Die drohende Deindustrialisierung erfordert keine Agenda 2030, sondern linke Antworten
Meinung Deutschland sei wieder der kranke Mann Europas, raunt das Kapital und fordert eine neue Agenda 2010. Die Probleme sind real – erfordern aber linke Antworten, findet Ingar Solty
Die Wirtschaft wackelt wieder: Droht die Deindustrialisierung?
Foto: Ronny Hartmann/AFP/Getty Images
Stell Dir vor, es ist Klassenkampf und nur eine Seite geht hin. Das hört sich dann so an: Deutschland sei wieder der „kranke Mann“ Europas, tönt es seit einiger Zeit aus der rechten und Wirtschaftspresse, aus CDU/CSU-, FDP- und AfD-Bundestagsfraktion, aus Manager Magazin, Bloomberg und Finanzmarktwelt.de, aus FAZ, Focus und Merkur, und findet so auch ein Echo in der Süddeutschen Zeitung und der Deutschen Welle.
Vor 20 Jahren war der „kranke Mann“ der Sound, mit dem die damalige Bundesregierung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen Steuersenkungen für Reiche und Konzerne, Leiharbeit und Arbeitszwang für Erwerbslose, Privatisierung von Krankenhäusern und Fallpauschalen, Rentenkürzungen und Rentenprivatisierung und gelockerte Vor
von Krankenhäusern und Fallpauschalen, Rentenkürzungen und Rentenprivatisierung und gelockerte Vorschriften für Banken und Versicherungskonzerne als alternativlos rechtfertigte. Der Rechten ging damals nicht mal weit genug. Eine Opposition von links gab es nicht mehr; die PDS saß seinerzeit nur noch mit zwei Abgeordneten im Bundestag.Die Rückkehr des „kranken Mann“ steht im Zusammenhang mit Problemen der von Deutschland aus operierenden transnationalen Konzerne: Einerseits haben der Ukrainekrieg, die Russlandsanktionen der „Ampelkoalition“ und die neue Abhängigkeit von erheblich teurerem US-Flüssiggas die bis hierhin stabilen und niedrigen Energiekosten für das energieintensive Industriekapital quasi über Nacht explodieren lassen. Mit einem Strompreis von 0,55 US-Dollar pro Kilowattstunde sind sie im Industriestaat Deutschland dreimal so hoch wie in den USA (0,18 US$) und sogar siebenmal so hoch wie in China (0,08 US$). Jenseits von Dänemark und Italien wird nirgendwo auf der Welt so viel für Energie bezahlt. Andererseits lockt der wirtschaftsnationalistische „Inflation Reduction Act“ der USA im Namen von Reindustrialisierung und dem Abbau von Leistungsbilanzdefiziten und Staatsschulden ganz gezielt ausländisches Kapital an: Subventioniert wird, wer in den USA E- und Hybridautos und die dazugehörigen E-Akkus herstellt.Es brauche eine neue Agenda, fordert das KapitalDie Wiederkehr des Sounds von „Agenda 2010“ und Hartz-Gesetzen ist also ein „Zurück in die Zukunft“. Deutschland sei das „Schlusslicht aller großen Industriestaaten“, schrieb kürzlich das Handelsblatt. Es sei „höchste Zeit, daran zu erinnern, wie das Land sich schon mal aus einer ähnlichen Krise befreit“ habe. Was einst die „Agenda 2010“ der rotgrünen Regierung war, soll heute die „Offensive 2030“ der rotgrüngelben Regierung werden. So nennt dies der Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie, Wolfgang Große Entrup.Um seine Forderungen zu untermauern, macht das Kapital, das, was es am besten kann: Es droht mit Standortverlagerungen, um im Namen der Wettbewerbsfähigkeit lohnpolitische Zurückhaltung von den „sozialpartnerschaftlichen“ Beschäftigten und Subventionen vom Staat zu erzwingen. Ansonsten sei die Deindustrialisierung Deutschlands nicht aufzuhalten.Die Bundesregierung hat längst auf die Forderungen von Kapitalseite reagiert. Mit dem Einsatz von Steuermitteln im Umfang von 25 bis 30 Milliarden Euro will das Wirtschaftsministerium von Robert Habeck die Energiekosten für das Kapital dauerhaft künstlich niedrig halten („Industriestrompreis“). Mit ihrem „Green Deal Industrial Plan“ will die EU den hiesigen Konzernen die gleichen Steuergeschenke offerieren wie der IRA – ein „Wettlauf nach unten“. Außerdem beinhaltet die hiesige Industriestrategie gigantische Fördertöpfe. Sie sollen einerseits Kapital zu Direktinvestitionen überreden. Die Mikrochipfabriken von TSMC in Dresden und Intel in Magdeburg kamen nur durch Zusage von Milliardensubventionen zustande. Andererseits dienen sie dazu, dem Kapital die Kosten für „Forschung und Entwicklung“ abzunehmen, stets in der Hoffnung auf den hochtechnologischen Coup.Länger arbeiten, niedrigere Löhne: Die Rezepte sind immer die gleichenZugleich gibt es Bestrebungen neben den Energiekosten auch den Preis der Ware Arbeitskraft zu drücken. Angesichts des „Fachkräftemangels“ fordern Kapitalverbände und Monika Schnitzer, die oberste Wirtschaftsberaterin der Bundesregierung, unisono die 42-Stunden-Woche, auch weil die Rente mit 70 lebensweltlich und auch politisch unrealistisch ist, da sie im Koalitionsvertrag der „Ampel“ auf Drängen der SPD explizit ausgeschlossen wurde. (Der FDP schenkte man dafür die Aktienrente, bei den Grünen gibt es nicht wenige Befürworter einer solchen Rentenkürzung, wie den baden-württembergischen Finanzminister Danyal Bayaz.) Neben der Ausdehnung der Wochenarbeitszeit soll Zuwanderung den Aufwärtsdruck bei Löhnen und Gehältern eindämmen: 1,5 Millionen zugewanderte Arbeitskräfte im Jahr seien vonnöten, sagte Schnitzer zuletzt.Hierfür hat die Regierung auch das Einwanderungsrecht nach angelsächsischem Vorbild modernisiert: Mit einem Punktesystem wird künftig selektiert, welche Ausländer unnütz sind und im Mittelmeer ertrinken oder idealerweise schon vorher mit EU-Geldern in die Sahara-Wüste zurückgetrieben werden, und welche Ausländer nützlich sind, damit sie auf Baustellen und in Kitas, Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen schuften. Um diese Arbeitskräfte abzuwerben, reisen heute Arbeitsminister Hubertus Heil und Außenministerin Annalena Baerbock um die ganze Welt. Dass 44 Prozent aller ukrainischen Geflüchteten in Deutschland bleiben wollen und zunehmend im Arbeitsmarkt Fuß fassen, ist bei allen Lippenbekenntnissen zur Souveränität der Ukraine zweifellos erwünscht.Was wäre eine linke Antwort auf eine reale Gefahr?Was aber wäre eine linke Antwort auf diese kapitalkonforme Politik? Manche nehmen das Problem gar nicht zur Kenntnis, weil sie nicht gesamtwirtschaftlich denken und so bewegungsorientiert oder auf Verteilungspolitik fixiert sind, dass ihnen gar nicht auffällt, dass Organizing und Sozialreförmchen von der Klassenzusammensetzung der Gesellschaft und der Wertschöpfung abhängen. Andere betonen, dass Standortpolitik doch nicht links sei und sagen damit im Umkehrschluss ja zu ökonomischer Schocktherapie. Andere wiederum beschweigen das Thema lieber, weil ihnen nicht gefällt, aus welcher Richtung der Diskurs herrührt (Kapital, Rechte, Wagenknecht).Wieder andere betonen, dass die These von der Deindustrialisierung doch nur auf Prognosen beruhe. Sie betonen, dass die deutsche Autoindustrie im vergangenen Jahr Milliardenprofite gemacht habe und darum selbst über die Ressourcen verfüge, den Rückstand in Sachen E-Mobilität aufzuholen. Sie betonen, dass selbst wenn sich die Prognosen bewahrheiten würden, die Deindustrialisierung kein Beinbruch sei. Das zeige doch das viel stärker deindustrialisierte Land USA. Das ist zu kurz gegriffen: Denn zum einen ist es schwer, diese These zu vertreten, wenn man einmal Detroit, Michigan oder Youngstown, Ohio besucht hat. Und wenn man den Zusammenhang zwischen Deindustrialisierung und erodierter Mittelklasse in den USA begreift. Zum anderen beruht eben auch der Restwohlstand auf dem Finanzstandort USA mit Dollar als Weltgeld und Wall Street als Hafen für globale Kapitalanlagen.Die Prognosen sind realistisch, die Probleme real, die Politik auch. Die Deindustrialisierung betrifft die arbeiterbewegungsorientierte Linke unmittelbar: Ohne Industrie keine starken Metallergewerkschaften, die erwünschte Sozialreformen materiell unterfüttern, indem sie kapitalseitig wirksam werden. Ohne Wertschöpfung auch keine Ressourcen für linke Umverteilungspolitik. Es braucht Alternativen.Mittelfristig ist darüber zu diskutieren, ob Deutschlands relative Über-Industrialisierung zu verteidigen ist. Ein Preis war die Agenda 2010, der andere die Deindustrialisierung Resteuropas und die innere Abwertung von Kosten und Löhnen in der Währungsunion. Keine Griechenlandkrise ohne das deutsche Exportmodell. Vielleicht geht es um eine planmäßig durchzuführende Teil-Entindustrialisierung. Aus linker Perspektive ist auch darum die IG Metall-Forderung der Viertagewoche so entscheidend, weil sie dem Abbau von Industriearbeitsplätzen durch die Kombination von Abwanderung und kapitalgetriebener Automatisierung (Vierte Industrielle Revolution) entgegenwirken könnte.Kurzfristig mag auch der „Industriestrompreis“ sinnvoll sein. Die Industrieunternehmen abwandern oder pleitegehen zu lassen, wie es in marktradikaler Rhetorik die nicht-energieintensiven Finanzkapitalfraktionen (Banken und Versicherung) forderten, ist keine Lösung. Aber sozial wäre, ihn, wie es die Gewerkschaften fordern, nur an tarifgebundene Unternehmen zu zahlen und zugleich mit Energiepreisdeckelungen vor allem für die unteren Einkommensklassen zu verknüpfen.Subventionen sind richtig. Aber an soziale Bedingungen geknüpft!Auch Industriepolitik ist an sich richtig. Die der Bundesregierung ist indes enggeführt und kapitalkonform. Eine soziale Alternative würde bedeuten, Subventionen an „soziale Bedingungen für gute Arbeit“ zu knüpfen, wie es die Linksfraktion im Bundestag fordert. Noch besser wäre es, den Einsatz von Mitteln aus öffentlicher Hand zu nutzen, um endlich die öffentliche Kontrolle zu erlangen und die Wirtschaft zu demokratisieren. So wie es bislang läuft, finanziert der Staat dem Kapital die Profite, haftet aber mit Steuergeldern für das Risiko.Stattdessen könnte man in Anlehnung an Ideen des schwedischen Gewerkschafters Rudolf Meidner aus den 1970ern die Steuergeschenke an die Konzerne auch an die Vergabe von Konzernaktien knüpfen, die dann ins Eigentum der öffentlichen Hand oder der über die Gewerkschaften organisierten Beschäftigten in diesen Betrieben selbst übergehen würden. Der Deal wäre: kurzfristige Profite und Überleben, langfristige Sozialisierung.Schließlich ließe sich auch der durchaus reale „Fachkräftemangel“ bearbeiten mit der Hebung der stillen Reserve am Arbeitsmarkt, vor allem Frauen. Denn mehr als jede zweite steckt in der Teilzeitfalle. Dafür müssten aber zum einen auch Ausbildungsquoten vorgeschrieben werden, wie es die LINKE fordert, und es müsste auch stark in gute Arbeit und in den flächendeckenden Ausbau von Berufsschulen sowie kostenloser und zugleich ausfinanzierter Kitas und Pflegeeinrichtungen investiert werden, um Vollzeitarbeit möglich und attraktiv zu machen. Auch hier würden familienfreundliche Arbeitszeitverkürzungen helfen.Dass die Regierung lieber auf „Sozialismus“ für die Konzerne setzt und gleichzeitig im Bundeshaushalt 2024 an der Schuldenbremse festhält, erhebliche Sozialkürzungen durchsetzt, auf die soziale Unterfütterung des grünen Wirtschaftsumbaus und dringend erforderliche Investitionen in die Kita-, Berufsschulen-, Pflege-Infrastruktur für die arbeitenden Klassen verzichtet und stattdessen lieber die Arbeitsmärkte anderer Länder leerfischt, zeigt die Kapitalschlagseite der Regierungspolitik.