert gesehen. er schlug darum vor (ohne eine ahnung von den möglichkeiten des internet zu haben), vom wilden wachstum abzulassen und kleinere dezentralisierte städte zu schaffen. ebenezer howard und andere griffen die ideen auf. howards ideal war die gartenstadt (garden city) mit ca. 30 000 einwohnern.
doch die hauptstadttheaterleute witterten den spielverderber und sahen ihr programm auf den kopf gestellt. hat nicht helmut schmidt, der altkanzler, treffend gesagt, wer visionen habe, müsse zum arzt? der mann musste es wissen. er war schließlich der realist im provisorium bonn.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden