„Die Dividenden steigen und die Proletarier fallen“, schrieb Rosa Luxemburg in ihrer Junius-Broschüre zur Krise der Sozialdemokratie. Inmitten des Ersten Weltkriegs sah sie kommende Revolutionäre sterben, während einige wenige Gewinn aus dem Krieg schöpften. Das ist über hundert Jahre später genauso wahr in einer Pandemie, die Hunderttausende Opfer fordert, während einige wenige Konzerne Milliardengewinne an Aktionäre ausschütten können. Und auch heute steht die Linke an einem Scheideweg.
Rosa Luxemburg entschied auf den Trümmern des Krieges, dass es Zeit für eine neue Partei war, da die Sozialdemokratische Partei mit Eintritt in den Krieg ihre Ziele vollends zunichtegemacht hatte. In den Jahren zuvor hatte sie noch einen erbitterten Kampf um die Ausrichtung dieser Partei geführt. Einer der theoretischen Höhepunkte war die Auseinandersetzung mit Eduard Bernstein, der nach heutigen Kategorien wohl noch als revolutionärer demokratischer Sozialist gelten würde.
Luxemburg warf ihm vor, die Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus über Bord geworfen und den Sozialismus als Fernziel aufgegeben zu haben. In seiner Fokussierung auf die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus und die schrittweise Verbesserung der materiellen Umstände für das Proletariat habe er die Marx’sche Theorie und mit ihr die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus als Grundlage der eigenen Politik verworfen. In ihrer Erwiderung Sozialreform oder Revolution in der Leipziger Volkszeitung legt sie 1899 dar, dass gerade das Kreditwesen und die Unternehmerorganisationen, die Bernstein als Stabilisatoren des Kapitalismus kennzeichnet, vielmehr für dessen Krisenhaftigkeit stehen. Als hätte sie in die Zukunft des finanzialisierten Kapitalismus blicken können, beschreibt sie, wie besonders Kredite die sonst geltenden Schranken des Privateigentums abgeschafft und eine schier grenzenlose Ausdehnung ermöglicht haben. Dies führt unweigerlich zu Finanzblasen, wie wir sie bestens kennen, und damit zu handfesten ökonomischen Krisen.
Ihre Hauptkritik bestand also darin, dass Bernstein die inneren Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise nicht anerkannte und damit den Sozialismus überflüssig machte: Wenn nämlich der Kapitalismus schon reformierbar ist, wird die Überwindung nur noch Utopie, aber keine notwendige Bedingung zum Überleben. Geht man allerdings von der Krisenhaftigkeit und der unendlichen Ausdehnung auf bisher nicht kapitalistische Bereiche aus, die Luxemburg als „Landnahme“ bezeichnete, dann wird die Überwindung der kapitalistischen Logik immer das Fernziel bleiben müssen.
Man mag Luxemburg nun vorhalten, dass die Theorie vom Zusammenbruch ihrerseits sich nicht bewahrheitet hat. Hatte Bernstein nicht recht, als er von der Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus sprach? Wurde nicht die Arbeiterklasse zu einer Mittelklasse angehoben, ihre materiellen Bedürfnisse Stück für Stück verbessert? Jeder Klassenkompromiss der Nachkriegszeit scheint Bernstein das Wort zu reden.
Doch die marxistische Theorie lebt nicht davon, dass sie sich „bewahrheitet“, sondern dass sie eine gewisse Gesetzmäßigkeit zum Vorschein bringt, mit der politisch gearbeitet werden muss. Das bedeutete für sie nicht, dass sich Reform von vornherein mit der Revolution ausschließt, im Gegenteil: Jede kleinste Verbesserung für die Arbeiterklasse war für sie ein Gewinn. Doch das Wechselspiel aus Reform und Revolution gewinnt erst daraus an Spannung, dass es immer wieder historische Momente gibt, in denen Massenaufstände wie Streiks einen größeren Schritt ermöglichen.
Besser groß denken
In gewisser Weise leben wir heute in der paradoxen Situation, dass realpolitisch die Wahl zwischen „Reform oder Reform“, weltpolitisch eher „Sozialismus oder Weltuntergang“ auf dem Programm steht. Denn wenn wir ehrlich sind, gibt es in keiner Industrienation eine revolutionäre linke Partei. Hier haben wir eine sozialdemokratische Partei, die im Kern kapitalistische Politik mit wenigen Verbesserungen für Arbeitende betreibt. Die Überwindung des Kapitalismus ist seit dem Godesberger Programm für die SPD Geschichte. Bernstein war gewissermaßen der theoretische Vorläufer dieser reformistischen Zielsetzung. Links davon gibt es zwar eine sozialistische Partei, die aber die Sozialreform-Revolution-Debatte eher als reine Regierungsfrage inszeniert. Die Luxemburg-Bernstein-Debatte hingegen war eine existenzielle. Sie ist es auch heute.
Genau genommen bewegen wir uns auf weitere ökonomische Krisen im Zuge der Pandemie und auf Klima-Kipppunkte hin, die in den nächsten Jahren entscheiden werden, ob und welches Leben auf dieser Erde noch möglich sein wird. Luxemburg hatte recht, als sie auf die unendliche Ausdehnung und Zerstörung der kapitalistischen Logik hinwies. Die natürlichen Ressourcen der Erde gelangen an ihr Ende. Die Pandemie ist ein Verweis darauf, wie es zugeht, wenn die eigene Agrarproduktion ein Virus hervorbringt, das wir selbst nicht mehr aufhalten können. Auf höchstem Stand technischer Möglichkeiten sind wir nicht in der Lage, die Welt mit Impfstoff, grünem Strom oder ausreichend guter Nahrung und Wasser zu versorgen. Mittlerweile haben sich Unternehmen und Vermögensverwalter in einer Größe herausgebildet, die für sich allein schon eine globale Wirtschaftskrise bedeuten, wenn sie ins Straucheln geraten.
In dieser Größenordnung zu denken, hieße wohl, Luxemburg Zusammenbruchstheorie noch einmal in Erwägung zu ziehen und zu überlegen, welche Partei, welches Programm, welche Mittel, welche Bildung der arbeitenden Klassen vonnöten sind, um den Krisen und vor allem der Klimakatastrophe etwas entgegenzusetzen.
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