der pädagoge herbart überschrieb das erste kapitel seiner "Allgemeinen Pädagogik" mit dem zunächst einmal seltsam klingenden titel "Regierung der Kinder". und in der ausführung gebrauchte er tatsächlich begriffe, die aus dem wirkungsfeld der regierungen nur zu bekannt sind: "Drohung, Herrschaft, Gewalt, Unterwerfung".
herbart verstand unter "Kinderregierung" etwas der eigentlichen erziehung vorausgehendes, was er "Ordnung halten" nannte. hurrelmann/andresen sprechen von etwas ähnlichem, wenn sie in ihrer aktuellen kinderstudie die bedeutung einer "festen Alltagsstruktur" betonen.
an anderer stelle spricht hurrelmann von "Tagesrhythmus, Hygiene, gesunder Ernährung" etc.
ich greife herbarts wort auf, um das gewaltverhältnis zu bezeichnen, das zwischen erwachsenen/eltern und kindern besteht, unaufhebbar grundgelegt in der hilflosigkeit und abhängigkeit der neugeborenen.
aber nicht nur die eltern regieren die kinder mal recht mal schlecht, auch die politisch, wirtschaftlich und medial mächtigen mischen nach kräften mit, zum teil via kindergarten, schule, fernsehen, krankenhaus und andere institutionen.
der einfluss von außen setzt schon lange vor der geburt der neuen menschen ein, provoziert sie womöglich im sinne der erfinder von kindergeld, elterngeld, steuerlichen erleichterungen und anderen wohltaten, die verteilt werden, um die chronisch niedrige geburtenrate zu erhöhen. die gesellschaft, sagt man, sei auf den nachwuchs angewiesen zu ihrer erneuerung und erhaltung. doch staat und gesellschaft kümmern sich, mal abgesehen vom setzen der rahmenbedingungen, herzlich wenig um das konkrete wohl und wehe der kinder, wenn die endlich zur welt gekommen sind, überlassen das vielmehr auf altrömisch weitestgehend den eltern, verlassen sich ganz aufs elternrecht, veranstalten aber jedesmal einen durchdringenden öffentlichen aufschrei, wenn die alleingelassenen und überforderten mal wieder komplett versagt haben, wenn in der isoliertheit der restfamilie hinter verschlossenen türen kriminelles geschehen ist.
nach einer uno-schätzung kommen hierzulande 2 kinder pro woche durch misshandlung ums leben. wenn das die berüchtigte spitze des eisbergs ist, hat man vielleicht eine ahnung davon, wie viel gewalt das gewaltverhältnis bedeutet, von dem hier die rede ist.
schon jahre vor der veröffentlichung der neuen kinderstudie war bekannt, wie schwer es für unterschichtkinder ist, das angestammte milieu zu verlassen. soziale unterschiede werden durch einrichtungen wie kindergarten und schule nicht etwa ausgeglichen, sondern in der regel zementiert, besonders in deutschland.
falls die statistik stimmt (welche berechnung nennt schon die fehlerquote, die für sie gilt?), geht es lediglich um 1% der eltern, die völlig danebenliegen, weil sie z.b. drogenabhängig und/oder psychisch stark gestört sind. hurrelmann sagte in einem interview, diese eltern seien eine katastrophe für immerhin 80 000 kinder. das aber ist eine maßlose untertreibung; denn diese benachteiligten kinder "rächen" sich früher oder später an der gesellschaft, indem sie ihre schläge und blauen flecken weitergeben, auch an die nächste generation usw.
doch auch in solchen extremfällen wird das elternrecht nicht in frage gestellt, oder anders gesagt, fragt niemand nach dem recht der kinder auf menschenwürdige lebensbedingungen. kinder werden noch meist wie im alten rom als privatsache gesehen.
hurrelmann hat es gewagt vorzuschlagen, gegebenenfalls die eltern zu nachhilfekursen in sachen lebens- und haushaltsführung zu verpflichten. hier waren die altrömischen elternrechtler entrüstet; in frankreich werden verbindliche elternkurse längst praktiziert. sie können natürlich auch nur einer minderheit lernbereiter eltern und dadurch deren kindern weiterhelfen.
jenseits der krassen ausnahmeerscheinungen findet der bielefelder sozialwissenschaftler aber auch massive erziehungsprobleme bei der elternmehrheit. auch mittelschichtfamilien sind heute mit der erziehung ihrer kinder meist überfordert, wenn nicht auf dauer, so doch phasenweise. neben den problemfamilien gibt es die familien mit problemen.
besonders alleinerziehende, der höchstproblematische rest der einstigen großfamilien, fallen in der studie negativ auf; über ein drittel der betroffenen kinder klagen über zuwendungsdefizite.
aber der zerfall der herkömmlichen familie ist nicht aufzuhalten. stets mehr kinder wachsen mit nur einem elternteil auf; auch die anzahl der stiefkinder und der scheidungskinder nimmt fortlaufend zu.
den regierenden fällt dazu nichts besseres ein, als die heil(ig)e familie zu lobpreisen, zu beschwören und gesetzlich unter (natur)schutz zu stellen.
dagegen plädieren die sozialwissenschaftler für eine öffnung der familien sowie für eine stärkere unterstützung durch politik und gesellschaft, damit die eltern nicht mehr alleingelassen sind und die leidtragenden kinder aus der enge der verhältnisse befreit werden.
mehrere politikerinnen, vor allem familienministerinnen in bund und land, begrüßen einhellig die kinderstudie einschließlich der forderung, die rechte der kinder gegenüber der elterlichen gewalt/dem elternrecht zu stärken. und sie sprechen die hoffnung aus, die kinderrechte noch in dieser legislaturperiode ins grundgesetz aufnehmen zu können.
aber ist nicht vor wenigen jahren schon der tierschutz in die verfassung geschrieben worden? ist etwa seitdem die massentierquälerei der massentierhaltung merklich zurückgegangen?
vor 3 jahren beschloss der europarat das verbot, kinder innerhalb der familie körperlich zu züchtigen. die generalversammlung des europarats forderte alle mitgliedsstaaten auf, das verbot in gesetzesform zu gießen und im alltag der gesellschaft wirksam werden zu lassen.
das ist aber wohl nicht der grund für die in der studie manifestierte abnahme der gewaltfamilien. mit 14% der kinder, die über körperliche gewalt berichten, liegen die werte deutlich unter früheren befunden. doch wer weiß, wie hoch die dunkelziffer derjenigen kinder ist, die ihre gewalterfahrung schamhaft verschweigen?
der beschluss des europarats ist sicher gut gemeint, sprengt aber nicht den rahmen der symbolpolitik, genauso wenig wie die deklaration der vollversammlung der vereinten nationen vor 9 jahren, die das erste jahrzehnt dieses jahrhunderts zur "Internationalen Dekade für eine Kultur der Gewaltlosigkeit und des Friedens für die Kinder dieser Welt" erklärte. auch die einstimmigkeit der erklärung kann über ihren symbolcharakter nicht hinwegtäuschen. am los der flüchtlings- und kriegskinder hat sich gar nichts verändert.
14% geschlagene kinder werden hierzulande als fortschritt gefeiert.
nun war die situation der kinder auch in der guten alten zeit niemals wirklich gut. rousseau und romantik haben das natürliche gewaltverhältnis in den familien nicht abschaffen können, aber sie haben es nicht einmal in frage gestellt. allerdings verdanken wir ihnen bis in die generation der anti-autoritären hinein manche missverständnisse.
hat es je eine zuverlässige untersuchung über die anzahl der kinder gegeben, deren geburt nicht bloß zufällig war, sondern erwünscht und gewollt? seit erfindung der anti-baby-pille wissen wir zumindest, dass der prozentsatz ungewollter schwangerschaften beträchtlich war. in der zwischenzeit sank durch pille und fristenregelung die anzahl der abtreibungen/ schwangerschaftsabbrüche auf einen bruchteil der zahlen der 70er jahre. aufgrund dieser statistik kann der anteil der ungewollten kinder gar nicht hoch genug veranschlagt werden. das ist ein teil der erklärung für die gewalt gegen kinder innerhalb der familie. staat und kirche tragen an der hohen anzahl der ungewollten geburten eine große mitschuld, also auch an der familiären gewalt gegen kinder.
der reproduktionsknick seit der pille macht den herrschaften hierzulande allerdings sehr zu schaffen. in intervallen starten sie kampagnen mit aufrufen und beschwörungen, die deutschen doch nicht einfach aussterben zu lassen.
wenn es das glück der ungeborenen gäbe, könnte man sich wenigstens darüber freuen.
Geschrieben von
h.yuren

Kommentare 10
"das aber ist eine maßlose untertreibung; denn diese benachteiligten kinder "rächen" sich früher oder später an der gesellschaft, indem sie ihre schläge und blauen flecken weitergeben, auch an die nächste generation usw."
Richtig ist, dass erlernte Verhaltensmuster auch außerhalb der Elternhauses teilweise bei behalten werden.
Richtig ist aber auch, dass aus geschlagenen Kindern nicht zwingend Schläger werden.
Kinder von Mördern werden ja auch keine Mörder.
Und verwöhnte Mittelschichtskinder rennen Amok. Z.B. in Winnenden.
Leider bzw. zum Glück funktionieren die Dinge nicht immer so wie die Gesellschaft sie gerne hätte.
Gerade die Nachkriegsgeneration urteilt oft hart und ungerecht über alleinerziehende Frauen. Obwohl in und nach dem Krieg die alleinerziehenden Frauen wohl in der überzahl waren und trotzdem Leistungsträger erzogen worden.
"doch wer weiß, wie hoch die dunkelziffer derjenigen kinder ist, die ihre gewalterfahrung schamhaft verschweigen?"
Ja, weil die Gesellschaft den Opfern eine glückliche Zukunft absprechen wird. Sobald die Sache öffentlich wird, werden die Kinder stigmatisiert.
liebe chrisamar, du hast dich des themas angenommen und kommentiert, obschon es doch eine neuauflage des vorigen blogs (kindesmisshandlungen) zu sein scheint, und sonst niemand hier im forum bock hat, die chose noch einmal aufzugreifen. danke.
nein, ich wollte nicht sagen, geschlagene kinder werden früher oder später schläger. allerdings ist es realiter oft genug der fall.
nichts gegen die alleinerziehenden. nicht sie sind die anzuklagenden, sondern die rückwärtsgesellschaft, die am schema familie festhält, wenngleich die norm nicht mehr besteht. familie ist nur noch ein phantom. die form befindet sich seit langem in auflösung.
eine gesellschaft, die davor die augen verschließt, ist nicht lebensfähig, schon gar nicht zukunftsfähig.
die reste der früheren großfamilie sind überfordert und müssen in der kindererziehung oder allgemein in der reproduktion versagen.
familie wird wie staat zum gefängnis.
Danke für Deinen Kommentar. Zu diesem Thema gibt es sicherlich mehr als 2 Meinungen.
ganz zweifellos mehr als vier wohl auch, chrisamar. aber wieviel wahrheiten unter den dutzendmeinungen?
Persönlich kenne ich überhaupt keine "Familie". Damit meine ich eine Familie wie z.B. die "Waltons".
Niemand in meiner "Familie" oder in meinem Bekanntenkreis führt ein Familienleben das meinem Bild von einem Familienleben in irgendeiner Weise entsprechen würde.
Trozdem sind diese Leute durchaus glücklich und zufrieden mit ihrem Dasein. Vielleicht nicht immer. Aber meistens schon. Zumindest eine Zeit lang...
Familie ändert sich laufend. Durch Todesfälle, Geburten, Hochzeiten, Scheidungen...
Ob wir wollen oder nicht:
"Familie hat man. Freunde kann man sich aussuchen!"
Zitat meiner Mutter
Es tut mir leid, ich habe es nicht so mit Familienkult. Soll jeder machen wie er kann. Meine Sache war das irgendwie noch nie.
Und was Misshandlungen angeht, finde ich nicht das das was besonders seltenes ist.
Über mich kann ich sagen, dass ich zum Glück keine sexuelle Gewalt kennengelernt habe. Aber ein Leben ganz ohne einstecken austeilen? Der Mensch ist das gefährlichste Raubtier. Machen wir uns da keine Illusionen.
Je älter ich werde, um so mehr Menschen begegnen mir, welche erhebliche Persönlichkeitsstörungen haben, weil sie als Kind sehr schwer misshandelt wurden.
Diese Leute entwickeln eine grausame Agression gegen sich selbst. Keiner von denen wäre aber fähig einem anderen Lebewesen als sich selbst vorsätzlich zu schaden.
Das ist der Preis den die Leute für Misshandlungen zahlen.
im dialog können wir uns bald einig sein, liebe chrisamar.
deine beobachtungen und erfahrungen in sachen familie sind auch die meinen. patchwork und reste.
vom kult halte ich generell nichts, im fall familie noch weniger.
"Der mensch ist das gefährlichste Raubtier." ja, das stimmt, wenn ich mir die wirksamkeiten dieses wesens auf der erde ansehe. die auswirkungen auf mensch und erde.
im holländischen gibt es die redensart: "een kat in het nauw maakt rare sprongen." (eine in die enge getriebene katze macht seltsame sprünge.)
vor etwa 12 ooo jahren war die eiszeit am ende. aber trotzdem kam die spezies mensch um die zeit in eine notlage, die bis heute heftiger wurde. alle menschen haben es nicht gemerkt. weil die ausbeutung des menschen durch den menschen (dies ist das raubtier) es etzlichen gutgehen ließ/lässt, während die menge schmachtet. die eine milliarde hungerleider heute sind ein deutliches indiz.
das system bedeutet also elend und leiden für die große mehrheit der spezies seit 12000 jahren. wer es für wahrscheinlich hält, dass die mehrheit sich klar macht, was sie niederdrückt bis auf den erdboden, und dagegen das remedium erkennt, kann noch hoffen; wer nicht, sieht die lawine zu tal gehen.
kinder brauchen einen kokon der verständigen menschen. die misshandlung beginnt schon bei der mangel- und fehlernährung etc.
auch der mangel an wissen und sensibilität ist, wenn auch nicht justitiabel, eine art misshandlung.
die "Waltons" kenne ich nicht, weil ich selten in die fernsehwelt kucke, vermute eine amerikan. familienserie. in der literatur werden ja auch noch immer die familien "gefeiert", obwohl sie doch schon lange tot sind.
Nein. Es gab noch weitere Klimaeinbrüche. Z.B. die "kleine Eiszeit". Die dauerte bis zum 30jährigen Krieg.
Thema Gewalt:
Gewalt wird erträglich, wenn eine Basis des Vertrauens da ist.
Gewalt wird von Menschen unterschiedlich bewertet und verarbeitet.
Vorbilder für Gewalttaten finden sich sehr selten in der Rolle des Opfers. Es sind die Täter welche faszinieren.
na, sowas liebe ich, liebe chrisamar, willst du mir wettermenschen etwa erklären, wann und wo ne eiszeit gletscherte?
wer gewalt sagt, muss auch wahn sagen. das ist meine begründete abwandlung des bekannten spruchs.
wahn und gewalt sind meines erachtens stets unerträglich. wie unerträglich, hängt von der dosis ab. es sind die allzu menschlichen wiedersacher des menschen. ich kann wahn und gewalt nicht anders bewerten denn als das negative an sich. dem stehen wissen und hilfeleistung diametral gegenüber. zwischen diesen polen bewegt sich mensch.
eltern im wahn und mit gewaltbereitschaft sind ebenso miserable vorbilder wie die regierenden des gleichen typs. es gibt keine anderen regierer, wohl aber hier und da vertrauenswürdige eltern(vertreter). aber das ist glückssache. mensch kann sich seine eltern nicht aussuchen. seine lehrer/innen meist auch nicht.
Bei der inhaltslosen Postulatedidaktik Herbarts fängt es an, bei der scheinbar praxisnahen und "irgendwie linken" Postulatepädagogik Hurrelmanns hört es (vorerst) nicht auf. - Die Crux ist, daß die Pädagogik sich als positives Angebot wähnt, für das der Staat aber nur eine ideologische zeitgeistige Nachfrage hat. Und: "Daß man zu Erkenntnissen auch auf anderem Wege als durch pädagogisch angeleiteten Unterricht kommen könnte, kommt Herbart [et al.] gar nicht mehr in den Sinn." (M. Tischer, Herbart und die Folgen, Büchse der Pandora)
danke für deine unterstützung meiner vorgabe, lieber rainer. manchmal kommt aber auch eine einsicht aus der didaktischen ecke. so hat jemand geäußert, die mathematik sei nur bis einschließlich jahrgang 7 lebenspraktisch, der rest l'art pour l'art oder so.
jemand anders (thorstein veblen) hat bereits vor 100 jahren das westliche system schule auf seine art beleuchtet. ergebnis: was besonders unnütz ist, gilt als besonders wertvoll. er nannte das phänomen, das er auch in anderen bereichen der gesellschaft fand, demonstrative verschwendung. also etwas pervers irrationales.