„Die EU ist eine Kompromissfindungsmaschine“

Sprechstunde Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Franziska Brantner spricht über ihre Kindheit an der französischen Grenze, das Leben zwischen zwei Städten und den Wankelmut der Briten

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Franziska Brantner
Franziska Brantner

Foto: imago/allefarben-foto

Das Europa-Gefühl begann für Franziska Brantner schon als Kind direkt vor der Haustür. Sie wuchs in Neuenburg am Rhein auf – direkt an der Grenze zu Frankreich. Samstags stauten sich auf beiden Seiten des Rheins die Autos. Sie fuhr mit ihrer Familie ins Nachbarland, um guten Käse zu kaufen, die Franzosen gingen in Deutschland zu Aldi, um billiges Klopapier zu besorgen. So bekamen alle das Beste aus beiden Welten.

Dass Brantner sich heute als Politikerin für die europäische Idee engagiert, scheint angesichts ihrer Lebensgeschichte nicht verwunderlich – inzwischen geht es dabei allerdings um mehr als um Käse und Klopapier. Bei der Sitzungswoche Sprechstunde gibt die 39-jährige Bundestagsabgeordnete (Bündnis 90/Die Grünen) am 4. April Einblicke in ihr Leben und ihren politischen Werdegang.

Aufgewachsen ist sie quasi im Schatten des Atomkraftwerks Fessenheim. „Es wurde immer gesagt: Wenn das hochgeht, seid ihr gleich tot“, erzählt sie.

Nach ihrem Abitur an einem deutsch-französischen Gymnasium in Freiburg absolvierte sie ein Doppelstudium an der School of International and Public Affairs der Columbia University in New York und der Sciences Po in Paris. Sie habe Wissenschaftlerin oder Beamtin werden wollen – und meisterte auf diesem Weg auch den harten Concours, das Auswahlverfahren für die Personalauswahl der Europäischen Union.

Aufgewachsen in der Ära Kohl

Promoviert hat sie zu der Reformfähigkeit der Vereinten Nationen. Wenn sie gewusst hätte, dass sie in die Politik gehen würde, hätte sie sich die Doktorarbeit gespart, erzählt sie am Donnerstagmorgen in der Ständigen Vertretung in Berlin-Mitte. Sie sei aber froh, nicht Beamtin geworden zu sein. „Ich glaube, ich wäre dafür nicht so geeignet“, sagt sie und lacht.

In die Politik kam sie über lokale Themen. In Freiburg setzte sie sich für den Aufbau eines Jugendzentrums ein.„Darüber bin ich in Kontakt mit Vertretern aller Jugendgruppen gekommen“, erzählt Brantner. Dabei habe sich die Frage gestellt, mit wem man Ansichten teile und wer einem sympathisch sei. Bei ihr waren es die Grünen, mit denen sie abends Bier trinken ging. Doch nicht nur das: Schnell hatte sie politischen Ämter inne. „Und auf einmal ist man im Bundesvorstand“, sagt sie. Frauen, die sie damals beeindruckt hätten, seien die Rechtswissenschaftlerin Jutta Limbach und die amerikanische Politikerin und Feministin Bella Abzug gewesen. Letztere sei eine höfliche, elegante und toughe Dame gewesen, sagt sie. Eine Motivation ihres politischen Handels sei gewesen, die Ära Kohl zu beenden. Wie viele ihrer Generation sehnte sie sich nach einem Wechsel. „Ich kannte nichts anderes als Kohl.“

Baden doch irgendwie lockerer als Schwaben?

Inzwischen ist die Grenze zu Frankreich immer offener geworden. Für Moderator Christoph Nitz als bekennender Schwabe stellt sich die Frage, wie das mit den Trennlinien innerhalb Baden-Württembergs aussieht. „Das einzige, was ich eigentlich richtig kann, ist das Badener Lied“, verrät Brantner. Ansonsten gibt sie sich nur mäßig lokalpatriotisch. Sie habe in beiden Regionen gelebt, sagt sie. Aber dass jemand sie kritisch darauf anspreche, dass sie einem kleinen Kind ein Eis kaufe, sei ihr nur in Schwaben passiert. „Es ist schon lockerer im Badeschen“, sagt sie.

Neben ihrer Liebe zur Kehrwoche sagt man den Schwaben im Rest Deutschlands vor allem einen unermüdlichen Arbeitsdrang nach. Brantner bestätigt Nitz’ Vermutung, dass sich die wirtschaftliche Situation traditionell positiv auf die Integration von Migrantinnen und Migranten auswirke. „Es ist ein großes Glück, dass Menschen auch über die Arbeit integriert wurden“, sagt die Abgeordnete. Heute werde sofort ein Sprachzertifikat verlangt. Aber früher hätten viele Migrantinnen und Migranten auch über die Arbeit gut Deutsch gelernt.

Die Politikerin kritisiert, dass es auf europäischer Ebene noch bürokratische Hürden für Menschen gebe, die in einem anderen Land arbeiten wollen. Wer als Franzose etwa eine Ausbildung in Deutschland absolvieren wolle, habe Schwierigkeiten, sich einen Sprachkurs finanzieren zu lassen.

Debattieren statt Draufhauen

Europapolitik hat Franziska Brantner mehrere Jahre hautnah erlebt und gestaltet. 2009 wurde sie über die Liste der Grünen ins Europäische Parlament gewählt. Seit 2013 sitzt sie für die Partei im Deutschen Bundestag. Sie ist unter anderem Sprecherin für Europapolitik der Fraktion Bündnis90/DIE GRÜNEN, Obfrau im Europa-Ausschuss und Parlamentarische Geschäftsführerin ihrer Fraktion.

Die Arbeit des Bundestages sei intransparenter als die des Europäischen Parlaments, kritisiert sie. Im Europäischen Parlament müssten immer wieder neue Mehrheiten zu Themen geschaffen werden, was sich auf die Debattenkultur auswirke. Ein Beispiel: Wenn ihr als Europa-Abgeordnete ein Journalist gesagt hätte, sie solle mal ordentlich auf den Herrn Brok draufhauen, hätte sie gesagt: „Ich brauche den Elmar noch für etwa anderes.“ Im Deutschen Parlament gehe es hingegen viel stärker darum, Fronten zu erzeugen. Sie wisse nicht, welche Art besser sei, sagt Brantner. Für die mediale Durchschlagskraft sei die Draufhau-Methode jedenfalls effektiver.

Aktuell lebt sie mit ihrer neunjährigen Tochter ein bewegtes Leben zwischen Heidelberg und Berlin. Sie beneide Parlamentarier, die es nicht weit bis ihn ihren Wahlkreis hätten, sagt sie. Sie sei froh, dass es wieder einen Nachtzug nach Heidelberg gebe. „Das erleichtert mir das Leben enorm.“ Ansonsten besitze sie halt alles doppelt, um nicht alles immer mit vom einen zum anderen Ort zu nehmen.

Das Gefühl, das es für Europa braucht

Was die politische Stimmung in Europa angeht, scheint sie optimistisch gestimmt zu sein. In der Slowakei etwa sei mit Zuzana Caputova eine Bürgerrechtsanwältin und Umweltaktivistin als Präsidentin gewählt worden, was ihr vor nicht allzu langer Zeit undenkbar erschienen sei.

Bei der Europawahl hätten die Deutschen eine besondere Verantwortung, betont Brantner. „Wenn Malta 40 Prozent rechtsradikal wählt, sind das zwei Sitze. In Deutschland sind ein Prozent ein Sitz.“ Auf die Frage, was es angesichts der nahenden Europawahlen brauche, um die EU attraktiver zu machen, sagt sie: „Am Ende ist das Gefühl, das man wieder für Europa braucht.“ Beispielsweise angesichts der Politik eines Donald Trump sei es gut zu wissen: „Zum Glück sind wir nicht allein.“ Die EU sei eine komplizierte „Kompromissfindungsmaschine“, räumt sie ein. Aber man vergesse dabei häufig: Diese Maschine erlaube den Menschen, in Frieden leben zu können.

Im Januar diesen Jahres hat Brantner gemeinsam mit Norbert Röttgen (CDU) einen offenen Brief an die britische Zeitung „The Times“ initiiert, um die Britinnen und Briten zum Verbleib in der EU aufzufordern. Sie sei gespannt, wie es weitergeht, sagt Brantner. Die Briten sollten lieber noch eine Weile in der EU bleiben dürfen, als ungeordnet auszutreten. „Wer hat denn etwas davon, wenn der ,Hard Brexit’ kommt? Wir nicht.“ Dass das Thema nach dem Austritt beendet sei, glaube sie nicht. Die Briten seien gespalten. Ein Teil wolle dazu gehören, der andere nicht. „Das wird sich nicht ändern.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Inga Dreyer

Freie Journalistin in Berlin. Schreibt über Kultur, Gesellschaft und Politik. Für die Meko Factory berichtet sie über Veranstaltungen.

Inga Dreyer

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden