der aufhänger der rede vor drei wochen war die präsentation des sammelbandes, der die ergebnisse zusammenträgt, die ein arbeitskreis zur aufarbeitung der nazi-zeit an der universität tübingen erbracht hat. präsentator war der vorsitzende des arbeitskreises und projektleiter, professor urban wiesing, ethiker der medizin.
bei der vorstellung des wälzers von 1136 seiten bediente sich der hochschullehrer einer aufschlussreichen bildsprache. so nannte er die regierungsübernahme der nazis und die folgen einen “Rückfall in die Barbarei”. nicht von ungefähr. horkheimer und adorno hatten in ihrer “Dialektik der Aufklärung” schon dieselbe metapher gebraucht.
schief ist am bild vom rückfall in die barbarei die unterstellung, die menschheit oder europa, speziell mittel-europa, wären jemals den barbarischen zuständen entkommen. eine grobe fehleinschätzung aus der inselperspektive bürgerlicher prosperität.
in wahrheit war die staatliche ära nirgendwo zu ende gegangen, und der staatsapparat hielt alle möglichkeiten für herrschaft offen, auch für eindeutig machtkranke. das system von befehl und gehorsam, alteingeübt, hielt herrschern aller couleur sozusagen das instrumentarium der macht wie eine derbe keule hin, die nur ergriffen werden musste.
im übrigen verrät die metapher des gelehrten eine enttäuschte fortschrittsgläubigkeit. rousseau hätte ihn, was den fortschritt in der zivilisation betrifft, eines besseren belehren können.
nicht minder fragwürdig bis schräg als die in der metapher transportierte geschichtsauffassung ist in professor wiesings resümee der aufarbeitung das menschenbild, das einer weiteren metapher zugrunde liegt, in der von der “Schutzschicht der Zivilisation” die rede ist, zeigt dieses bild doch eine größere nähe zum nationalromantisch-mythischen panzer siegfrieds nach dem bad im drachenblut als zu neueren erkenntnissen der psychologie und hirnforschung.
drum prüfe, wer in bildern redet, ob die nicht vielleicht seine gut gemeinten worte konterkarieren.
Geschrieben von
h.yuren

Kommentare 2
Ich finde es ja immer wieder schön, wie Du Worte fett hervorhebst. Das beste Deiner Worte hier blieb leider mager: Machtkrank.
Das Wort kannte ich noch nicht, es trifft so gut und gefällt mir besonders.
danke, lieber hermanitou, für deine treffende rückmeldung. ja, es muss ein versehen gewesen sein, dass 'machtkrank' nicht fett gedruckt wurde. kein anderes wort zielt so genau auf den kern der meisten probleme der gesellschaft.
wenn du das wort noch nicht kanntest, ist umso dankenswerter, dass du es nicht ablehnst, sondern seine berechtigung unterstreichst. dudens kennen das lemma natürlich nicht.
es ist ja so leicht, im deutschen neue komposita zu bilden. die können nicht alle in einem wörterbuch stehen;-)
dass kein regierer, großbanker oder manager zugeben wird, machtkrank zu sein, kann ich mir gut vorstellen.