Viel Geschrei auf der Piazza

Filmfestival Locarno Im Schatten von Venedig ersetzt Locarno Klasse durch Masse und kriegt trotz Sex, Crime und Horror keine echte Spannung hin. Auch das Publikum ist blamiert

Nein, die Berliner Koalition hatte nicht Ferien im Tessin gemacht. Dass die Farben Schwarz/Gelb das ganze Stadtbild von Locarno beherrschte, war dem 65. Internationalen Filmfestival geschuldet, das stets im Zeichen des Leoparden steht, den als goldene Trophäe auch die Preisträger der Wettbewerbe mit nach Hause nehmen können. Jeden Abend nehmen außerdem auf der Bühne der Piazza Grande, mit 8.000 Plätzen größtes Freiluftkino, irgendwelche Zelebritäten Leoparden als „Excellence Awards“ entgegen. So lockt das Festival jedes Jahr Cinéasten-Prominenz an den Lago Maggiore, diesmal unter anderen Ornella Muti, Charlotte Rampling, Alain Delon und Harry Belafonte.

Tatsächlich steht Locarno im Schatten von Venedig, das nur wenige Tage später seine Tradition behauptet, und der vorangegangenen Konkurrenten Karlovy Vary, Cannes und Berlin. Da bleibt nicht viel an Qualität übrig, und die Tessiner ersetzen Klasse durch Masse. Bei 300 Filmen findet jeder noch etwas Lohnendes, zumal auch aus besseren Kinozeiten. Solche Gigantomanie beschert aber auch immer wieder die Qual der Wahl, zumal wenn Chronistenpflicht den Kritiker auf Aktualitäten verweist.

Wie immer: Eine Schweizer Ausgrabung

Allein im Hauptwettbewerb gab es dreizehn Weltpremieren und drei Debüts. Die Retrospektive galt diesmal Otto Preminger, der als vertriebener Österreicher in Hollywood Karriere machte. Viele seiner 38 Filme wurden hier zu Klassikern. Ausschließlich mit schwarzen Darstellern besetzt, war damals Carmen Jones eine Sensation, der Film erhielt 1955 in Locarno den Goldenen Leoparden und war nun ebenso wiederzusehen wie Marilyn Monroes letzter Film River of no Return, ihr einzige Zusammenarbeit mit Preminger. Wie jedes Jahr gab es in Locarno eine Schweizer Ausgrabung: S-Margritli un d’Soldate, 1940 ein Beitrag zur eidgenössischen geistigen Landesverteidigung mit einem Auftritt des Schweizer King of Swing Teddy Stauffer, der damals auch noch in Deutschland spielen durfte.

Vor allem aber bietet Locarno neuen heimischen Filmen ein Forum. Auf der Piazza kündigte sich die Invasion made in Svizzera mit viel Geschrei an. Ein Baby treibt damit ein junges Ehepaar (Alexandra Maria Lara, Sebastian Blomberg) aus den Betten auf die Landstraße, denn nur im Auto beruhigt sich der sexfeindliche Schreihals, wird aber an einer Raststätte samt Auto von einem Kriminellen unfreiwillig mitgeklaut. Woraus sich ein Roadmovie mit Sex and Crime entwickelt, das freilich die Spannung nicht ganz durchhält. Immerhin gehörte Christoph Schaubs Nachtlärm zu den unterhaltenderen Beiträgen und wird wie vor drei Jahren Schaubs Julias Verschwinden (mit Corinna Harfouch und Bruno Ganz) den Weg in unsere Kinos finden.

Viel Kindergeschrei im Programm

Auf Exportchancen hofft auch Michael Steiner mit seinem Missen Massaker, das aber die beabsichtigte Satire auf Miss-Wahlen mehr an billigen Horror verschenkt. Viel Kindergeschrei gab es auch in dem Film Lore der Australierin Cate Shortland über die Flucht der Sprösslinge eines kapitulierenden hohen SS-Offiziers durch das besiegte Deutschland zu ihrer Großmutter nach Hamburg. Wohlfeile NS-Versatzstücke begleiten die Hitler-gläubige Titelheldin mit ihren jüngeren Geschwistern auf ihrem von mitleidlosen Landsleuten gesäumten Weg, auf dem sie sich auch mit einem sie beschützenden jungen Juden auseinandersetzen muss. Mit ihrem Publikumspreis für diesen Piazzafilm konnten sich dazu nur noch die Zuschauer blamieren.

Die Jury vergab ihren Hauptpreis an La Fille de Null Part von Jean-Claude Brisseau. Die Begegnung eines einsamen Professors mit einer jungen Obdachlosen variierte am besten das mehrfach thematisierte Verhältnis alter und junger Generation. Einem modischen Trend folgend blieb dabei auch Demenz nicht ausgespart: ein verdienter Preis der Semaine de la Critique für Vergiss mein nicht von David Sieveking aus Deutschland. Die erkrankte Protagonistin war in den sechziger Jahren politisch aktiv. Aktuelles im Programm beschränkte sich auf vordergründige Dokumentationen über Libyen und Afghanistan und eine aufschlussreichere über die Anti-Putin-Opposition von zehn Moskauer Regie-Absolventen Winter, Go Away!. Insgesamt aber ein schwacher Festival-Jahrgang.

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