leid tun.

alltag. die gesellschaften der industrieländer vergreisen. der pflegenotstand wird schon lange thematisiert. für die meisten menschen ist der alltag etwas anderes.

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es war einer der alltäglichen nachmittage, an dem er bei ihr war im zimmer des pflegeheims. er kam sie jeden tag besuchen, seit sie einen schlaganfall erlitten hatte. zwischen elf und zwölf traf er ein. gegen 12 uhr schob er sie im rollstuhl zum essraum, dem größten raum im heim.

das essen war zumeist appetitlich und abwechslungsreich. er freute sich, wenn er ihren appetit beobachtete. er deutete ihn als gutes zeichen.

nach dem essen gingen sie öfters in die stadt, um einkäufe zu tätigen, die post von ihrer wohnung abzuholen oder auch mal einen arzt aufzusuchen. sie hatte probleme mit den tränenwegen.

für besucher, aber auch für sich selbst hatte sie gern etwas süßes vorrätig. lala zum beispiel, so nannte sie spielerisch in kindersprache schokolade.

wenn die sonne ihr strahlenbündel allmählich raffte, war es zeit für ihn, auf die uhr zu schauen und sich dem diktat des chronometers zu unterwerfen. dann entfaltete er zuerst die dekorativ auf ihrem bett drapierte zudecke, ging zur garderobe, zog den mantel an und setzte den hut auf.

sie verstand diese anstalten sofort und verabschiedete sich immer artig mit dank für den besuch und der ermahnung, vorsichtig zu fahren, auch mit der dummheit der anderen zu rechnen.

dieses mal reagierte sie ganz anders. sie war überrumpelt durch die plötzlichen abschiedsanstalten und die tatsache, dass die zeit schon um war, als er bei ihr stand, den hut schon auf dem kopf. sie sah aus dem rollstuhl zu ihm auf und machte ein so ängstliches, trauriges und verzweifeltes gesicht, als sei dieser abschied für immer, doch sagte sie nur, freilich bestürzt: willst du jetzt schon gehen?

er wies auf die uhr und meinte, gleich wird es dämmerig. du weißt, dass ich möglichst im hellen fahre. ihr blick des jammers war sogleich wie weggewischt. sie kämpfte nicht mehr. sie besann sich vielmehr auf den normalmodus, sagte dank und mahnte ihn vorsichtig zu fahren.

ihr flehentlicher blick, der das alltagseinerlei durchbrach, brannte sich unmittelbar in sein gedächtnis, aber auch er fegte den eindruck beiseite, auch er ließ sich von der routine leiten. er kam jeden tag, und er ging jeden tag um eine bestimmte zeit. so auch dieses mal. weg war er und sie wieder allein.

er kannte natürlich ihren verkindschten spruch: milam (aus miriam) will nich leinig sein. sie hatte ihn das gleiche auch schon öfters auf italienisch wissen lassen: partire è un po' morire. (dt. abschied nehmen ist ein wenig sterben).

wie er sie an dem nachmittag dennoch allein zurücklassen konnte, nachdem ihr blick ihm doch zu verstehen gegeben hatte, was in keine worte zu fassen ist, begriff er schon bald nicht mehr.

an den zwei folgenden tagen musste er die laufübungen, die er mit ihr vor wenigen wochen erst angefangen hatte, als zwecklos abbrechen. sie konnte sich nicht auf den beinen halten, knickte mehrfach ein und saß auf dem fußboden.

wieder zwei tage später fühlte sie einen druck in der brust, und tags drauf starb sie an lungenembolie.

das muss sie geahnt, gefühlt haben, als sie plötzlich aus dem üblichen ablauf ausscherte, wenn auch nur für einen augenblick. sie war am ende ihrer kraft gewesen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

h.yuren

buchveröffentlichung 2017, KRAH - das rabentagebuch, 350 S., 8 fotos ISDN 978-3-945265-45-1; Tb. 15,-

h.yuren

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