Mehr als eine Million Menschen haben jüngst in Frankreich gegen die umfangreiche Rentenreform der Regierung von Emmanuel Macron demonstriert. Gewerkschaften hatten dazu aufgerufen und die Stimmung war gewohnt rebellisch in der französischen Gesellschaft, die die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre nicht hinnehmen will. Zeitgleich kam es zu Streiks im Flugverkehr, in Raffinerien, Krankenhäusern, die Stromproduktion wurde teilweise lahmgelegt. Ein Hauch von Generalausstand. Für den 31. Januar haben die Gewerkschaften einen weiteren Streik- und Aktionstag angesetzt, die Stimmung ist entsprechend aufgeladen.
Nur einige Kilometer über den Ärmelkanal sieht es ähnlich aus. Seit Monaten streiken die Eisenbahner in Großbritannien an der Seit
n der Seite des kämpferischen Gewerkschaftsführers Mick Lynch, der neben dem blassen Labour-Vorsitzenden Keir Starmer praktisch zum neuen Gesicht der Arbeiterklasse aufgestiegen ist. Die krisengeschüttelte konservative Tory-Regierung unter dem neuen Premierminister Rishi Sunak reagiert auf die andauernden Arbeitskämpfe hart und versucht, das Streikrecht einzuschränken. Unter anderem sollen die Beschäftigten zu einer Mindestbesetzung in Krankenhäusern oder Rettungsdiensten verpflichtet werden. Andernfalls, so die Drohung, kann man gefeuert werden. Gerade für diejenigen, die unter Corona gelitten haben und nun der Preiskrise ausgeliefert sind, ist das ein Angriff auf ihr effektivstes Grundrecht, sich gegen steigende Arbeitsbelastung und Preise zu wehren. Für Anfang Februar sind auch hier weitere Arbeitsniederlegungen, etwa in den Krankenhäusern, den Unis und auf den Schienen, geplant.Die Franzosen seien protestbereiter, die britischen Gewerkschaften kämpferisch, so das gängige Klischee, die Deutschen dagegen lahm und streikfaul. Blickt man aktuell auf Paris oder London, mag sich der Eindruck bestätigen. Doch historisch haben sich der deutsche Sozialstaat, die Mitbestimmung und das Streikrecht auch durch eine starke Arbeiterbewegung herausgebildet. Man vergisst angesichts der blutleeren Aussagen der DGB-Vorsitzenden Yasmin Fahimi manchmal, dass es einmal eine Zeit gab, in der die deutsche Arbeiterbewegung die stärkste Europas, sogar weltweit war. Erst die nach dem Zweiten Weltkrieg installierte Sozialpartnerschaft, die in Deutschland eine besondere Form angenommen hat, macht politische Streiks oder den Generalstreik praktisch unmöglich.Trotz der genannten historischen Unterschiede ist die krisenhafte Situation der Industrienationen heute vergleichbar: eine immer älter werdende Gesellschaft, Fachkräfte- und Ressourcenmangel, gedämpftes Wirtschaftswachstum und eine durch den Krieg angeheizte Inflation. Dazu die wachsende soziale Ungleichheit und die Erosion der öffentlichen Daseinsvorsorge nach jahrzehntelanger Privatisierung. Unter diesen Bedingungen ist es besonders schwer, zu kämpfen. Angriffe auf Gewerkschaften gehören zum gängigen Repertoire neoliberaler Politik.In Deutschland ist das Sozialsystem während der Agenda-Jahre ausgehöhlt worden. Nicht verwunderlich daher, dass die letzten großen Sozialproteste auch in diese Zeit fallen. Langwierige Streiks oder soziale Proteste haben wir schon länger nicht mehr erlebt. Was nicht heißt, dass es hierzulande dafür weniger Gründe gäbe als in Frankreich oder Großbritannien.Das Jahr 2023 könnte also durchaus als Streikjahr in die Annalen eingehen in Deutschland. Den Auftakt haben die Beschäftigten bei der Deutschen Post AG gemacht, die mit der Ansage von 15 Prozent mehr Lohn gegen den privatisierten Konzern ins Rennen gegangen sind. Rund 30.000 Beschäftigte beteiligten sich am Warnstreik. Die Auseinandersetzung im öffentlichen Dienst folgte auf dem Fuß: 2,7 Millionen Angestellte steigen hier gegen Kommunen, Länder und den Bund in den Ring. Daran schließen sich die Tarifverhandlungen bei der Bahn, im Handel und an den Universitäten an. Verdi steht vor der schwierigen Aufgabe, mit 10,5 Prozent im öffentlichen Dienst vorzulegen, um lediglich einen Inflationsausgleich zu erzielen und dafür nötigenfalls langwierige Arbeitskämpfe durchzustehen. Tatsächliche Umverteilung sähe anders aus.Es ist nicht absehbar, welche Dynamik diese Streiks entwickeln werden und ob sie sich, wie in Frankreich oder Großbritannien, zu sektorübergreifenden Protesten mit gesellschaftlicher Rückendeckung auswachsen. Immerhin sind Angriffe der Ampelregierung auf die Daseinsvorsorge nicht so offensichtlich wie unter Macron oder einer Tory-Regierung. Doch es gibt sie dennoch: Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer oder viele Konservative fordern schon lange ein höheres Renteneintrittsalter; mit der Aktienrente liefert die FDP unser Sozialsystem den Unberechenbarkeiten der Finanzmärkte aus; der Vermögenszuwachs floss nach Berechnungen von Oxfam zu über vier Fünftel an das reichste Prozent, während die große Mehrheit einen historischen Reallohnverlust von durchschnittlich 4,7 Prozent hinnehmen musste. All das wäre also Grund genug für eine flächendeckende Streikwelle.